Die dritte Fahrt


Mit blassen Gesichtern erwarten, schon von der Unglücksnachricht verständigt, die Aktionäre in London ihren Führer und Verführer Cyrus W. Field. Die Hälfte des Aktienkapitals ist auf diesen beiden Fahrten vertan und nichts bewiesen, nichts erreicht; man versteht, daß die meisten nun sagten: Genug! Der Vorsitzende rät, man solle retten, was zu retten sei. Er stimme dafür, den Rest des unbenutzten Kabels von den Schiffen zu holen und notfalls auch mit Verlust zu verkaufen, dann aber einen Strich unter diesen wüsten Plan der Ozeanüberspannung zu machen. Der Vizepräsident schließt sich ihm an und sendet schriftlich seine Demission, um darzutun, daß er mit diesem absurden Unternehmen weiter nichts mehr zu tun haben wolle. Aber die Zähigkeit und der Idealismus Cyrus W. Fields sind nicht zu erschüttern. Nichts sei verloren, erklärt er. Das Kabel selbst habe glänzend die Probe bestanden und genug noch an Bord, um den Versuch zu erneuern, die Flotte sei versammelt, die Mannschaften angeheuert. Gerade das ungewöhnliche Unwetter der letzten Fahrt lasse jetzt auf eine Periode schöner, windstiller Tage hoffen. Nur Mut, noch einmal Mut! Jetzt oder nie sei Gelegenheit, auch das Letzte zu wagen.


Immer unsicherer sehen sich die Aktionäre an: sollen sie das letzte des eingezahlten Kapitals diesem Narren anvertrauen? Aber da ein starker Wille Zögernde schließlich doch immer mit sich fortreißt, erzwingt Cyrus W. Field die neuerliche Ausfahrt. Am 17. Juli 1858, fünf Wochen nach der zweiten Unglücksfahrt, verläßt die Flotte zum drittenmal den englischen Hafen.


Und nun bestätigt sich abermals die alte Erfahrung, daß die entscheidenden Dinge fast immer im geheimen gelingen. Diesmal geht die Abfahrt völlig unbeachtet vor sich; keine Boote, keine Barken umkreisen glückwünschend die Schiffe, keine Menge versammelt sich am Strand, kein festliches Abschiedsdiner wird gegeben, keine Reden gehalten, kein Priester fleht den Beistand Gottes herab. Wie zu einem piratischen Unternehmen, scheu und schweigsam fahren die Schiffe aus. Aber freundlich erwartet sie die See. Genau am vereinbarten Tage, am 28. Juli, elf Tage nach der Abfahrt von Queenstown, können die »Agamemnon« und die »Niagara« an der vereinbarten Stelle in der Mitte des großen Ozeans die große Arbeit beginnen. Seltsames Schauspiel – Heck gegen Heck wenden sich die Schiffe einander zu. Zwischen beiden werden nun die Enden des Kabels vernietet. Ohne jede Förmlichkeit, ja ohne sogar daß die Leute an Bord dem Vorgang wesentliches Interesse schenken (sie sind schon so abgemüdet von den erfolglosen Versuchen), sinkt das eiserne und kupferne Tau zwischen den beiden Schiffen in die Tiefe bis zu dem untersten, von keinem Lot noch erforschten Grund des Ozeans. Dann noch eine Begrüßung von Bord zu Bord, von Flagge zu Flagge, und das englische Schiff steuert England, das amerikanische Amerika zu. Während sie sich voneinander entfernen, zwei wandernde Punkte im unendlichen Ozean, hält das Kabel sie ständig verbunden – zum erstenmal seit Menschengedenken können zwei Schiffe sich miteinander über Wind und Welle und Raum und Ferne im Unsichtbaren verständigen. Jede paar Stunden meldet das eine mit elektrischem Signal aus der Tiefe des Ozeans die zurückgelegten Meilen, und jedesmal bestätigt das andere, daß es ebenfalls dank des trefflichen Wetters die gleiche Strecke geleistet. So vergeht ein Tag und ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Am 5. August kann endlich die »Niagara« melden, daß sie in Trinity Bay auf Neufundland die amerikanische Küste vor sich sehe, nachdem sie nicht weniger als tausendunddreißig Meilen Kabel gelegt hat, und ebenso kann die »Agamemnon« triumphieren, die gleichfalls an tausend Meilen sicher in die Tiefe gebettet, sie habe ihrerseits die irische Küste in Sicht. Zum erstenmal verständigt sich jetzt das menschliche Wort von Land zu Land, von Amerika nach Europa. Aber nur diese beiden Schiffe, die paar hundert Menschen in ihrem hölzernen Gehäuse wissen, daß die Tat getan ist. Noch weiß es nicht die Welt, die längst dieses Abenteuer vergessen. Niemand erwartet sie am Strand, nicht in Neufundland, nicht in Irland: aber in der einen Sekunde, da das neue Ozeankabel an das Landkabel sich anschließt, wird die ganze Menschheit von ihrem gewaltigen gemeinsamen Sieg wissen.

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Das große Hosianna

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.