Kapitel 10


Condor unterbrach. »So! Was ich Ihnen bisher berichtete, weiß ich nur aus zweiter Hand. Diese letzte Geschichte aber weiß ich von ihm selbst. Er hat sie mir in der Nacht erzählt, als wir nach der Operation seiner Frau in einem Zimmer des Sanatoriums von zehn Uhr abends bis ins Morgengrauen warteten. Von hier an kann ich mich für jedes Wort verbürgen, denn in solchen Augenblicken lügt man nicht.«


Condor nahm langsam und nachdenklich einen kleinen Schluck, ehe er sich eine neue Zigarre anzündete; ich glaube, es war schon die vierte an diesem Abend, und dieses unaufhörliche Rauchen fiel mir auf. Ich begann zu begreifen, daß die betont behäbig-joviale Art, mit der er als Arzt auftrat, daß sein langsames Sprechen und seine scheinbare Lässigkeit eine besondere Technik waren, um inzwischen ruhiger zu überlegen (und vielleicht zu beobachten). Dreimal, viermal zog seine dicke, fast schläfrige Lippe an der Zigarre, während er dem Rauch mit einer beinahe träumerischen Teilnahme nachblickte. Dann gab er sich plötzlich einen scharfen Ruck.


»Diese Geschichte, wie Leopold oder Lämmel Kanitz der Besitzer und Herr von Kekesfalva wurde, beginnt in einem Personenzug von Budapest nach Wien. Obwohl schon zweiundvierzig Jahre alt und angegrauten Haars, verbrachte unser Freund in jenen Jahren die Nächte noch immer zumeist auf Reisen – Geizige sparen auch mit der Zeit –, und ich muß nicht betonen, daß er ausnahmslos dritter Klasse fuhr. Als alter Praktiker hatte er sich längst eine gewisse Technik für Nachtreisen zurechtgelegt. Zuerst breitete er einen schottischen Plaid, den er einmal billig bei einer Auktion erworben, auf der harten hölzernen Sitzbank aus. Dann hängte er seinen unvermeidlichen schwarzen Rock sorgfältig an den Haken, um ihn zu schonen, verstaute seine goldene Brille im Etui, nahm aus der leinernen Reisetasche – er brachte es nie bis zu einem Lederkoffer – einen flauschigen alten Hausrock, woraufhin er schließlich die Mütze tief über das Gesicht stülpte, damit ihm das Licht nicht in die Augen falle. So drückte er sich in die Coupéecke, längst gewohnt, auch im Sitzen zu schlummern; daß man kein Bett braucht für die Nacht und keine Bequemlichkeit für den Schlaf, hatte der kleine Lämmel schon als Kind gelernt.


Diesmal aber schlief unser Freund nicht ein, denn noch drei andere Leute saßen im Abteil und erzählten von Geschäften. Und wenn Menschen von Geschäften erzählten, konnte Kanitz nicht weghören. Seine Lerngier hatte mit den Jahren ebensowenig nachgelassen wie seine Habgier; wie die zwei Beißer einer Zange waren sie mit eiserner Schraube verbunden.


Eigentlich war er schon ganz nah daran gewesen, einzudämmern, aber das Stichwort, das ihn aufschreckte wie ein Pferd, wenn es die Trompete hört, war eine Zahl: ›Denken Sie, eigentlich nur durch eine faustdicke Dummheit hat dieser Glückspilz sechzigtausend Kronen auf einen Hieb verdient.‹


Was sechzigtausend? Wer sechzigtausend? – Sofort war Kanitz ganz wach, als hätte ihm ein eiskalter Guß den Schlaf von den Augen geschreckt. Wer hat sechzigtausend verdient und wie – das mußte er doch herausbekommen. Selbstverständlich hütete er sich wohl, den drei Mitreisenden sein Zulauschen zu verraten. Im Gegenteil: er zog die Kappe noch etwas tiefer in die Stirn, damit der Schatten seine Augen gänzlich verdeckte und die andern glauben sollten, er schliefe; zugleich rückte er, behutsam jeden Stoß des Wagens listig nutzend, näher heran, um trotz des Räderratterns kein Wort zu verlieren.


