Das Projektil schlägt ein
Die erste Geste Lenins auf russischem Boden ist charakteristisch: er sieht nicht die einzelnen Menschen, sondern wirft sich vor allem auf die Zeitungen. Vierzehn Jahre war er nicht in Rußland gewesen, hat er die Erde nicht gesehen, nicht die Landesfahne und die Uniform der Soldaten. Aber nicht wie die andern bricht dieser eiserne Ideologe in Tränen aus, nicht umarmt er wie die Frauen die ahnungslos überraschten Soldaten. Die Zeitung, die Zeitung zuerst, die Prawda, um zu untersuchen, ob das Blatt, sein Blatt, den internationalen Standpunkt genug entschlossen einhält. Zornig zerknüllt er die Zeitung. Nein, nicht genug, noch immer Vaterländerei, noch immer Patriotismus, noch immer nicht genug in seinem Sinne reine Revolution. Es ist Zeit, fühlt er, daß er gekommen ist, um das Steuerrad umzureißen und seine Lebensidee vorzustoßen gegen Sieg oder Untergang. Aber wird er dazu noch kommen? Letzte Unruhe, letztes Bangen. Wird nicht Miljukow gleich in Petrograd – so heißt die Stadt damals noch, aber nicht lange mehr – ihn verhaften lassen? Die Freunde, die ihm entgegengefahren sind in dem Zuge, Kamenew und Stalin, zeigen ein merkwürdiges geheimnisvolles Lächeln in dem dunklen Abteil dritter Klasse, das von einem Lichtstumpf unsicher beleuchtet ist. Sie antworten nicht oder wollen nicht antworten.
Aber unerhört ist dann die Antwort, die die Wirklichkeit gibt. Wie der Zug einläuft in den finnischen Bahnhof, ist der riesige Platz davor voll von Zehntausenden von Arbeitern, Ehrenwachen aller Waffengattungen erwarten den aus dem Exil Heimgekehrten, die Internationale erbraust. Und wie Wladimir Ilitsch Ulianow jetzt heraustritt, ist der Mann, der vorgestern noch bei dem Flickschuster gewohnt, schon von hunderten Händen gefaßt und auf ein Panzerautomobil gehoben. Scheinwerfer von den Häusern und der Festung sind auf ihn gerichtet, und von dem Panzerautomobil herab hält er seine erste Rede an das Volk. Die Straßen beben, und bald haben die »zehn Tage, die die Welt erschüttern«, begonnen. Das Geschoß hat eingeschlagen und zertrümmert ein Reich, eine Welt.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.