Der plombierte Zug


Millionen vernichtender Geschosse sind in dem Weltkriege abgefeuert worden, die wuchtigsten, die gewaltigsten, die weithin tragendsten Projektile von den Ingenieuren ersonnen worden. Aber kein Geschoß war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten, entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts, in dieser Stunde von der Schweizer Grenze über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu zersprengen.


In Gottmadingen steht auf den Schienen dieses einzigartige Projektil, ein Wagen zweiter und dritter Klasse, in dem die Frauen und Kinder die zweite Klasse, die Männer die dritte belegen. Ein Kreidestrich auf dem Boden begrenzt als neutrale Zone das Hoheitsgebiet der Russen gegen das Abteil der zwei deutschen Offiziere, welche diesen Transport lebendigen Ekrasits begleiten. Der Zug rollt ohne Zwischenfall durch die Nacht. Nur in Frankfurt stürmen plötzlich deutsche Soldaten heran, die von der Durchreise russischer Revolutionäre gehört haben, und einmal wird ein Versuch der deutschen Sozialdemokraten, sich mit den Reisenden zu verständigen, zurückgewiesen. Lenin weiß wohl, welchem Verdacht er sich aussetzt, wenn er ein einziges Wort mit einem Deutschen auf deutschem Boden wechselt. In Schweden werden sie feierlich begrüßt. Ausgehungert stürzen sie über den schwedischen Frühstückstisch, dessen Smörgås ihnen wie ein unwahrscheinliches Wunder erscheint. Dann muß sich Lenin erst statt seiner schwerfälligen Bergstiefel noch neue Schuhe kaufen lassen und ein paar Kleider. Endlich ist die russische Grenze erreicht.

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Das Projektil schlägt ein

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.