Der junge Mensch, der so heftig erzählte und jenen Trompetenstoß der Entrüstung ausgestoßen, dank dessen Kanitz munter geworden war, stellte sich als der Schreiber eines Wiener Anwalts heraus, und sein Ärger über den riesigen Schnapp seines Chefs ließ ihn ganz aufgeregt perorieren:


›Und dabei hat der Kerl die Sache von Grund aus verpatzt und verludert! Wegen einer ganz dummen Tagsatzung, die ihm vielleicht fünfzig Kronen eingetragen hat, ist er einen Tag später nach Budapest gekommen, und inzwischen hat sich die dumme Kuh bis über die Ohren einseifen lassen. Alles hat wunderbar geklappt – einwandfrei das Testament, die besten Schweizer Zeugen, zwei unantastbare ärztliche Gutachten, daß die Orosvár bei der Testamentsabfassung im vollen Besitz ihrer Geisteskräfte gewesen ist. Nie hätte die Schwefelbande von Großneffen und angeheirateten Pseudoverwandten nur einen kupfernen Heller bekommen trotz der Skandalartikel, die ihr Advokat in die Nachmittagsblätter schob, und so todsicher war mein Ochs von Chef, daß er, weil doch erst Freitag die Verhandlung sein sollte, seelenruhig noch einmal nach Wien zu einer blöden Tagsatzung fährt. Inzwischen schiebt sich dieser schlaue Lump, dieser Wiezner, an sie heran, macht, er, der Advokat der Gegenseite, ihr einen Freundschaftsbesuch, und die einfältige Kuh kriegt es mit den Nerven – Ich möchte doch gar nicht so schrecklich viel Geld, ich möchte doch nur meinen Frieden – parodierte er, irgend eine nordische Mundart nachahmend. – Ja, ihren Frieden, den hat sie jetzt, und die andern völlig unnötigerweise drei Viertel ihrer Erbschaft! Ohne abzuwarten, bis mein Chef kommt, unterschreibt dieses Trottelweib einen Ausgleich, den blödesten, den dümmsten Ausgleich seit Joriget; der eine Federstrich hat sie gut eine halbe Million gekostet.‹«


»Und nun passen Sie auf, Herr Leutnant«, wandte sich Condor mir zu. »Während dieser ganzen Philippika saß unser Freund Kanitz wie ein eingerollter Igel stumm in der Ecke, die Kappe bis knapp an die Augenbrauen gezogen, und paßte wie ein Haftelmacher auf jedes Wort. Er verstand sofort, um was es ging, denn der Prozeß Orosvár – ich setze hier einen falschen Namen ein, weil der wirkliche zu geläufig ist – bildete damals die Headline aller ungarischer Zeitungen und war tatsächlich eine tolle Affäre; ich berichte sie nur kurz.


Die alte Fürstin Orosvár, schwerreich schon irgendwo aus der Ukraine gekommen, hatte ihren Mann um gute fünfunddreißig Jahre überlebt. Zäh wie Leder und böse wie ein Wiedehopf, seit ihr die einzigen zwei Kinder in derselben Nacht an Diphtherie gestorben waren, haßte sie von ganzem Herzen alle andern Orosvárs, weil sie ihre armen Dinger überlebten; es scheint mir wirklich glaubhaft, daß sie nur aus Bosheit und aus Dépit, ihre ungeduldigen Neffen und Großnichten nicht erben zu lassen, vierundachtzig Jahre alt geworden ist. Wenn sich einer von der erblüsternen Verwandtschaft bei ihr meldete, empfing sie ihn nicht, selbst der liebenswürdigste Brief von der Familie flog unbeantwortet unter den Tisch. Misanthropisch und schrullig seit dem Tod ihrer Kinder, ihres Mannes, lebte sie immer nur zwei oder drei Monate im Jahr in Kekesfalva, und kein Mensch kam ins Haus; die übrige Zeit kutschierte sie in der Welt herum, residierte herrschaftlich in Nizza und Montreux, zog sich an, zog sich aus, ließ sich frisieren, maniküren und schminken, las französische Romane, kaufte viele Kleider, ging von Laden zu Laden, handelte und schimpfte wie ein russisches Marktweib. Selbstverständlich hatte die einzige Person, die sie um sich duldete, ihre Gesellschafterin, kein leichtes Leben. Die arme, stille Person mußte tagtäglich drei widerliche raunzige Pinscher füttern, bürsten und ausführen, der alten Närrin Klavier vorspielen, Bücher vorlesen und sich ohne jeden Grund auf das wüsteste beschimpfen lassen; wenn die alte Dame – sie hatte diese Gewohnheit aus der Ukraine mitgebracht – manchmal ein paar Gläser Kognak oder Wodka zuviel getrunken hatte, mußte sie sich nach sicherem Vernehmen sogar Prügel gefallen lassen. An all den Luxusplätzen, in Nizza und Cannes, in Aix les Bains und Montreux kannte man die alte, massige Frau mit dem lackierten Mopsgesicht und dem gefärbten Haar, die immer laut redend, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand zuhörte, mit den Kellnern randalierte wie ein Feldwebel und impertinent die Leute angrimassierte, die ihr nicht gefielen. Überall folgte ihr wie ein Schatten bei diesen schrecklichen Promenaden – sie mußte immer hinter ihr gehen mit den Hunden, nie neben ihr – die Gesellschafterin, eine dünne, blasse, blonde Person mit verschreckten Augen, die sich, man sah es, unablässig der rüden Art ihrer Herrin schämte und gleichzeitig sich vor ihr wie vor dem leibhaftigen Teufel fürchtete.


