Kapitel 16
Sonderbar, daß mir gerade in dieser Nacht jenes Buch in die Hand geriet. Ich war im allgemeinen ein schwacher Leser, und auf dem wackligen offenen Regal meiner ärarischen Bude standen einzig die sechs oder acht militärischen Bände wie das Dienstreglement und der Armeeschematismus, die für unsereins das Alpha und Omega sind, neben etwa zwei Dutzend Klassikern, die ich, ohne sie je aufzuschlagen, seit der Kadettenschule in jede Garnison mitschleppte – vielleicht nur, um diesen kahlen fremden Zimmern, in denen ich zu hausen genötigt war, einen Schein und Schatten persönlicher Habe zu geben. Dazwischen lagen noch halbaufgeschnitten ein paar schlechtgedruckte, schlechtgeheftete Bücher herum, die mir auf merkwürdige Weise zugekommen waren. Manchmal erschien nämlich in unserem Kaffeehaus ein kleiner buckliger Hausierer mit sonderbar wehmütigen Triefaugen, der auf unwiderstehlich zudringliche Art Briefpapier, Bleistifte und billige Schundbücher anbot, meist solche, für die er sich in kavalleristischen Kreisen den besten Absatz erhoffte: die sogenannte galante Literatur wie Casanovas Liebesabenteuer, das Decamerone, die Memoiren einer Sängerin oder lustige Garnisonsgeschichten. Aus Mitleid – immer wieder aus Mitleid! – und vielleicht auch, um mich seiner melancholischen Zudringlichkeit zu erwehren, hatte ich ihm nach und nach drei oder vier dieser schmierigen, schlechtgedruckten Hefte abgekauft und sie dann lässig in dem Regal herumliegen lassen.
An jenem Abend aber, müde zugleich und überreizt in den Nerven, unfähig zu schlafen und unfähig auch, etwas Vernünftiges zu denken, suchte ich, um mich abzulenken und schlafmüde zu machen, nach irgendeiner Lektüre. In der Hoffnung, daß die naiven bunten Erzählungen, deren ich mich noch von der Kindheit her verworren erinnerte, die beste narkotische Wirkung üben könnten, griff ich nach dem Band Tausendundeine Nacht. Ich legte mich hin und begann zu lesen in jenem Zustand halber Somnolenz, da man schon zu träge ist, die Seiten umzublättern, und aus Bequemlichkeit eine zufällig nicht aufgeschnittene lieber überschlägt. Ich las die Anfangsgeschichte von Scheherezade und dem König mit matter Aufmerksamkeit und dann weiter und weiter. Aber plötzlich schrak ich auf. Ich war auf das merkwürdige Märchen gestoßen von jenem jungen Mann, der am Wege einen lahmen Greis liegen sieht, und bei diesem einen Worte »gelähmt« zuckte etwas in mir empor wie ein scharfer Schmerz; ein Nerv war von der plötzlichen Assoziation wie von einem Brandstrahl berührt. Der gelähmte Greis ruft in jenem Märchen den jungen Menschen verzweifelt an, er könne nicht gehen und ob er ihn nicht auf seine Schultern aufsitzen lassen wolle und weitertragen. Und der junge Mann hat Mitleid – Mitleid, du Narr, warum hast du Mitleid? dachte ich mir –, er beugt sich wirklich hilfreich nieder und setzt sich den alten Mann huckepack auf den Rücken.
Aber dieser scheinbar hilflose Greis ist ein Djinn, ein böser Geist, ein schurkischer Zauberer, und kaum daß er dem jungen Menschen auf den Schultern sitzt, klemmt er plötzlich seine haarigen nackten Schenkel nervig um die Kehle seines Wohltäters und ist nicht mehr abzuschütteln. Unbarmherzig macht er den Hilfreichen zu seinem Reittier, er peitscht, der Rücksichtslose, der Mitleidlose, den Mitleidigen weiter und weiter, ohne ihm Rast zu gönnen. Und der Unselige muß ihn tragen, wohin jener es heischt, er hat von nun ab keinen eigenen Willen mehr. Er ist das Reittier, ist der Sklave des Elenden geworden, und ob ihm auch die Knie wanken und die Lippen verschmachten, er muß, der Narr seines Mitleids, fort und fort traben und den bösen, den verruchten, den listigen alten Mann als sein Schicksal auf dem Rücken schleppen.
