Erste Szene
Ende Oktober 1910 in Jasnaja Poljana
Das Arbeitszimmer Tolstojs, einfach und schmucklos, genau nach dem bekannten Bild.
Der Sekretär führt zwei Studenten herein. Sie sind nach russischer Art in hochgeschlossene, schwarze Blusen gekleidet, beide jung, mit scharfen Gesichtern. Sie bewegen sich vollkommen sicher, eher anmaßend als scheu.
Der Sekretär: Nehmen Sie inzwischen Platz, Leo Tolstoj wird Sie nicht lange warten lassen. Nur möchte ich Sie bitten, bedenken Sie sein Alter! Leo Tolstoj liebt dermaßen die Diskussion, daß er oft seine Ermüdbarkeit vergißt.
Erster Student: Wir haben Leo Tolstoj wenig zu fragen – eine einzige Frage nur, freilich eine entscheidende für uns und für ihn. Ich verspreche Ihnen, knapp zu bleiben – vorausgesetzt, daß wir frei sprechen dürfen.
Der Sekretär: Vollkommen. Je weniger Formen, um so besser. Und vor allem, sagen Sie ihm nicht Durchlaucht – er mag das nicht.
Zweiter Student (lachend): Das ist von uns nicht zu befürchten, alles, nur das nicht.
Der Sekretär: Da kommt er schon die Treppe herauf.
(Tolstoj tritt ein, mit raschen, gleichsam wehenden Schritten, trotz seines Alters beweglich und nervös. Während er spricht, dreht er oft einen Bleistift in der Hand oder krümelt ein Papierblatt, aus Ungeduld, schon selber das Wort zu ergreifen. Er geht rasch auf die beiden zu, reicht ihnen die Hand, sieht jeden von ihnen einen Augenblick scharf und durchdringend an, dann läßt er sich auf dem Wachslederfauteuil ihnen gegenüber nieder.)
Tolstoj: Sie sind die beiden, nicht wahr, die mir das Komitee schickte… (Er sucht in einem Briefe.) Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Namen vergessen habe…
Erster Student: Unsere Namen bitten wir Sie als gleichgültig zu betrachten. Wir kommen zu Ihnen nur als zwei von Hunderttausenden.
Tolstoj (ihn scharf ansehend): Haben Sie irgendwelche Fragen an mich?
Erster Student: Eine Frage.
Tolstoj (zum zweiten): Und Sie?
Zweiter Student: Dieselbe. Wir haben alle nur eine Frage an Sie, Leo Nikolajewitsch Tolstoj, wir alle, die ganze revolutionäre Jugend Rußlands – und es gibt keine andere: Warum sind Sie nicht mit uns?
Tolstoj (sehr ruhig): Ich habe das, wie ich hoffe, deutlich ausgesprochen in meinen Büchern und außerdem in einigen Briefen, die inzwischen zugänglich gemacht worden sind. – Ich weiß nicht, ob Sie persönlich meine Bücher gelesen haben?
Erster Student (erregt): Ob wir Ihre Bücher gelesen haben, Leo Tolstoj? Es ist sonderbar, was Sie uns da fragen. Gelesen – das wäre zu wenig. Gelebt haben wir von Ihren Büchern seit unserer Kindheit, und als wir junge Menschen wurden, da haben Sie uns das Herz im Leibe erweckt. Wer anders, wenn nicht Sie, hat uns die Ungerechtigkeit der Verteilung aller menschlichen Güter sehen gelehrt – Ihre Bücher, nur sie haben unsere Herzen von einem Staat, einer Kirche und einem Herrscher losgerissen, der das Unrecht an den Menschen beschützt, statt die Menschheit. Sie und nur Sie haben uns bestimmt, unser ganzes Leben einzusetzen, bis diese falsche Ordnung endgültig zerstört ist…
Tolstoj (will unterbrechen und sagt): Aber nicht durch Gewalt…
Erster Student (hemmungslos ihn übersprechend): Seit wir unsere Sprache sprechen, ist niemand gewesen, dem wir so vertraut haben wie Ihnen. Wenn wir uns fragten, wer wird dieses Unrecht beseitigen, so sagten wir uns: Er! Wenn wir fragten, wer wird einmal aufstehen und diese Niedertracht stürzen, so sagten wir: Er wird es tun, Leo Tolstoj. Wir waren Ihre Schüler, Ihre Diener, Ihre Knechte, ich glaube, ich wäre damals gestorben für einen Wink Ihrer Hand, und hätte ich vor ein paar Jahren in dieses Haus treten dürfen, ich hatte mich noch geneigt vor Ihnen wie vor einem Heiligen. Das waren Sie für uns, Leo Tolstoj, für Hunderttausende von uns, für die ganze russische Jugend bis vor wenigen Jahren – und ich beklage es, wir beklagen es alle, daß Sie uns seitdem ferne und beinahe unser Gegner geworden sind.
