Die Wölfe


1898


In »Triomphe de la Raison« war dem Menschen des Gewissens die entscheidende Frage gestellt: das Vaterland oder die Freiheit, die Interessen der Nation oder die des übernationalen Geistes. Die »Wölfe« sind eine Variation der Frage: sie heißt hier »das Vaterland oder die Gerechtigkeit«.


Schon im »Danton« ist das Problem angeschlagen. Robespierre beschließt mit den Seinen die Hinrichtung Dantons und fordert, daß er sofort verhaftet und verurteilt werde. St. Just, leidenschaftlichster Feind Dantons, widerstrebt nicht der Anklage, er fordert nur, daß sie im Rahmen des Gesetzes erfolge. Nun weiß Robespierre, daß ein Zögern den Sieg Dantons bedeute, er verlangt den Bruch des Gesetzes: ihm ist das Vaterland mehr als das Gesetz. »Vaincre à tout prix!«, »Siegen um jeden Preis!« ruft der eine; der andere: »Es ist gleichgültig, ob ein einzelner Mensch rechtlich verurteilt wird, wenn nur das Vaterland gerettet ist«; und St. Just beugt sich diesem Argument, er opfert die Ehre der Notwendigkeit, das Gesetz dem Vaterland.


In den »Wölfen« ist nun die Kehrseite der Tragödie gestaltet: ein Mensch, der lieber sich opfert als das Gesetz, der des gleichen Glaubens ist wie Faber in »Triomphe de la Raison«, »daß eine einzige Ungerechtigkeit die ganze Welt ungerecht mache«, ein Mensch, dem es wie Hugot, dem andern Helden des »Triomphe de la Raison«, gleichgültig scheint, »ob die Gerechtigkeit siegt oder besiegt wird, der nur nicht duldet, daß sie resigniert«. Teulier, der Gelehrte, weiß, daß sein Feind d’Oyron zu Unrecht des Verrates beschuldigt ist: er verteidigt ihn, obwohl er sich bewußt ist, daß er ihn nicht retten kann und nur sich selbst zerstört, gegen den patriotischen Furor der Revolutionssoldateska, dem einzig der Sieg ein Argument ist. »Fiat justitia, pereat mundus«, den alten Wahrspruch nimmt er mit aller Gefahr auf sich, er verleugnet lieber das Leben, als den Geist. »Jede Seele, die einmal die Wahrheit gesehen und sie zu leugnen versucht, mordet sich selbst.« Aber die andern sind stärker, der Erfolg der Waffen ist mit ihnen. »Möge mein Name beschmutzt sein, wenn nur das Vaterland gerettet ist«, antwortet ihm Quesnel. Der Patriotismus, der Massenglaube triumphiert über den Heroismus des Gewissens, den Glauben an die unsichtbare Gerechtigkeit.


Diese Tragödie eines zeitlosen Konfliktes, der in Zeiten des Krieges und der Vaterlandsgefahr jeden einzelnen Menschen in seiner doppelten Eigenschaft als freies moralisches Wesen und gehorsamen Staatsbürger fast notwendig befällt, war mitten aus einem zeitlichen Erlebnis geschrieben. In den »Wölfen« hatte Rolland die Dreyfus-Affäre meisterhaft transponiert, in der jedem die Frage auferlegt war, was ihm wichtiger sei, die Gerechtigkeit oder die nationale Sache. Dreyfus der Jude ist in der Revolutionstragödie Aristokrat, Mitglied einer beargwöhnten, gehaßten sozialen Schicht; Teulier, der den Kampf für ihn führt, Piquart, seine Feinde der französische Generalstab, der lieber die einmal begangene Ungerechtigkeit verewigen, als den Ruhm und das Vertrauen der Armee beschmutzen lassen will. In ein enges, aber prachtvoll bildkräftiges Symbol war mit dieser militärischen Tragödie das ganze Geschehnis zusammengedrängt, das Frankreich vom Präsidentenzimmer bis in die letzte Arbeiterwohnung erregte, und der Abend der Aufführung des Stückes im Theater de l’Oeuvre am 18. Mai wurde unaufhaltsam eine politische Demonstration. Zola, Scheurer-Kestner, Peguy, Piquart, die Verteidiger des Unschuldigen, die Hauptakteure des weltberühmten Prozesses waren für zwei Stunden Zuschauer der dramatischen Symbolisierung ihres eigenen Werkes. Ganz aus der Hitze der Politik hatte Rolland – der unter dem Namen St. Just das Schauspiel veröffentlichte – den geistigen Gehalt, die moralische Essenz jenes Prozesses gewonnen, der tatsächlich im höheren Sinn ein Reinigungsprozeß der ganzen französischen Nation geworden war. Zum erstenmal war er aus der Geschichte in die Aktualität getreten, aber nur um – wie immer seitdem – das Ewige aus dem Zeitlichen zu retten, die Freiheit der Gesinnung gegen die Psychose der Masse zu verteidigen, Anwalt jenes Heroismus, der keine andere Instanz anerkennt, weder Vaterland noch Sieg, weder Erfolg noch Gefahr: immer nur die eine, die höchste, sein Gewissen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.