Ich hielt inne. Das Herz schlug mir, als wollte es aus der Brust springen. Denn noch während ich las, hatte ich plötzlich in einer unerträglichen Vision diesen listenreichen fremden Greis gesehen, wie er erst auf der Erde lag und tränend die Augen aufschlug, um von dem Mitleidigen Hilfe zu erflehen, ihn gesehen, wie er dann huckepack dem andern auf dem Rücken saß. Er hatte weißes gescheiteltes Haar, jener Djinn, und trug eine goldene Brille. Mit der ganzen Blitzhaftigkeit, mit der sonst nur Träume Bilder und Gesichter heranzureißen und zu vermengen verstehen, hatte ich dem Greise des Märchens instinktiv Kekesfalvas Gesicht geliehen, und ich war mit einmal selbst das unselige Reittier geworden, das er peitschte und vorwärtspeitschte, ja, ich fühlte um die Kehle den Druck so körperlich, daß mir der Atem stockte. Das Buch fiel mir aus den Händen, ich blieb liegen, eiskalt, und hörte mein Herz an die Rippen pochen wie an hartes Holz; noch durch den Schlaf jagte dieser grimmige Jäger weiter und weiter, ich wußte nicht wohin. Als ich morgens mit nassem Haar erwachte, war ich erschöpft und ausgemüdet wie nach unermeßlichem Weg.
Es half nichts, daß ich vormittags mit den Kameraden ausritt, daß ich vorschriftsmäßig, sorgsam und wach meinen Dienst tat; kaum daß ich nachmittags den unausweichlichen Weg zum Schloß hinauswanderte, spürte ich die gespenstische Last wieder auf den Schultern, weil ich erschütterten Gewissens ahnte, daß die Verantwortung, die jetzt für mich begann, eine ganz neue und unermeßlich schwierige geworden war. Damals, auf jener Bank im nächtigen Park, da ich dem alten Manne die Heilung seines Kindes in nahe Aussicht gestellt hatte, war mein Übertreiben doch bloß ein mitleidiges Nicht-die-Wahrheit-sagen ohne meinen Willen und sogar gegen meinen Willen gewesen, aber noch keine bewußte Täuschung, kein grober Betrug. Von nun an hingegen, da ich wußte, daß eine baldige Heilung nicht zu gewärtigen war, hatte ich kalt, zäh, berechnend, ausdauernd mich zu verstellen, ich mußte mit undurchsichtigen Mienen, mit überzeugter Stimme lügen wie ein abgefeimter Verbrecher, der sich Wochen und Monate voraus jede Einzelheit seiner Tat und seiner Verteidigung raffiniert ausdenkt. Zum erstenmal begann ich zu verstehen, daß das Schlimmste auf dieser Welt nicht durch das Böse und Brutale, sondern fast immer nur durch Schwäche verschuldet wird.