Tolstoj (weicher): Und was meinen Sie, müßte ich tun, um euch verbunden zu bleiben?
Erster Student: Ich habe nicht die Vermessenheit, Sie belehren zu wollen. Sie wissen selbst, was Sie uns, der ganzen russischen Jugend entfremdet hat.
Zweiter Student: Nun, warum es nicht aussprechen, zu wichtig ist unsere Sache für Höflichkeiten: Sie müssen endlich einmal die Augen öffnen und nicht länger lau bleiben angesichts der ungeheuren Verbrechen der Regierung an unserm Volke. Sie müssen endlich aufstehen von Ihrem Schreibtisch und offen, klar und rückhaltlos an die Seite der Revolution treten. Sie wissen, Leo Tolstoj, mit welcher Grausamkeit man unsere Bewegung niedergeschlagen hat, mehr Menschen modern jetzt in den Gefängnissen als Blätter in Ihrem Garten. Und Sie, Sie sehen das alles mit an, schreiben vielleicht, so sagt man, ab und zu in einer englischen Zeitung irgendeinen Artikel über die Heiligkeit des menschlichen Lebens. Aber Sie wissen selbst, daß gegen diesen blutigen Terror heute Worte nicht mehr helfen, Sie wissen so gut wie wir, daß jetzt einzig ein vollkommener Umsturz, eine Revolution not tut, und Ihr Wort allein kann ihr eine Armee erschaffen. Sie haben uns zu Revolutionären gemacht, und jetzt, da ihre Stunde reif ist, wenden Sie sich vorsichtig ab und billigen damit die Gewalt!
Tolstoj: Niemals habe ich die Gewalt gebilligt, niemals! Seit dreißig Jahren habe ich meine Arbeit gelassen, einzig um die Verbrechen aller Machthaber zu bekämpfen. Seit dreißig Jahren – ihr wart noch nicht geboren – fordere ich, radikaler als ihr, nicht nur die Verbesserung, sondern die vollkommene Neuordnung der sozialen Verhältnisse.
Zweiter Student (unterbrechend): Nun, und? Was hat man Ihnen bewilligt, was hat man uns gegeben seit dreißig Jahren? Die Knute den Duchoborzen, die Ihre Botschaft erfüllten, und sechs Kugeln in die Brust. Was ist besser geworden in Rußland durch Ihr sanftmütiges Drängen, durch Ihre Bücher und Broschüren? Sehen Sie nicht endlich ein, daß Sie jenen Unterdrückern noch helfen, indem Sie das Volk langmütig und dulderisch machen und vertrösten auf das tausendjährige Reich? Nein, Leo Tolstoj, es hilft nichts, dieses übermütige Geschlecht im Namen der Liebe anzurufen, und wenn Sie mit Engelszungen redeten! Diese Zarenknechte werden um Ihres Christus willen keinen Rubel aus ihrer Tasche holen, nicht einen Zoll werden sie nachgeben, ehe wir ihnen nicht mit der Faust an die Kehle fahren. Genug lang hat das Volk gewartet auf Ihre Bruderliebe, jetzt warten wir nicht länger, jetzt schlägt die Stunde der Tat.