Nun bekam in ihrem achtundsiebzigsten Jahr, in eben demselben Hotel in Territtet, wo die Kaiserin Elisabeth immer wohnte, die Fürstin Orosvár eine ausgiebige Lungenentzündung. Auf welche Weise diese Nachricht bis nach Ungarn gedrungen war, bleibt schleierhaft. Aber ohne jede Verabredung untereinander sausten die Verwandten herbei, besetzten das Hotel, bestürmten den Arzt um Nachrichten und warteten; warteten auf ihren Tod.


Aber Bosheit konserviert. Der alte Dragoner erholte sich, und an dem Tag, da sie hörten, daß die Genesene zum ersten Mal in die Halle herunterkommen sollte, verzogen sich die ungeduldigen Verwandten. Nun hatte die Orosvár von dem allzu besorgten Eintreffen der Erben Wind bekommen; gehässig wie sie war, bestach sie zunächst einmal Kellner und Stubenmädchen, damit sie ihr jedes Wort, das ihre Verwandten gesprochen, hinterbrächten. Alles stimmte. Die voreiligen Erben hatten wie die Wölfe miteinander gestritten, wer Kekesfalva haben sollte und wer Orosvár und wer die Perlen und wer die ukrainischen Güter und wer das Palais in der Ofnerstraße. Das war der erste Schuß. Einen Monat später kam ein Brief von einem Eskompteur namens Dessauer aus Budapest, er könne seine Forderung an ihren Großneffen Deszö nicht länger prolongieren, außer wenn sie ihm schriftlich zusichere, daß er Miterbe sei. Das schlug dem Faß den Boden aus. Die Orosvár bestellte telegraphisch ihren eigenen Anwalt aus Budapest, verfaßte mit ihm ein neues Testament, und zwar – Bosheit macht hellsichtig – in Gegenwart zweier Ärzte, die ausdrücklich bescheinigten, daß die Fürstin im vollen Besitz ihrer Geisteskräfte sei. Dieses Testament nahm der Anwalt nach Budapest mit; sechs Jahre blieb es in seiner Kanzlei noch versiegelt liegen, denn die alte Orosvár beeilte sich keineswegs mit dem Sterben. Als es endlich eröffnet werden konnte, gab es große Überraschung. Zur Universalerbin war die Gesellschafterin eingesetzt, ein Fräulein Annette Beate Dietzenhof aus Westfalen, deren Name damit zum erstenmal sämtlichen Verwandten fürchterlich in die Ohren dröhnte. Ihr fiel Kekesfalva zu, Orosvár, die Zuckerfabrik, das Gestüt, das Budapester Palais; nur die ukrainischen Güter und ihr Bargeld hatte die alte Fürstin ihrer Heimatstadt in der Ukraine zum Bau einer russischen Kirche vermacht. Von den Verwandten bekam nicht ein einziger einen Knopf; niederträchtigerweise war diese Übergehung noch ausdrücklich im Testament festgelegt mit der Begründung: ›weil sie meinen Tod nicht erwarten konnten‹.