Bei den Kekesfalvas geschah dann alles genau, wie ich gefürchtet; kaum daß ich die Turmterrasse betrat, grüßte mich schon begeisterter Empfang. Mit Absicht hatte ich einige Blumen mitgebracht, um den ersten Blick von mir selbst abzulenken. Aber nach einem jähen »Um Himmels willen, wozu bringen Sie mir denn Blumen? Ich bin doch keine Primadonna!« mußte ich mich schon neben die Ungeduldige setzen, und sie begann, ohne innezuhalten. Mit einem gewissen halluzinativen Ton in der Stimme erzählte und erzählte sie, Doktor Condor – »Oh, dieser herrliche, dieser einzige Mensch!« – hätte ihr wieder Mut gemacht. In zehn Tagen reisten sie in ein Sanatorium in der Schweiz, ins Engadin – wozu noch einen Tag versäumen, jetzt da man die Sache endlich scharf angehen wolle? Immer hätte sie’s vorausgewußt, daß man alles bisher von der falschen Seite angepackt habe, daß man mit diesem Elektrisieren und Massieren und all den dummen Apparaten allein nicht vorwärtskomme. Bei Gott, es sei aber schon höchste Zeit gewesen, zweimal – sie hätte es mir nie eingestanden – habe sie schon versucht, Schluß mit sich zu machen, zweimal und immer vergeblich. So könne ein Mensch auf die Dauer nicht existieren, keine Stunde wirklich allein, immer angewiesen auf andere mit jedem Handgriff und jedem Schritt, immer bespäht, immer überwacht und dazu noch erdrückt von dem Gefühl, allen andern bloß eine Last, ein Alp, eine Unerträglichkeit zu sein. Ja, es sei Zeit gewesen, höchste Zeit, aber ich würde sehen, wie rasch es jetzt, wenn man’s nur richtig anpacke, mit ihrer Genesung vorwärtsgehen würde. Was taugen denn alle diese dummen kleinen Besserungen, die doch nichts besser machten! Als Ganzes müsse man eben gesunden, sonst sei man nicht gesund. Ach, und schon das Vorgefühl, wie wunderbar das wäre, wie wunderbar …
Das ging so weiter und weiter, ein springender, sprudelnder, sprühender Sturzbach der Ekstase. Wie einem Arzt war mir zumute, der den Fieberphantasien einer Halluzinierenden zuhört und dabei mißtrauisch mit dem unbestechlichen Uhrzeiger die jagenden Pulsschläge nachzählt, weil er dies Glühen und Brennen beunruhigt als triftigsten klinischen Beweis einer Verstörung bewertet. Immer, wenn wie leichter Gischt ein übermütiges Lachen den jagenden Schwall ihres Erzählens übersprühte, schauerte ich zusammen, denn ich wußte doch, was sie nicht wußte – ich wußte, daß sie sich betrog, daß wir sie betrogen. Als sie endlich innehielt, war mir, wie wenn man nachts in einem fahrenden Zug aufschrickt, weil die Räder plötzlich stoppen. Aber sie hatte sich selbst jäh unterbrochen:
»Nun, was sagen Sie dazu? Warum sitzen Sie denn so dumm – pardon, so erschrocken herum? Warum reden Sie kein Wort? Freuen Sie sich denn gar nicht mit mir?«
Ich fühlte mich ertappt. Jetzt oder nie galt es, den herzlichen, den richtig begeisterten Ton zu finden. Aber ich war erst ein erbärmlicher Neuling im Lügen, ich verstand noch nicht die Kunst des bewußten Betrugs. So stoppelte ich mühsam ein paar Worte zusammen.
»Wie können Sie so was sagen? Ich bin nur ganz überrascht … das müssen Sie doch verstehen … und bei uns in Wien sagt man jedesmal von einer großen Freude, daß sie einem ›die Red verschlägt‹ … Natürlich freue ich mich furchtbar für Sie.«
Es widerte mich selbst an, wie künstlich und kalt das klang. Auch sie mußte meine Hemmung sofort bemerkt haben, denn jählings veränderte sich ihre Haltung. Etwas von der Verdrossenheit eines Menschen, den man aus einem Traum aufrüttelt, verdüsterte ihre Verzückung; die Augen, eben noch von Begeisterung funkelnd, wurden plötzlich hart, der Bogen zwischen den Brauen spannte sich wie zum Schuß.
»Nun – viel habe ich nicht bemerkt von Ihrer großen Freude!«
Ich spürte genau das Beleidigende und versuchte, sie zu beschwichtigen.