Tolstoj (ziemlich heftig): Ich weiß, sogar eine »heilige Tat« nennt ihr es in euren Proklamationen, eine heilige Tat, »den Haß hervorzurufen«. Aber ich kenne keinen Haß, ich will ihn nicht kennen, auch gegen jene nicht, die sich an unserem Volke versündigen. Denn der das Böse tut, ist unglücklicher in seiner Seele als der, der das Böse erleidet – ich bemitleide ihn, aber ich hasse ihn nicht.
Erster Student (zornig): Ich aber hasse sie alle, die Unrecht tun an der Menschheit – schonungslos wie blutige Bestien hasse ich jeden von ihnen! Nein, Leo Tolstoj, nie werden Sie mich ein Mitleid lehren mit diesen Verbrechern.
Tolstoj: Auch der Verbrecher ist noch mein Bruder.
Erster Student: Und wäre er mein Bruder und meiner Mutter Kind und brächte Leiden über die Menschheit, ich würde ihn niederschlagen wie einen tollen Hund. Nein, kein Mitleid mehr mit den Mitleidslosen! Es wird nicht eher Ruhe auf dieser russischen Erde sein, als bis die Leichen der Zaren und Barone unter ihr liegen; es wird keine menschliche und sittliche Ordnung geben, ehe wir sie nicht erzwingen.
Tolstoj: Keine sittliche Ordnung kann durch Gewalt erzwungen werden, denn jede Gewalt zeugt unvermeidlich wieder Gewalt. Sobald ihr zur Waffe greift, schafft ihr neuen Despotismus. Statt zu zerstören, verewigt ihr ihn.
Erster Student: Aber es gibt kein Mittel gegen die Mächtigen als Zerstörung der Macht.
Tolstoj: Zugegeben; aber niemals darf man ein Mittel anwenden, das man selber mißbilligt. Die wahre Stärke, glauben Sie mir, erwidert Gewalt nicht durch Gewalt, sie macht ohnmächtig durch Nachgiebigkeit. Es steht im Evangelium geschrieben…
Zweiter Student (unterbrechend): Ach, lassen Sie das Evangelium. Die Popen haben längst einen Branntwein daraus gemacht, um das Volk zu verdumpfen. Das galt vor zweitausend Jahren und hat schon damals keinem geholfen, sonst wäre die Welt nicht so randvoll von Elend und Blut. Nein, Leo Tolstoj, mit Bibelsprüchen läßt sich heute die Kluft zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, zwischen Herren und Knechten nicht mehr verkleistern: es liegt zuviel Elend zwischen diesen beiden Ufern. Hunderte, nein Tausende gläubiger, hilfreicher Menschen schmachten heute in Sibirien und in den Kerkern, morgen werden es Tausende, Zehntausende sein. Und ich frage Sie, sollen wirklich alle diese Millionen Unschuldiger weiter leiden um einer Handvoll Schuldiger willen?
Tolstoj (sich zusammenfassend): Besser, sie leiden, als daß nochmals Blut vergossen werde; gerade das unschuldige Leiden ist hilfreich und gut wider das Unrecht.
Zweiter Student (wild): Gut nennen Sie das Leiden, das unendliche, jahrtausendalte des russischen Volkes? Nun: so gehen Sie in die Gefängnisse, Leo Tolstoj, und fragen Sie die Geknuteten, fragen Sie die Hungernden unserer Städte und Dörfer, ob es wirklich so gut ist, das Leiden.
Tolstoj (zornig): Besser gewiß als eure Gewalt. Glaubt ihr denn wirklich, mit euren Bomben und Revolvern das Böse endgültig aus der Welt zu schaffen? Nein, in euch selbst wirkt dann das Böse, und ich wiederhole euch, hundertmal besser ist es, für eine Überzeugung zu leiden, als für sie zu morden.
