Der neue Rhythmus


Während all der Tausende und vielleicht Hunderttausende von Jahren, seit das sonderbare Wesen, genannt Mensch, die Erde beschreitet, hatte kein anderes Höchstmaß irdischer Fortbewegung gegolten als der Lauf des Pferdes, das rollende Rad, das geruderte oder segelnde Schiff. Alle die Fülle des technischen Fortschritts innerhalb jenes schmalen, vom Bewußtsein belichteten Raumes, den wir Weltgeschichte nennen, hatte keine merkbare Beschleunigung im Rhythmus der Bewegung gezeitigt. Die Armeen Wallensteins kamen kaum rascher vorwärts als die Legionen Cäsars, die Armeen Napoleons brachen nicht rapider vor als die Horden Dschingis-Khans, die Korvetten Nelsons durchquerten das Meer nur um weniges rascher als die Raubboote der Wikinger und die Handelsschiffe der Phönizier. Ein Lord Byron bewältigt auf seiner Childe-Harold-Fahrt nicht mehr Meilen im Tag als Ovidius auf seinem Wege ins poetische Exil, Goethe reist im achtzehnten Jahrhundert nicht wesentlich bequemer oder geschwinder als der Apostel Paulus zu Anfang des Jahrtausends. Unverändert weit liegen die Länder in Raum und Zeit voneinander geschieden im Zeitalter Napoleons wie unter dem römischen Imperium; noch obsiegt der Widerstand der Materie über den menschlichen Willen.


Erst das neunzehnte Jahrhundert verändert fundamental Maß und Rhythmus der irdischen Geschwindigkeit. In seinem ersten und zweiten Jahrzehnt rücken die Völker, die Länder rascher aneinander als vordem in Jahrtausenden; durch die Eisenbahn, durch das Dampfboot werden Tagereisen von vordem in einem einzigen Tag, bisher endlose Reisestunden in Viertelstunden und Minuten bewältigt. Aber so triumphal auch von den Zeitgenossen diese neuen Beschleunigungen durch die Eisenbahn und das Dampfboot empfunden werden, diese Erfindungen liegen immerhin noch im Bereich der Faßbarkeit. Denn diese Vehikel verfünffachen, verzehnfachen, verzwanzigfachen doch nur die bisher gekannten Geschwindigkeiten, der äußere Blick und der innere Sinn vermag ihnen noch zu folgen und sich das scheinbare Wunder zu erklären. Völlig unvermutet aber in ihren Auswirkungen erscheinen die ersten Leistungen der Elektrizität, die, ein Herkules schon in der Wiege, alle bisherigen Gesetze umstößt, alle gültigen Maße zertrümmert. Nie werden wir Späteren das Staunen jener Generation über die ersten Leistungen des elektrischen Telegraphen nachzufühlen vermögen, die ungeheure und begeisterte Verblüffung, daß eben derselbe kleine, kaum fühlbare elektrische Funke, der gestern von der Leidener Flasche gerade noch einen Zoll weit bis zum Fingerknöchel hinüberzuknistern vermochte, mit einmal die dämonische Kraft gewonnen hat, Länder, Berge und ganze Erdteile zu überspringen. Daß der noch kaum zu Ende gedachte Gedanke, das noch feucht hingeschriebene Wort in derselben Sekunde schon Tausende Meilen weit empfangen, gelesen, verstanden werden kann und daß der unsichtbare Strom, der zwischen den beiden Polen der winzigen Voltaschen Säule schwingt, ausgespannt zu werden vermag über die ganze Erde von ihrem einen bis zum andern Ende. Daß der Spielzeugapparat der Physikstube, gestern gerade noch fähig, durch Reibung einer Glasscheibe ein paar Papierstückchen an sich zu ziehen, potenziert werden könnte zum Millionenfachen und Milliardenfachen menschlicher Muskelkraft und Geschwindigkeit, Botschaften bringend, Bahnen bewegend, Straßen und Häuser mit Licht erhellend und wie Ariel unsichtbar die Luft durchschwebend. Erst durch diese Entdeckung hat die Relation von Raum und Zeit die entscheidendste Umstellung seit Erschaffung der Welt erfahren.


