Der vergebliche Ruf


Vergebens war der Ruf nach dem Volke geblieben. Vergebens das Werk. Keines der Dramen erkämpft sich mehr als einige Abende, die meisten sind schon am nächsten Morgen begraben von der Feindseligkeit der Kritik, der Gleichgültigkeit der Menge. Vergebens auch der Kampf der Freunde um das »Théatre du peuple«. Das Ministerium, an das sie verhängnisvollerweise zur Schaffung einer Pariser Volksbühne appelliert haben, läßt die leidenschaftliche Bemühung verknöchern, Herr Adrin Bernheim wird auf eine Informationsreise nach Berlin gesandt, er referiert, man referiert weiter, man berät, man deliberiert, schließlich erstickt der schöne Versuch irgendwo in den Akten. Auf den Boulevards triumphieren weiter Rostand und Bernstein, das Volk drängt in die Kinos, der große Aufruf zum Idealismus verhallt ungehört.


Wem nun das gewaltige Werk vollenden, welcher Nation, wenn die eigene schweigt? Das »Théatre de la Revolution« bleibt Torso. Ein »Robespierre«, das geistige Gegenstück zum »Danton«, in breiten Zügen schon gestaltet, formt sich nicht zu Ende, die andern Segmente des großen Schaffenskreises sinken in sich zusammen. Stöße von Studien, Notizen, verstreute Blätter, beschriebene Hefte, papierner Schutt sind die Trümmer eines Baues, der das französische Volk in einem Pantheon des Geistes zu heroischer Erhebung versammeln, ein wahrhaft französisches Theater schaffen wollte. Rolland mag in solcher Stunde gefühlt haben wie Goethe, da er in wehmütiger Rückerinnerung seiner dramatischen Träume zu Eckermann sagt: »Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden, ja, ich hatte den Wahn, als könne ich selbst dazu beitragen und als könne ich zu einem solchen Bau einige Grundstücke legen… Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich ein ganzes Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Tasso geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen.«


Der Ruf ist verklungen. »Es regte sich nicht und rührte sich nicht und alles blieb wie zuvor.« Aber auch Rolland bleibt derselbe, der ewige Beginner von Werk zu Werk, über das Hingesunkene ohne Klage aufsteigend, neuerem und höherem Ziel entgegen, um im Sinne von Rilkes schönem Wort »der Besiegte von immer Größerem zu sein«.

vorheriges Kapitel

Die Wölfe

nachfolgendes Kapitel

Die Zeit wird kommen

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.