Erster Student (gleichfalls zornig): Nun, wenn es so gut ist und wohltätig, zu leiden, Leo Tolstoj, nun – warum leiden Sie dann nicht selbst? Warum rühmen Sie immer die Märtyrerschaft bei den andern und sitzen selbst warm im eigenen Haus und essen auf silbernem Geschirr, während Ihre Bauern – ich hab’ es gesehen – in Lappen gehen und halb verhungert in den Hütten frieren? Warum lassen Sie sich nicht selber knuten statt Ihrer Duchoborzen, die um Ihrer Lehre willen gepeinigt werden? Warum verlassen Sie nicht endlich dieses gräfliche Haus und gehen auf die Straße, selber in Wind und Frost und Regen die angeblich so köstliche Armut zu kennen? Warum reden Sie nur immer, statt selbst nach Ihrer Lehre zu handeln, warum geben Sie selbst nicht endlich ein Beispiel?
Tolstoj (er ist zurückgewichen. Der Sekretär springt vor gegen den Studenten und will ihn erbittert zurechtweisen, aber schon hat sich Tolstoj gefaßt und schiebt ihn sanft langsam beiseite): Lassen Sie doch! Die Frage, die dieser junge Mensch an mein Gewissen gerichtet hat, war gut… eine gute, eine ganz ausgezeichnete, eine wahrhaft notwendige Frage. Ich will mich bemühen, sie aufrichtig zu beantworten. (Er tritt einen kleinen Schritt näher, zögert, rafft sich zusammen, seine Stimme wird rauh und verhüllt.) Sie fragen mich, warum ich nicht das Leiden auf mich nehme, gemäß meiner Lehre und meinen Worten? Und ich antworte Ihnen darauf mit äußerster Scham: wenn ich bislang meiner heiligsten Pflicht mich entzogen habe, so war es… so war es… weil ich… zu feige, zu schwach oder zu unaufrichtig bin, ein niederer, nichtiger, sündiger Mensch…, weil mir Gott bis zum heutigen Tage noch nicht die Kraft verliehen hat, das Unaufschiebbare endlich zu tun. Furchtbar reden Sie, junger, fremder Mensch, in mein Gewissen. Ich weiß, nicht den tausendsten Teil dessen habe ich getan, was not tut, ich gestehe in Scham, daß es längst schon, längst meine Pflicht gewesen wäre, den Luxus dieses Hauses und die erbärmliche Art meines Lebens, das ich als Sünde empfinde, zu verlassen und, ganz wie Sie es sagen, als Pilger auf den Straßen zu gehen, und ich weiß keine Antwort, als daß ich mich schäme in tiefster Seele und mich beuge über meine eigene Erbärmlichkeit. (Die Studenten sind einen Schritt zurückgewichen und schweigen betroffen. Eine Pause. Dann fährt Tolstoj fort mit noch leiserer Stimme): Aber vielleicht… vielleicht leide ich dennoch… vielleicht leide ich eben daran, daß ich nicht stark und ehrlich genug sein kann, mein Wort vor den Menschen zu erfüllen. Vielleicht leide ich eben hier mehr an meinem Gewissen als an der furchtbarsten Folter des Leibes, vielleicht hat Gott gerade dieses Kreuz mir geschmiedet und dieses Haus mir qualvoller gemacht, als wenn ich im Gefängnis läge mit Ketten an den Füßen… Aber Sie haben recht, nutzlos bleibt dieses Leiden, weil ein Leiden nur für mich allein, und ich überhebe mich, wollte ich seiner mich noch rühmen.
Erster Student (etwas beschämt): Ich bitte Sie um Verzeihung, Leo Nikolajewitsch Tolstoj, wenn ich in meinem Eifer persönlich geworden bin…
Tolstoj: Nein, nein, im Gegenteil, ich danke Ihnen! Wer an unser Gewissen rüttelt, und sei es mit den Fäusten, hat wohl an uns getan. (Ein Schweigen. Tolstoj wieder mit ruhiger Stimme:) Haben Sie beide noch eine andere Frage an mich?