Dieses weltbedeutsame Jahr 1837, da zum erstenmal der Telegraph das bisher isolierte menschliche Erleben gleichzeitig macht, wird selten in unseren Schulbüchern auch nur vermerkt, die es leider noch immer für wichtiger halten, von Kriegen und Siegen einzelner Feldherren und Nationen zu erzählen statt von den wahrhaften, weil gemeinsamen Triumphen der Menschheit. Und doch ist kein Datum der neueren Geschichte an psychologischer Weitwirkung dieser Umstellung des Zeitwertes zu vergleichen. Die Welt ist verändert, seit es möglich ist, in Paris gleichzeitig zu wissen, was in Amsterdam, Moskau und Neapel und Lissabon in derselben Minute geschieht. Nur ein letzter Schritt ist noch zu tun, dann sind auch die andern Weltteile einbezogen in jenen großartigen Zusammenhang und ein gemeinsames Bewußtsein der ganzen Menschheit geschaffen.


Aber noch widerstrebt die Natur dieser letzten Vereinigung, noch stemmt sie ein Hindernis entgegen, noch bleiben zwei Jahrzehnte lang alle jene Länder abgeschaltet, die durch das Meer voneinander geschieden sind. Denn während an den Telegraphenstangen dank der isolierenden Porzellanglocken der Funke ungehemmt weiterspringt, saugt das Wasser den elektrischen Strom an sich. Eine Leitung durch das Meer ist unmöglich, als noch nicht ein Mittel erfunden ist, um die kupfernen und eisernen Drähte im nassen Element vollkommen zu isolieren.


Glücklicherweise reicht nun in den Zeiten des Fortschritts eine Erfindung der anderen hilfreich die Hand. Wenige Jahre nach der Einführung des Landtelegraphen wird das Guttapercha entdeckt als der geeignete Stoff, elektrische Leitungen im Wasser zu isolieren; nun kann man beginnen, das wichtigste Land jenseits des Kontinents, England, an das europäische Telegraphennetz anzuschließen. Ein Ingenieur, namens Brett, legt an der gleichen Stelle, wo Blériot in spätern Tagen als erster den Kanal mit einem Flugzeug überfliegen wird, das erste Kabel. Ein tölpischer Zwischenfall vereitelt noch das sofortige Gelingen, denn ein Fischer in Boulogne, der meint, einen besonders fetten Aal gefunden zu haben, reißt das schon gelegte Kabel heraus. Aber am 13. November 1851 gelingt der zweite Versuch. Damit ist England angeschlossen und dadurch Europa erst wahrhaft Europa, ein Wesen, das mit einem einzigen Gehirn, einem einzigen Herzen gleichzeitig alles Geschehen der Zeit erlebt. Ein so ungeheurer Erfolg innerhalb so weniger Jahre – denn was bedeutet ein Jahrzehnt anderes als einen Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit? – muß selbstverständlich maßlosen Mut in jener Generation erwecken. Alles gelingt, was man versucht, und alles traumhaft geschwind. Ein paar Jahre nur, und England ist seinerseits wieder mit Irland, Dänemark mit Schweden, Korsika mit dem Festland telegraphisch verbunden, und schon tastet man aus, um Ägypten und damit Indien dem Netz anzuschließen. Ein Erdteil aber, und zwar gerade der wichtigste, scheint zu dauerndem Ausschluß von dieser weltumspannenden Kette verurteilt: Amerika. Denn wie den Atlantischen Ozean oder den Pazifischen, die beide in ihrer endlosen Breite keine Zwischenstationen erlauben, mit einem einzigen Drahte durchspannen? In jenen Kinderjahren der Elektrizität sind noch alle Faktoren unbekannt. Noch ist die Tiefe des Meeres nicht ausgemessen, noch kennt man nur ungenau die geologische Struktur des Ozeans, noch ist völlig unerprobt, ob ein in solche Tiefe gelegter Draht den Druck so unendlich getürmter Wassermassen ertragen könnte. Und selbst wenn es technisch möglich wäre, ein derart endloses Kabel sicher in solche Tiefen hinabzubetten, wo ist ein Schiff von solcher Größe, daß es die Eisen- und Kupferlast von zweitausend Meilen Draht in sich aufzunehmen vermöchte? Wo die Dynamos von solcher Kraft, daß sie einen elektrischen Strom ungebrochen eine Distanz hinüberzuschicken vermöchten, die mit dem Dampfboot zu durchfahren man noch mindestens zwei bis drei Wochen benötigt? Alle Voraussetzungen fehlen. Noch ist unbekannt, ob nicht in der Tiefe des Weltmeeres magnetische Ströme kreisen, die den elektrischen Strom ablenken könnten, noch besitzt man keine zureichende Isolation, keine richtigen Meßapparate, noch kennt man nur die Anfangsgesetze der Elektrizität, die gerade die Augen auf getan aus ihrem hundertjährigen Schlaf von Unbewußtheit. »Unmöglich! Absurd!« winken darum die Gelehrten heftig ab, sowie man den Plan der Ozeanüberspannung nur erwähnt. »Später vielleicht«, meinen die mutigsten unter den Technikern. Selbst Morse, dem Manne, dem der Telegraph bisher seine größte Vollendung verdankt, erscheint der Plan als unberechenbares Wagnis. Aber prophetisch fügt er bei, im Falle des Gelingens würde die Legung des transatlantischen Kabels »the great feat of the Century«, die ruhmreichste Tat des Jahrhunderts bedeuten.