»Aber Kind …«
Doch schon warf sie sich hoch. »Sagen Sie nicht immer ›Kind‹ zu mir. Sie wissen, ich vertrag das nicht. Was sind Sie denn schon älter als ich? Ich darf’s mir vielleicht noch erlauben, mich zu wundern, daß Sie nicht sehr überrascht waren und vor allem nicht sehr … sehr … teilnehmend. Aber übrigens, warum sollten Sie sich nicht freuen? Schließlich kriegen doch auch Sie Urlaub dadurch, daß die Bude hier für ein paar Monate gesperrt wird. Da können Sie wieder ruhig mit Ihren Kameraden im Kaffeehaus sitzen und tarockieren und sind den langweiligen Samariterdienst los. Ja, ja, ich glaub’s Ihnen schon, daß Sie sich freuen. Jetzt kommt für Sie eine bequeme Zeit.«
Es war etwas derart grob Zuschlagendes in ihrer Art, daß ich den Stoß bis in mein schlechtes Gewissen hinein spürte. Zweifellos, ich mußte mich verraten haben. Um abzulenken – denn ich kannte schon das Gefährliche ihrer Reizbarkeit in solchen Augenblicken – suchte ich die Auseinandersetzung ins locker Spaßhafte abzuschieben.
»Bequeme Zeit – wie Ihr Euch das vorstellt! Eine bequeme Zeit für Kavalleristen, der Juli, der August, der September! Wissen Sie nicht, daß da Hochkonjunktur ist für alle Schindereien und Rüffeleien? Erst die Vorbereitungen für die Manöver, dann hinüber oder herüber nach Bosnien oder Galizien, dann die Manöver selbst und die großen Paraden! Aufgeregte Offiziere, abgehetzte Mannschaften, allerhöchster Dienst im schärfsten Extrakt von morgens bis abends. Bis tief in den September hinein geht dieser Tanz.«
»Bis Ende September? …« Sie wurde mit einem Mal nachdenklich. Etwas schien sie zu beschäftigen. »Aber wann …«, setzte sie schließlich an, »werden Sie dann kommen?«
Ich verstand nicht. Wirklich, ich verstand nicht, was sie meinte, und fragte vollkommen naiv:
»Wohin kommen?«
Sofort spannten sich wieder die Brauen. »Fragen Sie nicht immer so tolpatschig! Uns besuchen! Mich besuchen!«
»Im Engadin?«
»Wo denn sonst? In Tripstrill vielleicht?«
Jetzt erst begriff ich, was sie meinte; die Vorstellung war tatsächlich zu absurd für mich gewesen, ich sollte mir, ich, der ich gerade meine letzten baren sieben Kronen für jene Blumen ausgegeben hatte und dem jeder Abstecher nach Wien trotz der halben Fahrkarte schon eine Art Luxus bedeutete, so mir nichts dir nichts eine Reise ins Engadin leisten.