Erster Student: Nein, sie war unsere einzige Frage. Und ich glaube, es ist ein Unglück für Rußland und die ganze Menschheit, daß Sie uns Ihren Beistand verweigern. Denn niemand wird diesen Umsturz, diese Revolution mehr aufhalten, und ich fühle, furchtbar wird sie werden, furchtbarer als alle dieser Erde. Die bestimmt sind, sie zu führen, werden eherne Männer sein, Männer der rücksichtslosen Entschlossenheit, Männer ohne Milde. Wären Sie an unsere Spitze getreten, so hätte Ihr Beispiel Millionen gewonnen, und es müßten weniger Opfer sein.
Tolstoj: Und wäre es ein einziges Leben nur, dessen Tod ich verschuldete, ich könnte es nicht verantworten vor meinem Gewissen.
(Die Hausglocke gongt vom untern Stockwerk.)
Der Sekretär (zu Tolstoj, um das Gespräch abzubrechen): Es läutet zu Mittag.
Tolstoj (bitter): Ja, essen, schwätzen, essen, schlafen, ausruhen, schwätzen – so leben wir unser müßiges Leben, und die andern arbeiten indes und dienen damit Gott. (Er wendet sich den jungen Leuten wieder zu.)
Zweiter Student: Wir bringen also unsern Freunden nichts als Ihre Absage zurück? Geben Sie uns kein Wort der Ermutigung?
Tolstoj (sieht ihn scharf an, überlegt): Sagt euren Freunden folgendes in meinem Namen: ich liebe und achte euch, russische junge Menschen, weil ihr so stark das Leiden eurer Brüder mitfühlt und euer Leben einsetzen wollt, um das ihre zu verbessern. (Seine Stimme wird hart, stark und schroff.) Aber weiter vermag ich euch nicht zu folgen, und ich weigere mich, mit euch zu sein, sobald ihr die menschliche und brüderliche Liebe zu allen Menschen verleugnet.
(Die Studenten schweigen. Dann tritt der zweite Student entschlossen vor und sagt hart:)
Zweiter Student: Wir danken Ihnen, daß Sie uns empfangen haben, und danken Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit. Ich werde wohl nie mehr Ihnen gegenüberstehen – so erlauben Sie auch mir unbekanntem Nichts zum Abschied ein offenes Wort. Ich sage Ihnen, Leo Tolstoj, Sie irren, wenn Sie meinen, daß die menschlichen Beziehungen allein durch die Liebe verbessert werden können: das mag gelten für die Reichen und für die Sorglosen. Aber jene, die von Kindheit auf hungern und ein ganzes Leben schon unter der Herrschaft ihrer Herren schmachten, die sind müde, länger auf die Niederfahrt dieser brüderlichen Liebe vom christlichen Himmel zu warten, sie werden lieber ihren Fäusten vertrauen. Und so sage ich Ihnen am Vorabend Ihres Todes, Leo Nikolajewitsch Tolstoj: die Welt wird noch im Blute ersticken, man wird nicht nur die Herren, sondern auch ihre Kinder erschlagen und in Stücke reißen, damit die Erde auch von jenen nichts Schlimmes mehr zu gewärtigen habe. Möge es Ihnen erspart sein, dann noch Augenzeuge Ihres Irrtums zu werden – dies wünsche ich Ihnen von Herzen! Gott schenke Ihnen einen friedlichen Tod!
(Tolstoj ist zurückgewichen, sehr erschreckt von der Vehemenz des glühenden jungen Menschen. Dann faßt er sich, tritt auf ihn zu und sagt ganz schlicht:)
Tolstoj: Ich danke Ihnen insbesondere für Ihre letzten Worte. Sie haben mir gewünscht, was ich seit dreißig Jahren ersehne – einen Tod in Frieden mit Gott und allen Menschen. (Die beiden verbeugen sich und gehen; Tolstoj sieht ihnen längere Zeit nach, dann beginnt er erregt auf und ab zu gehen und sagt begeistert zum Sekretär:) Was das doch für wunderbare Jungen sind, wie kühn, stolz und stark, diese jungen russischen Menschen! Herrlich, herrlich diese gläubige, glühende Jugend! So habe ich sie vor Sebastopol gekannt, vor sechzig Jahren; mit ganz demselben freien und frechen Blick gingen sie gegen den Tod, gegen jede Gefahr – trotzig, bereit, mit einem Lächeln zu sterben für ein Nichts, ihr Leben, das wunderbare junge Leben hinzuwerfen für eine hohle Nuß, für Worte ohne Inhalt, für eine Idee ohne Wahrheit, nur aus Freude an der Hingebung. Wunderbar, diese ewige russische Jugend! Und dient mit all dieser Glut und Kraft dem Haß und dem Mord wie einer heiligen Sache! Und doch, sie haben mir wohlgetan! Aufgerüttelt haben sie mich, diese beiden, denn wirklich, sie haben recht, es tut not, daß ich endlich mich aufraffe aus meiner Schwäche und eintrete für mein Wort! Zwei Schritte vom Tod und immer zögere ich noch! Wirklich, das Richtige kann man nur von der Jugend lernen, nur von der Jugend!