Damit ein Wunder oder ein Wunderbares sich vollende, ist immer die erste Vorbedingung der Glaube eines einzelnen an dieses Wunder. Der naive Mut eines Unbelehrbaren vermag gerade dort, wo die Gelehrten zögern, den schöpferischen Anstoß zu geben, und wie meist, bringt auch hier ein simpler Zufall die grandiose Unternehmung in Schwung. Ein englischer Ingenieur, namens Gisborne, der im Jahre 1854 ein Kabel von Neuyork nach dem östlichsten Punkte Amerikas, Neufundland, legen will, damit die Nachrichten von den Schiffen um ein paar Tage früher übernommen werden können, muß mitten im Werke innehalten, weil seine finanziellen Mittel erschöpft sind. So reist er nach Neuyork, um dort Finanzleute zu finden. Dort stößt er durch blanken Zufall, diesen Vater so vieler ruhmreicher Dinge, auf einen jungen Menschen, Cyrus W. Field, einen Pastorssohn, dem in geschäftlichen Unternehmungen so viel und so rasch geglückt ist, daß er sich bereits in jungen Jahren mit einem großen Vermögen ins Privatleben zurückziehen konnte. Diesen Unbeschäftigten, der zu jung und zu energisch ist für dauernde Untätigkeit, sucht Gisborne für die Fertigstellung des Kabels von Neuyork nach Neufundland zu gewinnen. Nun ist Cyrus W. Field – fast sagte man: glücklicherweise! – kein Techniker, kein Fachmann. Er versteht nichts von Elektrizität, er hat nie ein Kabel gesehen. Aber dem Pastorssohn wohnt eine leidenschaftliche Gläubigkeit im Blute, dem Amerikaner der energische Wagemut. Und wo der Fachingenieur Gisborne nur auf das unmittelbare Ziel blickt, Neuyork an Neufundland anzuschließen, sieht der junge, begeisterungsfähige Mensch sofort weiter. Warum nicht gleich dann Neufundland durch ein Unterseekabel mit Irland verbinden? Und mit einer Energie, die entschlossen ist, jedes Hindernis zu überwinden – einunddreißigmal ist jener Mann in diesen Jahren hin und zurück über das Weltmeer zwischen den beiden Erdteilen gefahren –, macht sich Cyrus W. Field sofort ans Werk, ehern entschlossen, von diesem Augenblick an alles, was er in sich und um sich hat, für diese Tat einzusetzen. Damit ist schon jene entscheidende Zündung vollzogen, dank deren ein Gedanke explosive Kraft in der Wirklichkeit gewinnt. Die neue, die wunderwirkende elektrische Kraft hat sich dem andern stärksten dynamischen Element des Lebens verbunden: dem menschlichen Willen. Ein Mann hat seine Lebensaufgabe und eine Aufgabe ihren Mann gefunden.

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Die Vorbereitung

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.