Appell an das Volk


Die alte Zeit ist abgetan, die neue Zeit fängt an.« Mit diesem Worte Schillers eröffnet Rolland seinen Appell in der Revue dramatique im Jahre 1900. Zwiefach ist der Ruf: an die Dichter und an das Volk, daß sie sich zu einer neuen Einheit finden, zum Theater des Volkes. Die Bühne, die Stücke sollen ganz dem Volke gehören, nicht das Volk soll sich ändern (denn seine Kräfte sind ewig und unabänderlich), sondern die Kunst. Der Zusammenhang soll in der schöpferischen Tiefe sich vollziehen, es darf keine gelegentliche Berührung, sondern muß eine Durchdringung, eine schöpferische Begattung sein. Das Volk braucht seine eigene Kunst, sein eigenes Theater: es muß in Tolstois Sinne der letzte Prüfstein aller Werte sein. Seine starke, mystische, seine ewig religiöse Kraft der Begeisterung muß zu einer bejahenden und bestärkenden erhoben werden, die Kunst, die im Bürgertum siech und blutlos geworden ist, an seiner Stärke gesunden.


Dazu ist notwendig, daß das Volk nicht nur gelegentliches Publikum sei, flüchtig begönnert von freundlichen Unternehmern und Schauspielern. Die Volksvorstellungen der großen Theater, wie sie seit jenem Dekret Napoleons in Paris üblich sind, genügen nicht. Für Rolland sind jene Versuche, daß sich die Comédie Française ab und zu herabläßt, die pathetischen Hofdichter Corneille oder Racine für die Arbeiter zu spielen, wertlos: das Volk will nicht Kaviar, sondern gesunde bekömmliche Kost, es bedarf zur Nahrung seines unzerstörbaren Idealismus eine eigene Kunst, ein eigenes Haus, und vor allem eigene Werke, die seinem Fühlen, seiner Geistigkeit gemäß sind. Es darf sich nicht als Gast und als Geduldeter fremder Gedankenwelt fühlen, es muß in dieser Kunst sich selbst, seine eigene Kraft erkennen.


Gemäßer schon scheinen ihm die Versuche, die einzelne, wie Maurice Pottecher, in Bussang mit dem »Théatre du peuple« gemacht haben, in dem sie vor kleinem Publikum leichtfaßliche Stücke spielen. Aber diese Versuche gelten nur einem kleinen Kreis: die Kluft in der Dreimillionenstadt zwischen der Schaubühne und der wirklichen Bevölkerung bleibt unausgefüllt, die zwanzig oder dreißig Volksdarbietungen kommen dort bestenfalls einem verschwindenden Teil der Bevölkerung zugute, und sie bedeuten vor allem keine seelische Bindung, keinen moralischen Aufschwung. Die Kunst ist ohne dauernde Einwirkung auf die Masse, die Masse wiederum ohne Einwirkung auf die dramatische Kunst, die – indes sich Zola, Charles Louis Philippe, Maupassant längst an dem proletarischen Idealismus befruchtet haben – steril und volksfremd geblieben ist.


Ein eigenes Theater also dem Volke! Was aber dem Volke bieten in diesem seinem Haus? Im Flug durchblättert Rolland die Weltliteratur. Das Resultat ist niederschmetternd. Was ist dem Arbeiter der Klassiker der französischen Bühne? Corneille und Racine mit ihrem gebundenen Pathos sind ihm fremd, die Feinheiten Molières kaum verständlich. Die klassische Tragödie, die griechisch-antike, würde ihn langweilen, die romantische Hugos seinen gesunden Wirklichkeitsinstinkt abstoßen. Shakespeare, er der allmenschliche, wäre ihnen näher, aber es täte not, seine Stücke erst zu adaptieren und damit zu fälschen, Schiller in den »Räubern« und dem »Wilhelm Teil« hat durch den hinreißenden Idealismus noch am meisten Enthusiasmus zu erwarten, aber er, wie Kleist im »Prinzen von Homburg«, sind gerade dem Pariser Arbeiter national irgendwie entlegen Tolstois »Macht der Finsternis« und Hauptmanns »Weber« hätten den Vorteil der Verständlichkeit, hier aber liegt zuviel Drückendes im Stofflichen der Werke, die, gut angetan, das Gewissen der Schuldigen zu erschüttern, bei dem Volke nur ein Gefühl der Bedrückung statt der Befreiung schaffen würden. Anzengruber, der rechte Volksdichter, ist zu sehr aufs Wienerische beschränkt, Wagner, dessen Meistersinger Rolland ein Höhepunkt allverständlicher erhebender Künste scheinen, ohne Musik nicht repräsentativ.


Soweit der Blick ins Vergangene geht, er findet keine Antwort auf seine sehnsüchtige Frage. Aber Rolland ist nicht einer von denen, die sich entmutigen lassen, immer schöpft er aus Enttäuschungen Kraft. Hat das Volk keine Bühnenstücke für sein Theater, so ist es Pflicht, heilige Pflicht, sie der neuen Generation zu schaffen. Und in einem jubelnden Appell endet das Manifest »Tout est à dire! Tout est à faire! A l’oeuvre!« Im Anfang war die Tat.

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