»Précurseurs« und »Empedokles«


Fast gleichzeitig mit dem Kriege hatte Romain Rolland seinen Feldzug gegen den Haß eröffnet. Mehr als ein Jahr lang wirft er sein Wort gegen die gellenden Schreie der Wut aus allen Ländern. Vergebens. Der Strom schwillt, gleichsam genährt von immer neuem Blut der unschuldigen Opfer, gewaltiger an, weiter und weiter wütet er durch die neu ergriffenen Länder. Und in diesem immer lauteren Getümmel verstummt für eine Atempause die Stimme Rollands: er fühlt, daß es Wahnwitz wäre, solchen Wahnwitz zu überschreien.


Nach dem Erscheinen seines Buches »Au-dessus de la Mêlée« hat er sich von jeder öffentlichen Anteilnahme zurückgezogen. Sein Wort ist gesagt, er hat Wind gesät und Sturm geerntet. Er ist nicht müde zu wirken, nicht resigniert im Glauben, aber er fühlt die Unsinnigkeit, zu einer Welt zu sprechen, die nicht hören will. Ihm selber fehlt schon jener erhabene Wahn, der ihn anfangs beseelte, der Glaube, daß die Menschheit Vernunft wolle und die Wahrheit: seine klare Erkenntnis weiß nun, daß die Menschen nichts mehr fürchten als die Wahrheit selbst. So beginnt er, nach innen sich Rechenschaft zu geben in einem großen Roman, einem Satyrspiel, in anderen dichterischen Werken und der leidenschaftlichen Tätigkeit der Briefe. Schon ist er ganz außerhalb des Getümmels. Aber nach einem Jahre des Schweigens, da die blutige Flut immer höher anschwillt, die Lüge sich immer mehr überhitzt, fühlt er die Pflicht, von neuem wieder den Kampf zu eröffnen. »Man muß das Wahre immer wiederholen«, sagt Goethe zu Eckermann, »weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von den einzelnen, sondern von der Masse.« Es ist so viel Einsamkeit in der Welt, daß neue Bindung not tut. Zahlreicher sind die Zeichen des Unwillens und der Empörung in den einzelnen Ländern, zahlreicher auch die einzelnen mutigen Menschen, die sich auflehnen gegen ein aufgezwungenes Schicksal, und er fühlt die Pflicht, diese verstreuten Menschen zu unterstützen und sie im Kampf zu bestärken. In dem ersten Aufsatz ›La Route en lacets qui monte‹ erklärt er sein Schweigen und seine neue Stellung. Er schreibt: »Wenn ich seit einem Jahre Schweigen bewahrt habe, geschah dies nicht aus dem Grunde, daß der Glaube, den ich in ›Au-dessus de la Mêlée‹ bekannte, erschüttert war (im Gegenteil, er ist heute entschlossener als je), aber ich habe mich überzeugt von der Unsinnigkeit, zu jemandem zu sprechen, der nicht hören will. Einzig die Tatsachen werden jetzt mit ihrer tragischen Offenkundigkeit sprechen. Sie allein vermögen die dicken Mauern von Trotz, Hochmut und Lüge zu durchstoßen, mit denen sich der Geist umgürtet, um die Klarheit nicht zu sehen. Aber wir Brüder aller Nationen, Menschen, die ihre moralische Freiheit, ihre Vernunft, ihren Glauben an die menschliche Vernunft zu verteidigen wußten, wir Seelen, die nicht aufhörten inmitten des Schweigens, der Unterdrückung und des Schmerzes zu hoffen, wir müssen zu Ende dieses Jahres Worte der Zuneigung und des Trostes wechseln, wir müssen zeigen, daß in dieser blutigen Nacht das Licht noch leuchtet, daß es nie erloschen war und nie auslöschen wird. Im Antlitz des Abgrundes von Elend, in den Europa jetzt hinabstürzt, muß es die Sorge eines jeden Einzelnen, der eine Feder führt, sein, nie das Leiden der Welt um ein neues Leiden zu vermehren, keinen neuen Grund eines Hasses dem schon brennenden Strom noch hinzuzufügen. Zwei neue Aufgaben sind für die selteneren freien Geister möglich… die eine, zu versuchen, das eigene Volk über seine Irrtümer zu belehren… Diese Aufgabe ist aber nicht die meine, nicht diejenige, die ich mir gestellt habe. Meine Aufgabe ist, den feindlichen Brüdern Europas nicht das Böse, sondern das Gute, das sie haben, zu zeigen, das, was sie auf eine weisere und liebevollere Menschheit hoffen lassen kann.«


