Der Mann, der bei dem Flickschuster wohnt


Die kleine Friedensinsel der Schweiz, von allen Seiten umbrandet von der Sturmflut des Weltkrieges, ist in jenen Jahren 1915, 1916, 1917 und 1918 ununterbrochen die Szene eines aufregenden Detektivromans. In den Luxushotels gehen kühl und als ob sie einander nie gekannt hätten, die Gesandten der feindlichen Mächte aneinander vorüber, die ein Jahr vorher noch freundschaftlich Bridge gespielt und sich ins Haus geladen. Aus ihren Zimmern huscht ein ganzer Schwarm undurchsichtiger Gestalten. Abgeordnete, Sekretäre, Attachés, Geschäftsleute, verschleierte oder unverschleierte Damen, jeder mit geheimnisvollen Aufträgen bedacht. Vor den Hotels fahren prachtvolle Automobile mit ausländischen Hoheitszeichen vor, denen Industrielle, Journalisten, Virtuosen und scheinbar zufällige Vergnügungsreisende entsteigen. Aber fast jeder hat den gleichen Auftrag: etwas zu erfahren, etwas zu erspähen, und der Portier, der sie ins Zimmer führt, und das Mädchen, das die Stuben fegt, auch sie sind bedrängt, zu beobachten, zu belauern. Überall arbeiten die Organisationen gegeneinander, in den Gasthöfen, in den Pensionen, in den Postämtern, den Cafés. Was sich Propaganda nennt, ist zur Hälfte Spionage, was sich als Liebe gebärdet, Verrat, und jedes offene Geschäft all dieser eiligen Ankömmlinge verbirgt ein zweites und drittes im Hintergrund. Alles wird gemeldet, alles überwacht; kaum daß ein Deutscher von irgendwelchem Range Zürich betritt, weiß es die gegnerische Botschaft schon in Bern, und eine Stunde später Paris. Ganze Bände voll wahrer und erfundener Berichte senden Tag für Tag die kleinen und großen Agenten an die Attachés, und diese weiter. Gläsern sind alle Wände, überlauscht die Telephone, aus den Papierkörben und von den Löschblättern wird jede Korrespondenz rekonstruiert, und so toll wird schließlich dieses Pandämonium, daß viele selbst nicht mehr wissen, was sie sind, Jäger oder Gejagte, Spione oder Bespionierte, Verratene oder Verräter.


Nur über einen Mann gibt es wenig Berichte aus jenen Tagen, vielleicht weil er zu unbeachtlich ist und nicht in den vornehmen Hotels absteigt, nicht in den Kaffeehäusern sitzt, nicht den Propagandavorstellungen beiwohnt, sondern mit seiner Frau völlig zurückgezogen bei einem Flickschuster wohnt. Gleich hinter der Limmat in der engen, alten, buckligen Spiegelgasse haust er im zweiten Stock eines jener festgebauten, dachüberwölbten Häuser der Altstadt, das verräuchert ist halb von der Zeit, halb von der kleinen Wurstfabrik, die unten im Hofe arbeitet. Eine Bäckersfrau, ein Italiener, ein österreichischer Schauspieler sind seine Nachbarn. Die Hausgenossen wissen von ihm, da er nicht sehr gesprächig ist, kaum mehr, als daß er ein Russe ist und sein Name schwer auszusprechen. Daß er seit vielen Jahren aus seiner Heimat flüchtig ist und daß er über keine großen Reichtümer verfügt und keinerlei ergiebige Geschäfte betreibt, erkennt die Wirtin am besten an den ärmlichen Mahlzeiten und an der abgenützten Garderobe der beiden, die mit allem Hausrat kaum den kleinen Korb ausfüllen, den sie beim Einzug mit sich gebracht haben.


Dieser kleine untersetzte Mann ist so unauffällig und lebt so unauffällig wie möglich. Er meidet die Gesellschaft, selten sehen die Hausleute den scharfen, dunklen Blick in den schmalgeschlitzten Augen, selten kommen Besucher zu ihm. Aber regelmäßig, Tag für Tag, geht er jeden Morgen um neun Uhr in die Bibliothek und sitzt dort, bis sie um zwölf Uhr geschlossen wird. Genau zehn Minuten nach zwölf ist er wieder zu Hause, zehn Minuten vor eins verläßt er das Haus, um wieder als erster in der Bibliothek zu sein, und sitzt dort bis sechs Uhr abends. Da aber die Nachrichtenagenten nur auf die Leute achten, die viel reden, und nicht wissen, daß immer die einsamen Menschen die gefährlichsten sind für jede Revolutionierung der Welt, die viel lesen und lernen, so schreiben sie keine Berichte über den unbeachtlichen Mann, der bei dem Flickschuster wohnt. In den sozialistischen Kreisen wiederum weiß man gerade von ihm, daß er in London Redakteur einer kleinen, radikalen russischen Emigrantenzeitschrift gewesen und in Petersburg als Führer irgendeiner unaussprechbaren Sonderpartei gilt; aber da er hart und verächtlich über die angesehensten Leute der sozialistischen Partei spricht und ihre Methoden als falsch erklärt, da er sich als unzugänglich erweist und als durchaus unkonziliant, kümmert man sich um ihn nicht viel. Zu den Versammlungen, die er manchmal abends in ein kleines Proletariercafé einberuft, kommen höchstens fünfzehn bis zwanzig Personen, meistens Jugendliche, und so nimmt man diesen Eigenbrötler hin wie alle diese emigrantischen Russen, die sich mit viel Tee und vielen Diskussionen ihre Köpfe erhitzen. Niemand aber nimmt den kleinen strengstirnigen Mann für bedeutend, keine drei Dutzend Menschen in Zürich halten es für wichtig, sich den Namen dieses Wladimir Ilitsch Ulianow zu merken, des Mannes, der bei dem Flickschuster wohnt. Und hätte damals eines der prächtigen Automobile, die in scharfem Tempo von Botschaft zu Botschaft sausen, diesen Mann durch einen Zufall auf der Straße zu Tode gestoßen, auch die Welt würde ihn weder unter dem Namen Ulianow noch unter jenem Lenins kennen.

vorheriges Kapitel

Der versiegelte Zug

nachfolgendes Kapitel

Erfüllung ...

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.