Die Erneuerung des französischen Theaters


Mit der gläubigsten Seele hat der junge Dichter seine ersten dramatischen Aufrufe zum Heroismus geschaffen, eingedenk von Schillers Wort, daß glückliche Epochen der reinen Schönheit sich hingeben können, schwache aber das Beispiel vergangenen Heldentums bedürfen. Er hatte einen Ruf zur Größe an seine Nation gesandt – sie gibt keine Antwort. Und unerschütterlich in der Überzeugung von dem Sinn, von der Notwendigkeit dieses Aufschwungs, sucht Rolland nun die Ursache dieses Mißverstehens, und er findet sie, mit Recht, nicht in seinem Werk, sondern im Widerstand der Zeit. Tolstoi hat ihm in seinen Büchern und in jenem wundervollen Briefe als erster die Unfruchtbarkeit, die Sterilität der bürgerlichen Kunst gewiesen, die in ihrer sinnlichsten Ausdrucksform, im Theater, mehr als irgendwo den Zusammenhang mit den ethischen und ekstatischen Kräften des Lebens verloren hat. Ein Klüngel eifriger und betriebsamer Stückeschreiber hat die Pariser Theater besetzt, die Probleme, die sie darstellen, sind Varianten des Ehebruches, kleine erotische Konflikte, niemals eine ethische allmenschliche Angelegenheit. Das Publikum der Theater, von den Zeitungen übel beraten und in seiner seelischen Trägheit bestärkt, will sich nicht aufraffen, sondern sich ausruhen, sich vergnügen, sich amüsieren. Das Theater ist alles, nur keine »moralische Anstalt«, wie sie Schiller gefordert und d’Alembert verteidigt hat. Kein Atem von Leidenschaft geht von dieser spielerischen Kunst in die Tiefe der Nation, nur oben wird vom leichten Wind Wellenschaum aufgesprüht: eine unendliche Kluft spannt sich von dieser geistreich-sinnlichen Unterhaltung zu den wahren schöpferischen und empfänglichen Kräften der Nation.


Rolland erkennt, von Tolstoi belehrt, von jungen leidenschaftlichen Freunden begleitet, die moralische Gefahr dieses Zustandes, er erkennt, daß jede dramatische Kunst, die sich von dem heiligen Kern einer Nation, vom Volke, absondert, im letzten Sinne wertlos und verderblich ist. Unbewußt hatte er schon in seinem »Aërt« verkündet, was er nun programmatisch sagt, daß im Volke am ehesten Verständnis für die wahrhaft heroischen Probleme zu finden sei: der schlichte Handwerker Claes ist dort der einzige in der Umgebung des gefangenen Prinzen, der sich nicht mit der lauen Ergebung abfindet, sondern dessen Herz von aller Schmach seines Vaterlandes brennt. Schon sind in den andern Kunstformen die ungeheuren Kräfte der Volkstiefe bewußt geworden, Zola und die Naturalisten haben die tragische Schönheit des Proletariats sich zu eigen gemacht, Millet, Meunier haben den proletarischen Menschen zum Bildwerk erhoben, der Sozialismus die religiöse Macht des kollektiven Bewußtseins entbunden – nur das Theater, die unmittelbarste Wirkung der Kunst auf den einfachen Menschen, hat sich in der Bourgeoisie isoliert und den ungeheuren Möglichkeiten der Bluterneuerung verschlossen. Es treibt unentwegt geistige Inzucht sexueller Probleme, es hat den sozialen Gedanken, den elementarsten der neuen Zeit, über seinen kleinen erotischen Spielen vergessen und ist in Gefahr zu verdorren, weil seine Wurzeln nicht mehr ins ewige Erdreich der Nation hinabdrängen. Und Rolland erkennt: die dramatische Kunst kann von ihrer Blutleere nur am Volke genesen, der französische Feminismus des Theaters nur wieder sich ermännlichen durch einen lebendigen Kontakt mit der Millionenmasse. »Seul la sève populaire peut lui rendre la vie et la santé.« Das Theater darf, wenn es national sein will, nicht nur Luxusprodukt der oberen Zehntausende sein: es muß die moralische Nahrung der Masse werden und selbst produktiv die Fruchtbarkeit der Volksseele beeinflussen.


Dem Volke ein solches Theater zu geben, ist nun das Werk seiner nächsten Jahre. Ein paar junge Menschen ohne Konnexionen, ohne Autorität, durch nichts stark als durch die Leidenschaft und Ehrlichkeit ihrer Jugend, versuchen inmitten der ungeheuren Gleichgültigkeit der Stadt und gegen die geheime Feindlichkeit der Presse diese große Idee zu verwirklichen. In ihrer »Revue dramatique«, veröffentlichen sie Manifeste, suchen sie Schauspieler, Bühnen, Helfer, sie schreiben Stücke, versammeln Komitees, sie verfassen Sonderschreiben an die Minister – mit dem ganzen fanatischen Idealismus der Aussichtslosen arbeiten diese Wenigen, ohne daß die Stadt, die Welt, ihre Bemühungen ahnt, an der Aussöhnung des klaffenden Kontrastes zwischen bürgerlichem Theater und der Nation. Rolland wird ihr Führer. Sein Manifest »Le Théatre du peuple« und sein »Théatre de la Révolution« sind ein dauerndes Denkmal jener Bemühung, zeitlich mit einer Niederlage endend, aber wie alle seine Niederlagen menschlich und künstlerisch zu einem moralischen Triumph gestaltet.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.