Das gab nun einen vollsaftigen Skandal. Die Verwandtschaft schrie Zeter und Mordio, stürzte zu den Advokaten, und die machten die üblichen Einwendungen. Die Erblasserin sei nicht klaren Geistes gewesen, denn sie habe das Testament während einer schweren Krankheit verfaßt, sie sei überdies in einem pathologischen Hörigkeitsverhältnis zu ihrer Gesellschafterin gestanden; es bestehe kein Zweifel, daß diese listigerweise durch Suggestion den wahren Willen der Kranken vergewaltigt habe. Gleichzeitig versuchten sie die Geschichte zu einer nationalen Angelegenheit aufzubauschen; ungarische Güter, seit den Zeiten Arpads im Besitz der Orosvár, sollten nun an Ausländer, an eine Preußin, und die andere Vermögenshälfte gar an die zyrillische Kirche fallen; ganz Budapest sprach von nichts anderem, die Zeitungen füllten damit ganze Spalten. Aber trotz all dem Getöse und Geschrei der Benachteiligten stand die Sache faul. In zwei Instanzen hatten die Erben bereits den Prozeß verloren; zu ihrem Pech lebten beide Ärzte in Territtet noch und bestätigten neuerdings die seinerzeitige Vollsinnigkeit der Fürstin. Auch die andern Zeugen mußten im Kreuzverhör zugeben, die alte Fürstin sei in den letzten Jahren zwar schrullig, aber doch vollkommen klaren Sinnes gewesen. Alle Advokatentricks, alle Einschüchterungen hatten versagt, hundert zu eins war zu erwarten, daß die königliche Kurie die bisherigen Entscheidungen zugunsten der Dietzenhof nicht umstoßen werde.


Kanitz hatte natürlich den Prozeßbericht selbst gelesen, aber er lauschte scharf auf jedes Wort, weil ihn fremde Geldgeschäfte als Lernobjekte leidenschaftlich interessierten; außerdem kannte er das Gut Kekesfalva aus seiner Agentenzeit.


›Du kannst dir denken‹, erzählte inzwischen der kleine Schreiber weiter, ›daß mein Chef in Saft kam, als er bei seiner Rückkehr sah, wie man die dumme Person übertölpelt hatte. Sie hatte bereits schriftlich auf Orosvár verzichtet, auf das Palais in der Ofnerstraße und sich mit dem Gut Kekesfalva und dem Gestüt abspeisen lassen. Besonderen Eindruck hatte ihr offenbar das Versprechen des gerissenen Hundes gemacht, sie würde weiterhin nichts mehr mit Gerichten zu tun haben, ja, die Erben würden sogar großmütig die Kosten ihres Anwalts auf sich nehmen. Nun wäre de jure dieser Ausgleich noch anzufechten gewesen, er war schließlich nicht vor dem Notar abgeschlossen, sondern nur vor Zeugen, und man hätte spottleicht die gierige Bande aushungern können, die keinen Heller mehr besaß, um eine Verschleppung durch neue Instanzen durchzustehen. Natürlich war es die verdammte Pflicht meines Chefs, denen heimzuleuchten und den Vergleich im Interesse der Erbin anzufechten. Aber die Bande wußte ihn richtig beim Schlafittchen zu packen – sie boten ihm hinterrücks sechzigtausend Kronen Anwaltshonorar, wenn er weiter nicht muh mache. Und da er ohnehin einen Zorn auf die dumme Person hatte, die sich eine schöne runde Million in einer halben Stunde abschwatzen ließ, erklärte er den Vergleich für gültig und scheffelte sein Geld ein – sechzigtausend Kronen, was sagst du, dafür, daß er durch sein blödes Nach-Wien-Fahren seiner Klientin die ganze Sache versaut hat! Ja, Glück muß man haben, den größten Lumpen schenkt’s der Herr im Schlaf! Jetzt hat sie von dem ganzen Millionenerbe nichts als Kekesfalva, und das wird sie auch bald verwursteln, wie ich sie kenne: so ein saudummes Kalb!‹


›Was wird sie denn damit anfangen?‹ fragte der andere.


›Verwursteln, sag ich dir! Sicher einen Unsinn! Ich hab übrigens was läuten gehört, daß die Leute vom Zuckerkartell ihr die Fabrik abknöpfen wollen. Übermorgen, glaub ich, kommt der Generaldirektor aus Budapest. Und das Gut will, glaube ich, ein gewisser Petrovic pachten, der dort Verwalter war, aber vielleicht übernehmen’s auch die vom Zuckerkartell in eigene Regie. Geld haben sie genug, es soll ja eine französische Bank – haben Sie’s nicht in der Zeitung gelesen? – da eine Fusionierung vorbereiten mit der böhmischen Industrie …‹