In den neuen Aufsätzen, die Rolland nun veröffentlicht – meist in kleinen Revuen, denn die großen Zeitungen haben sich ihm längst versagt – und die dann in den »Précurseurs« gesammelt sind, ist ein neuer Ton. Der Zorn ist einem großen Mitleid gewichen; wie den Soldaten aller Armeen im dritten Kriegsjahr ist Rolland etwas von dem fanatischen Elan der Leidenschaft gebrochen und durch ein stilleres, noch beharrlicheres Bewußtsein der Pflicht ersetzt. Er ist vielleicht noch vehementer, noch radikaler in seinen Anschauungen, aber menschlich milder in seinen Betrachtungen; was er schreibt, reicht nicht mehr in den Krieg hinein, sondern gleichsam über ihn hinaus. Er deutet in die Ferne, überfliegt die Jahrhunderte zu vergleichender Erkenntnis und sucht nun zum Trost einen Sinn in dem Sinnlosen. Für ihn ist die Menschheit ganz im Sinne der Goetheschen Idee in der ewigen Spirale des Aufstiegs, wo auf immer höherer Stufe zum alten Punkte die Stunde wiederkehrt, unablässige Entwicklung mit unablässigem Rückfall. So versucht er zu zeigen, daß selbst diese tragische Stunde vielleicht Vorbote einer neueren und schöneren ist.


Diese Aufsätze der »Précurseurs« kämpfen nicht mehr gegen Anschauungen und gegen den Krieg, sie zeigen nur die Kämpfer für das andere Ideal in allen Ländern, jene »Pfadfinder der europäischen Seele«, wie Nietzsche die Verkünder der geistigen Einheit nannte. Auf die Massen zu hoffen, ist zu spät. In dem Anruf an die »hingeschlachteten Völker« hat er nur Mitleid für die Millionen, die willenlos fremden Zwecken dienen und deren fromme Opfertat keinen anderen Sinn hat als die Schönheit des heroischen Opfers. Seine Hoffnung wendet sich einzig zu den Eliten, zu den seltenen freien Menschen, die die ganze Welt erlösen, in großen Bildern der Seele, in denen spiegelnd alle Wahrheit erscheint, unwirksam freilich für die Zeit, aber doch dauernd als Zeugnis ihrer Allgegenwart in allen Zeiten. Diese Menschen vereint er im Bild, und den meisterhaften Analysen fügen sich noch Schattenrisse vergangener Zeiten ein, ein Porträt Tolstois, des Ahnherrn der menschlichen Freiheit im Kriege, und seines alten Lieblings aus den Jugendjahren, des weisen Joniers Empedokles.


Der große Weise Griechenlands, dem er als Zwanzigjähriger sein erstes Drama gewidmet, tröstet nun den gereiften Mann. Rolland zeigt, daß vor dreitausend Jahren schon ein Dichter innerhalb einer blutrünstigen Zeit erkannt hat, daß die Welt »in einem ewigen Umschwung vom Haß zur Liebe und von der Liebe zum Haß« ist, daß es immer ein ganzes Zeitalter des Kampfes und des Hasses gibt und ebenso unabänderlich wie die Jahreszeiten dann neuen Aufschwung zu reineren Zeiten. Mit einer großen Geste zeigt er, daß vom Sänger der sizilianischen Musen bis zum heutigen Tage die Weisen immer um die menschliche Wahrheit wußten und doch ohnmächtig waren gegen den Wahn der Welt, daß aber die Wahrheit so von Hand zu Hand in unendlicher Kette durch die Zeiten gleitet und unverlierbar und unzerstörbar ist.


Und so leuchtet auch hier über der dunkelsten Resignation seiner Jahre noch ein mildes Licht von Hoffnung, sichtbar freilich nur den Erlesenen, die den Blick vom Zeitlichen ins Unendliche zu heben wissen.

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