(Die Tür wird aufgerissen, die Gräfin bricht wie eine scharfe Zugluft ein, nervös, irritiert. Ihre Bewegungen sind unsicher, immer irren ihre Augen fahrig von einem zum andern Gegenstand. Man spürt, daß sie an anderes denkt, während sie spricht und verzehrt ist von einer inneren, aufgerüttelten Unruhe. Sie sieht geflissentlich an dem Sekretär vorbei, als wäre er Luft, und spricht nur zu ihrem Mann. Hinter ihr ist rasch Sascha, ihre Tochter, eingetreten; man hat den Eindruck, als wäre sie der Mutter gefolgt, um sie zu überwachen.)
Gräfin: Es hat schon zum Mittagessen geläutet, und seit einer halben Stunde wartet unten der Redakteur vom »Daily Telegraph« wegen deines Artikels gegen die Todesstrafe, und du läßt ihn stehen wegen solcher Burschen. So ein manierloses, freches Volk! Unten, als der Diener sie fragte, ob sie beim Grafen angemeldet seien, antwortete der eine: Nein, wir sind bei keinem Grafen gemeldet, Leo Tolstoj hat uns bestellt. Und du läßt dich ein mit solchen naseweisen Laffen, die am liebsten die Welt so wirr haben möchten wie ihre eigenen Köpfe! (Sie sieht unruhig im Zimmer herum.) Wie hier alles herumliegt, die Bücher auf der Erde, alles durcheinander und voller Staub, wirklich, es ist schon eine Schande, wenn jemand Besserer kommt. (Sie geht auf den Lehnstuhl zu, faßt ihn an.) Ganz zerfetzt schon das Wachstuch, man muß sich schämen, nein, es ist nicht mehr zum Ansehen. Glücklicherweise daß morgen der Tapezierer aus Tula ins Haus kommt, der muß gleich den Fauteuil ausbessern. (Niemand antwortet ihr. Sie sieht unruhig hin und her.) Also bitte, komm jetzt! Man kann ihn doch nicht länger warten lassen.
Tolstoj (plötzlich sehr blaß und unruhig): Gleich komme ich, ich habe hier nur noch… etwas zu ordnen… Sascha wird mir helfen dabei… Leiste du inzwischen dem Herrn Gesellschaft und entschuldige mich, ich komme sofort. (Die Gräfin geht, nachdem sie noch einen flackernden Blick über das ganze Zimmer geworfen hat. Tolstoj wirft sich, kaum daß sie aus dem Zimmer getreten ist, gegen die Tür und dreht rasch den Schlüssel um.)
Sascha (über seine Heftigkeit erschreckt): Was hast du?
Tolstoj (in höchster Aufregung, die Hand aufs Herz gepreßt, stammelnd): Der Tapezierer morgen… Gott sei Dank… da ist es noch Zeit… Gott sei Dank.