Damit begann das Gespräch ins Allgemeine abzuschwenken. Aber unser Kanitz hatte genug gehört, daß ihm die Ohren brannten. Wenige kannten Kekesfalva so gründlich wie er; schon vor zwanzig Jahren war er dort gewesen, um das Mobiliar zu versichern. Er kannte auch Petrovic, kannte ihn sogar sehr genau aus der Zeit seiner allerersten Geschäfte; jener bieder tuende Bursche hatte das dicke Geld, das er alljährlich bei der Gutsverwaltung in seine eigene Tasche steckte, durch seine Vermittlung immer bei Doktor Gollinger auf Hypotheken hinterlegt. Aber das wichtigste für Kanitz war: er erinnerte sich ganz genau an den Schrank mit dem chinesischen Porzellan und an gewisse glasierte Plastiken und seidene Stickereien, die vom Großvater der Orosvár stammten, der russischer Gesandter in Peking gewesen war; schon zu Lebzeiten der Fürstin hatte er, der allein ihren immensen Wert kannte, sie für Rosenfeld in Chikago zu kaufen gesucht. Es waren Stücke seltenster Art, vielleicht zwei- bis dreitausend Pfund wert; die alte Orosvár hatte natürlich keine Ahnung, was für Preise man seit ein paar Jahrzehnten drüben in Amerika für Ostasiatica zahlte, aber sie hatte Kanitz grob abfahren lassen, sie gebe überhaupt nichts her, er solle sich zum Teufel scheren. Wenn diese Stücke noch vorhanden waren – Kanitz zitterte bei dem Gedanken –, konnte man sie bei einer Besitzveränderung spottbillig herausholen. Am besten natürlich wäre, sich das Vorkaufsrecht für das ganze Inventar zu sichern.


Unser Kanitz tat, als ob er plötzlich erwachte – die drei Mitreisenden redeten längst von anderen Dingen –, er gähnte kunstvoll, streckte sich und zog die Uhr heraus: in einer halben Stunde mußte der Zug hier in Ihrer Garnisonsstation stoppen. Hastig faltete er den Hausrock zusammen, zog sich den unvermeidlichen Schwarzrock an und machte sich zurecht. Prompt zwei Uhr dreißig stieg er aus, fuhr in den Roten Löwen, ließ sich ein Zimmer anweisen, und ich muß nicht betonen, daß er, wie jeder Feldherr vor einer unsicheren Schlacht, sehr schlecht schlief. Um sieben Uhr – nur keinen Augenblick versäumen – stand er auf und stapfte durch die Allee, die wir eben gegangen sind, zu dem Schlosse. Zuvorkommen, nur den andern zuvorkommen, dachte er. Alles erledigen, ehe die Aasgeier aus Budapest anfliegen! Rasch den Petrovic breitschlagen, daß er einen sofort verständigt, falls es zu einem Verkauf des Mobiliars kommt. Notfalls die ganze Sache mit ihm zusammen steigern und bei der Teilung sich das Inventar sichern.


Das Schloß hatte seit dem Tode der Fürstin nicht mehr viel Hauspersonal; so konnte Kanitz sich gemächlich anschleichen und alles betrachten. Ein schöner Besitz, denkt er sich, eigentlich famos im Stand, die Jalousien frisch gestrichen, die Mauern schön gefärbelt, ein neuer Zaun – ja, ja, der Petrovic weiß, warum er so viel reparieren läßt, bei jeder Rechnung rutschen die Provisionen ihm dick in die Tasche. Aber wo steckt denn der Bursche? Das Hauptportal erweist sich als verschlossen, im Verwalterhof rührt sich niemand, so heftig man auch klopft – verdammt, wenn der Kerl am Ende selbst schon nach Budapest gefahren wäre, um dort mit dieser einfältigen Dietzenhof abzuschließen!


Ungeduldig streicht Kanitz von einer Tür zur andern herum, ruft, klatscht in die Hände – niemand, niemand! Endlich, durch die kleine Seitentür sich anpirschend, erblickt er im Glashaus eine Weibsperson. Durch die Scheiben sieht er nur, daß sie Blumen begießt – endlich irgend jemand also, der Auskunft geben kann. Kanitz klopft grob an die Scheibe. ›Hallo‹, ruft er hinein und patscht in die Hände, um sich bemerkbar zu machen. Das weibliche Wesen, das sich drinnen mit den Blumen beschäftigt, schrickt auf, und es dauert eine Weile, ehe sie schüchtern, als hätte sie etwas angestellt, sich bis an die Tür wagt; eine blonde, unjunge, schmale Frauensperson in einer einfachen dunklen Bluse mit vorgebundener Kattunschürze, steht sie jetzt zwischen den Pfosten, die Gartenschere noch halb offen in der Hand.


