Erfüllung…


Eines Tages, es ist der 15. März 1917, wundert sich der Bibliothekar der Züricher Bibliothek. Der Zeiger steht auf neun, und der Platz, auf dem dieser pünktlichste aller Bücherentleiher tagtäglich sitzt, ist leer. Es wird halb zehn und wird zehn, der unermüdliche Leser kommt nicht und wird nicht mehr kommen. Denn auf dem Wege zu der Bibliothek hatte ein russischer Freund ihn angesprochen oder vielmehr angefallen mit der Nachricht, in Rußland sei die Revolution ausgebrochen.


Lenin will es zuerst nicht glauben. Er ist wie betäubt von der Nachricht. Aber dann stürmt er hin mit seinen kurzen, scharfen Schritten zu dem Kiosk an dem Seeufer, und dort und vor der Redaktion der Zeitung wartet er nun Stunde auf Stunde und Tag auf Tag. Es ist wahr. Die Nachricht ist wahr und wird jeden Tag herrlich wahrer für ihn. Zuerst nur ein Gerücht einer Palastrevolution und scheinbar nur ein Ministerwechsel, dann die Absetzung des Zaren, die Einsetzung einer provisorischen Regierung, die Duma, die russische Freiheit, die Amnestierung der politischen Gefangenen – alles, was er seit Jahren erträumt, alles, wofür er seit zwanzig Jahren in geheimer Organisation, im Kerker, in Sibirien, im Exil gearbeitet, ist erfüllt. Und mit einemmal scheinen ihm die Millionen Toten, welche dieser Krieg gefordert, nicht vergebens gestorben. Nicht sinnlos Getötete scheinen sie ihm mehr, sondern Märtyrer für das neue Reich der Freiheit und der Gerechtigkeit und des ewigen Friedens, das nun anbricht, wie ein Berauschter fühlt sich dieser sonst so eisig klare und rechnerisch kalte Träumer. Und wie erbeben und jubeln jetzt die Hunderte anderen, die in ihren kleinen Emigrantenstuben sitzen in Genf und Lausanne und Bern, bei der beglückenden Botschaft: heimkehren dürfen nach Rußland! Heimkehren dürfen nicht auf falsche Pässe, nicht mit erborgten Namen und unter Todesgefahr in das Kronreich des Zaren, sondern als freier Bürger in das freie Land. Schon rüsten sie alle ihre kärgliche Habe, denn in den Zeitungen steht Gorkis lakonisches Telegramm: »Kehrt alle heim!« Nach allen Richtungen senden sie Briefe und Telegramme: heimkehren, heimkehren! Sich sammeln! Sich vereinigen! Nun nochmals das Leben einsetzen für das Werk, dem sie seit der ersten wachen Stunde ihr Leben gewidmet: für die russische Revolution.

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.