Sascha: Aber was ist denn…
Tolstoj (erregt): Ein Messer, rasch ein Messer oder eine Schere… (Der Sekretär hat ihm mit befremdetem Blick vom Schreibtisch eine Papierschere herübergereicht. Tolstoj beginnt mit nervöser Hast, manchmal ängstlich zur verschlossenen Tür aufschauend, die Rißstelle in dem zerschlissenen Fauteuil mit der Schere zu erweitern, dann tastet er mit den Händen unruhig in das vorquellende Roßhaar, bis er endlich einen versiegelten Brief herausholt.) Da – nicht wahr?… es ist lächerlich… lächerlich und unwahrscheinlich, wie in einem miserablen französischen Kolportageroman… eine Schmach ohne Ende… So muß ich, ein Mann mit klaren Sinnen, in meinem eigenen Haus und dreiundachtzigsten Jahr meine wichtigsten Papiere verstecken, weil mir alles durchwühlt wird, weil man hinter mir her ist, hinter jedem Wort und Geheimnis! Ah, welche Schande, welche Hölle mein Leben hier in diesem Haus, welche Lüge! (Er wird ruhiger, öffnet den Brief und liest ihn; zu Sascha:) Vor dreizehn Jahren habe ich diesen Brief geschrieben, damals, als ich weg sollte von deiner Mutter und aus diesem Höllenhaus. Es war der Abschied an sie, ein Abschied, zu dem ich dann den Mut nicht fand. (Er knistert den Brief in den zitternden Händen und liest halblaut für sich:) »… Es ist mir jedoch nicht länger möglich, dieses Leben, das ich seit sechzehn Jahren führe, fortzusetzen, ein Leben, in dem ich einerseits gegen euch kämpfe und euch aufreizen muß. So beschließe ich, zu tun, was ich längst hätte tun sollen, nämlich zu fliehen… Wenn ich dies offen täte, so gäbe es Bitterkeit. Ich würde vielleicht schwach werden und meinen Entschluß nicht ausführen, während er doch ausgeführt werden muß. Verzeiht mir also, ich bitte euch darum, wenn mein Schritt euch Schmerz bereitet, und vor allem Du, Sonja, entlasse mich gutwillig aus Deinem Herzen, suche mich nicht, beklage Dich nicht über mich, verurteile mich nicht.« (Schwer aufatmend:) Ah, dreizehn Jahre ist das her, dreizehn Jahre habe ich mich seitdem weitergequält, und jedes Wort ist noch wahr wie einst und mein Leben von heute genau so feig und schwach. Noch immer, noch immer bin ich nicht geflohen, noch immer warte und warte ich und weiß nicht auf was. Immer habe ich alles klar gewußt und immer falsch gehandelt. Immer war ich zu schwach, immer ohne Willen gegen sie! Den Brief habe ich hier versteckt wie ein Schuljunge ein schmutziges Buch vor dem Lehrer. Und das Testament, in dem ich sie damals bat, das Eigentum an meinen Werken der ganzen Menschheit zu schenken, ihr in die Hand geliefert, nur um Frieden zu haben im Hause, statt Frieden mit meinem Gewissen.
(Pause.)
Der Sekretär: Und glauben Sie, Leo Nikolajewitsch Tolstoj – Sie erlauben mir doch die Frage, da sich so unvermutet der Anlaß ergibt… glauben Sie…, daß, wenn… wenn Gott Sie abberufen sollte…, daß… daß dann dieser Ihr letzter, dringlichster Wunsch auf das Eigentum an Ihren Werken zu verzichten, auch wirklich erfüllt wird?
Tolstoj (erschrocken): Selbstverständlich… das heißt… (Unruhig:) Nein, ich weiß doch nicht… Was meinst du, Sascha?
Sascha (wendet sich ab und schweigt).