Etwas ungeduldig fährt Kanitz sie an: ›Sie lassen einen aber lang warten! Wo steckt denn der Petrovic?‹


›Wer bitte?‹ fragt das hagere Mädchen mit bestürztem Blick; unwillkürlich tritt sie einen Schritt zurück und versteckt die Gartenschere hinter dem Rücken.


›Wer?! Wieviel Petrovic gibt’s denn hier? Den Petrovic mein ich – den Verwalter!‹


›Ach Verzeihung … der … der Herr Verwalter … ja … ich habe ihn selbst noch nicht gesehen … er ist, glaube ich, nach Wien gefahren … Aber die Frau hat gesagt, sie hofft, er kommt noch vor Abend zurück.‹


Hofft, hofft, – denkt Kanitz ärgerlich. Bis abends warten. Noch eine Nacht im Hotel vertrödeln. Neue unnötige Spesen, und man weiß dabei gar nicht, was daraus wird.


›Dumm! Gerade heute muß der Kerl weg sein!‹ murrt er halblaut und wendet sich dann zu dem Mädchen. ›Kann man inzwischen das Schloß besichtigen? Hat jemand die Schlüssel?‹


›Die Schlüssel?‹ wiederholt sie betroffen.


›Ja, zum Teufel, die Schlüssel!‹ (Was wiegt sie sich so einfältig herum, denkt er. Wahrscheinlich hat sie Auftrag vom Petrovic, niemanden hereinzulassen. Na – höchstens wird man diesem ängstlichen Kalb ein Trinkgeld zustecken.) Kanitz macht sich sofort jovial und redet bäurisch-wienerisch:


›No, ham’s doch kane solche Angst! Ich werd Ihna g’wiß nix wegtragen. Ich will’s mir doch nur anschau’n. No, wie steht’s – haben’s die Schlüssel oder nicht?‹


›Die Schlüssel … natürlich habe ich die Schlüssel‹ stammelt sie, … ›aber … ich weiß nicht, wann der Herr Verwalter …‹


›Ich hab Ihnen schon g’sagt, ich brauch Ihren Petrovic nicht dazu. Also keine langen Faxen. Kennen S’ sich aus im Haus?‹


Die Ungeschickte wird noch verlegener. ›Ich glaube schon … einigermaßen kenne ich mich aus …‹


Ein Trottel, denkt sich Kanitz. Was für ein elendes Personal dieser Petrovic anstellt! und laut kommandiert er:


›Jetzt aber los, ich hab nicht viel Zeit.‹


Er geht voraus, und wirklich, sie folgt, unruhig und bescheiden. Bei der Eingangstür zögert sie neuerdings.


›Himmelherrgott, schließen Sie schon einmal auf!‹ Warum tut die Person so dumm, so verlegen, ärgert sich Kanitz. Während sie aus ihrer mageren, abgeschabten Ledertasche die Schlüssel hervorholt, erkundigt er sich noch einmal zur Vorsicht:


›Was machen S’ denn eigentlich sonst hier im Haus?‹


Die Verschüchterte bleibt stehen und errötet. ›Ich bin …‹, setzt sie an und verbessert sich sofort, ›… ich war … ich war die Gesellschafterin der Frau Fürstin.‹


Nun stockt unserem Kanitz der Atem (und ich schwöre Ihnen, es war schwer, einen Mann seines Kalibers aus der Fassung zu bringen). Unwillkürlich tritt er einen Schritt zurück.


›Sie sind … doch nicht Fräulein Dietzenhof?‹


›Doch‹, antwortet sie ganz erschreckt, als hätte man sie eines Vergehens beschuldigt.


Kanitz hatte eines bisher nie im Leben gekannt: Verlegenheit. Aber in dieser einen Sekunde wurde er höllisch verlegen, als er mit blinder Stirn gegen das sagenhafte Fräulein Dietzenhof, die Erbin von Kekesfalva, anrannte. Sofort schaltete er im Ton um.


›Pardon‹, stammelt er ganz betroffen und nimmt den Hut eiligst ab. ›Pardon, gnädiges Fräulein … Aber niemand hatte mich verständigt, daß gnädiges Fräulein schon eingetroffen seien … Ich hatte keine Ahnung … Bitte entschuldigen Sie … ich war nur gekommen, um …‹


Er stockt, denn jetzt gilt es, etwas Plausibles zu erfinden.


›Es war nur wegen der Versicherung … ich bin nämlich schon vor Jahren mehrmals hier gewesen – zu Lebzeiten der verewigten Frau Fürstin. Leider bot sich damals keine Gelegenheit, Ihnen, gnädiges Fräulein, zu begegnen … Nur darum, nur wegen der Versicherung … nur um nachzusehen, ob der ganze Fundus noch intakt ist … Wir sind ja verpflichtet dazu. Aber das hat schließlich keine Eile.‹


›Oh bitte, bitte …‹, sagt sie ängstlich. ›Ich kenne mich freilich in solchen Dingen nicht aus. Sie besprechen das vielleicht besser mit Herrn Peterwitz.‹


›Gewiß, gewiß‹, erwidert unser Kanitz, er hat noch immer seine Geistesgegenwart nicht ganz parat. ›… Ich werde natürlich auf Herrn Peterwitz warten.‹ (Wozu sie berichtigen, denkt er sich.) ›Aber vielleicht könnte ich, wenn es Ihnen, gnädiges Fräulein, keine Mühe macht, rasch das Schloß in Augenschein nehmen, dann wäre doch alles im Flug erledigt. Es hat sich wohl am Inventar nichts verändert.‹


›Nein, nein‹, sagt sie hastig, ›gar nichts hat sich verändert. Wenn Sie sich überzeugen wollen …‹


›Zu gütig, gnädiges Fräulein‹, verbeugt sich Kanitz, und beide treten ein.


Sein erster Blick im Salon gilt den vier Guardis, die Sie ja kennen, und nebenan, in Ediths Boudoir, dem Glasschrank mit dem chinesischen Porzellan, den Tapisserien und kleinen Plastiken aus Jade. Erleichterung! – alles ist noch da. Petrovic hat nichts gestohlen, der dumme Kerl holt sich lieber beim Hafer, beim Klee, bei den Kartoffeln, bei den Reparaturen sein Teil. Fräulein Dietzenhof, offenbar aus Verlegenheit, den fremden Herrn bei seinem nervösen Herumblicken zu stören, öffnet unterdes die verschlossenen Jalousien. Licht flutet herein, man sieht durch die hohen Glastüren weit in den Park hinaus. Konversation machen, denkt sich Kanitz. Sie nicht auslassen! Sich mit ihr anfreunden!


›Schön ist dieser Blick in den Park‹, beginnt er mit tiefem Atemzug. ›Wunderbar, hier zu wohnen.‹


›Ja, sehr schön‹, bestätigt sie gehorsam, aber die Zustimmung klingt nicht ganz echt. Kanitz spürt sofort, die Verschüchterte hat es verlernt, offen zu widersprechen, und erst nach einer Weile fügt sie berichtigend bei:


›Freilich, die Frau Fürstin hat sich hier nie recht wohlgefühlt. Sie sagte immer, das flache Land mache sie melancholisch. Sie hat eigentlich immer nur die Berge gern gehabt und das Meer. Die Gegend hier war ihr zu einsam, und die Menschen …‹


Sie stockt schon wieder. Doch – Konversation machen, Konversation machen, erinnert sich Kanitz. Kontakt mit ihr halten!


›Aber Sie werden hoffentlich jetzt bei uns bleiben, gnädiges Fräulein?‹


›Ich?‹ – sie hebt unwillkürlich die Hände, als wenn sie etwas Unerwünschtes wegstoßen wollte. ›Ich? … Nein! Oh nein! Was soll ich denn hier allein in dem großen Haus? … Nein, nein, ich fahre gleich weg, sobald alles geordnet ist.‹


Kanitz schielt sie vorsichtig von der Seite an. Wie schmal sie in dem großen Raum steht, die arme Besitzerin! Etwas zu blaß ist sie und zu verschüchtert, sonst könnte man sie beinahe noch hübsch nennen; wie eine verregnete Landschaft wirkt dies länglich-schmale Gesicht mit den verhängten Lidern. Die Augen scheinen von einem zarten Kornblumenblau, weiche und warme Augen, aber sie wagen nicht, herzhaft zu strahlen, scheu ducken sie sich immer wieder hinter die Lider zurück. Und Kanitz als geübter Beobachter erkennt sofort: ein Wesen, dem man das Rückgrat gebrochen hat. Ein Mensch ohne Willen, den man um den Finger wickeln kann. Also Konversation machen, Konversation machen! Und mit teilnahmsvoll gefalteter Stirn erkundigt er sich weiter:


›Aber was soll dann aus dem schönen Besitz werden? So etwas braucht eine Führung, eine straffe Führung!‹


›Ich weiß nicht, ich weiß nicht.‹ Sie sagt es ganz nervös, Unruhe rinnt durch ihren zarten Leib, und in dieser einen Sekunde begreift Kanitz, daß die seit Jahren Unselbständige nie Mut zu einer selbständigen Entschließung haben wird und daß sie eher erschrocken als erfreut ist über die Erbschaft, die bloß als ein Sack Sorge auf ihren schmalen Schultern lastet. Blitzschnell überlegt er. Er hat nicht umsonst in diesen zwanzig Jahren kaufen und verkaufen, aufdrängen und abdrängen gelernt. Dem Käufer muß man zureden, dem Verkäufer abreden: erstes Gesetz der Agenten, und sofort zieht er das Abrederegister seiner Orgel. Ihr die Sache ›miesmachen‹, denkt er sich. Am Ende kann man ihr das Ganze auf einen Hieb abpachten und Petrovic zuvorkommen; vielleicht ist es ein Glück, daß dieser Bursche gerade heute in Wien steckt. Unverzüglich nimmt er eine bedauernd teilnahmsvolle Miene an.


›Ja. Sie haben recht! Ein großer Besitz ist immer auch eine große Plage. Man kommt da nie zur Rast. Täglich muß man sich mit den Verwaltern und dem Hauspersonal und den Nachbarn herumschlagen, und dann erst die Steuern und Anwälte! Wo die Leute spüren, daß nur ein bißchen Besitz und Geld vorhanden ist, wollen sie einem das Letzte abwürgen. Nur Feinde hat man um sich, so gut man’s auch mit jedem meint. Es hilft nichts, es hilft nichts – wo sie Geld spüren, wird jeder zum Dieb. Leider, leider, Sie haben schon recht: für einen solchen Besitz muß man eine eiserne Hand haben, sonst kommt man nicht durch. Dazu muß man geboren sein, und auch dann bleibt’s noch ein ewiger Kampf.‹


›Ach ja‹, atmet sie tief auf. Man sieht, daß sie sich an etwas Grauenhaftes erinnert. ›Schrecklich, schrecklich, sind die Menschen, wenn es ums Geld geht! Ich habe das nie gewußt.‹


Die Menschen? Was gehen Kanitz die Menschen an? Was kümmert’s ihn, ob sie gut sind oder schlecht? Abpachten den Gutshof und möglichst rasch und möglichst vorteilhaft! Er hört zu und nickt höflich, und während er zuhört und antwortet, rechnet er zugleich in einer anderen Ecke seines Gehirns: wie kann man die Sache am geschwindesten deichseln? Ein Konsortium gründen, das ganz Kekesfalva zur Pachtung übernimmt, die Landwirtschaft, die Zuckerfabrik, das Gestüt. Meinetwegen dann das Ganze dem Petrovic in Unterpacht geben und nur sich die Einrichtung sichern. Hauptsache bleibt: das Pachtgebot sofort machen und ihr tüchtig zusetzen mit der Angst; die nimmt alles, was man ihr bietet. Die kann nicht rechnen, die hat nie Geld verdient und verdient darum auch nicht, viel Geld zu kriegen. Während sein Hirn mit allen Fibern und Nerven arbeitet, plaudern die Lippen scheinbar anteilnehmend weiter.


›Aber das Schrecklichste sind die Prozesse, da hilft kein Friedlichsein, man kommt aus den ewigen Streitereien nie heraus. Das hat mich auch immer abgeschreckt, irgend einen Besitz zu kaufen. Immer Prozesse, immer Advokaten, immer Verhandlungen und Tagsatzungen und Skandale … Nein, lieber bescheiden leben, seine Sicherheit haben und sich nicht ärgern müssen. Mit einem solchen Gut glaubt man was zu haben und wird in Wirklichkeit nur der Hetzhund der andern, nie kommt man dabei zur rechten Ruhe. An sich wär’s ja wunderbar, dieses Schloß, der schöne alte Besitz … wunderbar … aber dazu gehören Strickleitern von Nerven und eine eiserne Faust, sonst hat man daran nur eine ewige Last …‹


Sie hört ihm zu, gesenkten Hauptes. Mit einmal hebt sie den Kopf; ein schwerer Seufzer bricht ihr aus innerster Brust: ›Ja, eine schreckliche Last … wenn ich es nur verkaufen könnte!‹«

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.