Tolstoj: Mein Gott, daran habe ich nicht gedacht. Oder nein: schon wieder, schon wieder bin ich nicht ganz wahrhaftig: – nein, ich habe nur nicht daran denken wollen, ich bin wieder ausgewichen, wie ich immer jeder klaren und geraden Entscheidung ausweiche. (Er sieht den Sekretär scharf an.) Nein, ich weiß, ich weiß bestimmt, meine Frau und die Söhne, sie werden meinen letzten Willen so wenig achten, als sie heute meinen Glauben achten und meine Seelenpflicht. Sie werden mit meinen Werken Schacher treiben, und noch nach meinem Tode werde ich als ein Lügner an meinem Worte vor den Menschen stehen. (Er macht eine entschlossene Bewegung.) Aber das soll, das darf nicht sein! Endlich einmal Klarheit! Wie sagte dieser Student heute, dieser wahre, aufrichtige Mensch? Eine Tat verlangt die Welt von mir, endlich Ehrlichkeit, eine klare, reine und eindeutige Entscheidung – das war ein Zeichen! Mit dreiundachtzig Jahren darf man nicht länger die Augen schließen vor dem Tod, man muß ihm ins Antlitz sehen und bündig seine Entscheidungen treffen. Ja, gut gemahnt haben mich diese fremden Menschen: alles Nichttun versteckt immer nur eine Feigheit der Seele. Klar muß man sein und wahr, und ich will es endlich werden, jetzt in meiner zwölften Stunde, im dreiundachtzigsten Jahr. (Er wendet sich zum Sekretär und seiner Tochter.) Sascha und Wladimir Georgewitsch, morgen mache ich mein Testament, klar, ehern, bindend und unanfechtbar, in dem ich den Ertrag aller meiner Schriften, das ganze schmutzige Geld, das an ihm wuchert, an alle, an die ganze Menschheit schenke – es darf kein Handel getrieben werden mit dem Wort, das ich um aller Menschen und aus der Not meines Gewissens gesagt und geschrieben habe. Kommen Sie morgen vormittags, bringen Sie einen zweiten Zeugen mit – ich darf nicht länger zögern, vielleicht hält sonst der Tod mir die Hand auf.
Sascha: Einen Augenblick noch, Vater – nicht daß ich dir abreden wollte, aber ich fürchte Schwierigkeiten, wenn die Mutter uns zu viert hier sieht. Sie wird sofort Verdacht schöpfen und deinen Willen im letzten Augenblick vielleicht noch erschüttern.
Tolstoj (nachdenkend): Du hast recht! Nein, hier in diesem Haus kann ich nichts Reines, nichts Rechtes vollbringen: hier wird das ganze Leben zur Lüge. (Zum Sekretär:) Richten Sie es so ein, daß ihr mir morgen um 11 Uhr vormittags im Walde von Grumont, beim großen Baume links, hinter dem Roggenfeld, begegnet. Ich werde tun, als ob ich meinen gewohnten Spazierritt machte. Bereitet alles vor, und dort wird mir, so hoffe ich, Gott Festigkeit geben, endlich mich von der letzten Fessel zu lösen.
(Die Mittagsglocke läutet heftiger zum zweitenmal.)
Der Sekretär: Aber lassen Sie jetzt nur nichts vor der Gräfin merken, sonst ist alles verloren.
Tolstoj (schwer atmend): Entsetzlich, immer wieder sich verstellen müssen, immer wieder sich verstecken. Vor der Welt will man wahr sein, vor Gott will man wahr sein, vor sich selbst will man wahr sein und darf es nicht vor seiner Frau und seinen Kindern! Nein, so kann man nicht leben, so kann man nicht leben!
Sascha (erschreckt): Die Mutter!
(Der Sekretär dreht rasch den Schlüssel an der Tür auf, Tolstoi geht, um seine Erregung zu verbergen, zum Schreibtisch und bleibt mit dem Rücken gegen die Eintretende gewandt.)
Tolstoj (stöhnend): Das Lügen in diesem Haus vergiftet mich – ach, wenn man nur einmal ganz wahr sein könnte, wahr wenigstens vor dem Tod!
Die Gräfin (tritt hastig herein): Warum kommt ihr denn nicht? Immer brauchst du so lange.
Tolstoj (sich ihr zuwendend, sein Gesichtsausdruck ist bereits vollkommen ruhig, und er sagt langsam, mit nur den andern verständlicher Betonung): Ja, du hast recht, ich brauche immer und zu allem lange. Aber wichtig ist doch nur das eine: daß dem Menschen Zeit bleibt, rechtzeitig das Rechte zu tun.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.