»Na, da sieht man einmal«, lachte ich ganz ehrlich, »wie Ihr Zivilisten Euch das Militär vorstellt. Kaffeehaus und Billardspielen, auf dem Korso spazierengehen und wenn man grade Lust hat, Zivil anziehen und ein paar Wochen in der Welt herumrutschen. Höchst einfach, so eine Spritzfahrt. Man hebt zwei Finger an die Kappe und sagt: ›Adieu, Herr Oberst, ich hab keine rechte Schneid, jetzt weiter Militär zu spielen! Auf Wiederschaun, wann’s mir grad wieder paßt!‹ Ihr habt’s eine Ahnung, wie’s in unseren allerhöchsten Tretmühlen zugeht! Wissen Sie, daß unsereins, wenn er einmal eine einzige Stunde außertourlich freihaben will, sich die Binde anschnallen muß und beim Rapport schön brav die Hacken zusammenklappen und ›gehorsamst‹ seine Bitte vorbringen? Jawohl, soviel Faxen und Feierlichkeiten für eine einzige Stunde. Und für einen ganzen Tag braucht man mindestens eine tote Tante oder sonst ein Familienbegräbnis. Das Gesicht von meinem Obersten möchte ich mir anschauen, wenn ich so mitten in der Manöverzeit ihm submissest1 mitteilen tät, ich hätt den Gusto, jetzt für acht Tage auf Urlaub in die Schweiz zu gondeln. Da möchten’s ein paar Ausdrücke hören, die Sie in keinem zimmerreinen Lexikon finden. Nein, mein liebes Fräulein Edith, das stellen Sie sich doch etwas zu leicht vor.«
»Ach was, alles ist leicht, was man wirklich will! Spielen Sie sich nicht auf, als ob grad Sie unentbehrlich wären! Würde eben inzwischen ein anderer Ihre ruthenischen Schafsköpfe abrichten. Übrigens, das mit dem Urlaub richtet Ihnen Papa in einer halben Stunde. Er kennt ein Dutzend Leute im Kriegsministerium, und wenn ein Wort von oben kommt, kriegen Sie, was Sie verlangen – schaden könnt’s Ihnen übrigens wirklich nicht, wenn Sie einmal was anderes von der Welt sehn würden als Ihre Reitschule und Ihren Exerzierplatz. Also keine Ausflüchte – das ist erledigt. Das richtet Ihnen Papa.«
Es war dumm von mir, aber dieser lasche Ton ärgerte mich. Schließlich drillen einem ein paar Dienstjahre doch ein gewisses Standesbewußtsein ein; ich fühlte eine Art Herabsetzung darin, daß so ein blutjunges, unerfahrenes Mädel von oben herab über die Generäle des Kriegsministeriums – für uns eine Art blauer Götter – verfügte, als wären sie Privatangestellte ihres Vaters. Immerhin hielt ich mich trotz allen Ärgers noch im lockeren Ton.
»Nun gut: Schweiz, Urlaub, Engadin – gar nicht übel! Ausgezeichnet, wenn’s mir faktisch, wie Sie sich das vorstellen, auf dem Servierbrett hergeschoben wird, ohne daß ich gehorsamst ›bitte, bitte‹ machen muß. Aber nötig wär außerdem, daß Ihr Herr Papa im Kriegsministerium zu dem Urlaub noch ein besonderes Reisestipendium für den Herrn Leutnant Hofmiller herauskitzelt.«
Nun war sie es wiederum, die aufstutzte. Sie spürte in meinen Worten etwas Hintergründiges, das sie nicht begriff. Schärfer spannten sich die Brauen über den ungeduldigen Augen. Ich sah, ich mußte deutlicher werden.
»Also vernünftig, Kind … pardon, reden wir vernünftig, Fräulein Edith. Die Sache liegt leider nicht so einfach, wie Sie meinen. Sagen Sie – haben Sie sich einmal überlegt, was so eine Eskapade kostet?«
»Ach, das meinen Sie?« sagte sie völlig unbefangen. »Das kann doch nicht arg sein. Ein paar hundert Kronen höchstens. Die werden’s doch nicht ausmachen.«
Nun konnte ich meinen Unmut nicht länger beherrschen. Denn hier lag mein empfindlichster Punkt. Ich glaube, ich habe schon einmal gesagt, wie sehr mich’s quälte, in unserem Regiment zu den Offizieren zu gehören, die keinen Heller eigenes Vermögen besaßen, und bloß auf die Gage und den recht knappen Zuschuß meiner Tante angewiesen zu sein; schon in unserem eigenen Kreis ging’s mir immer scharf an die Leber, wenn man in meiner Gegenwart verächtlich von Geld sprach, als ob es wie Disteln wüchse. Hier war mein wunder Punkt. Hier war ich lahm, hier trug ich meine Krücken. Einzig deshalb erregte es mich so unverhältnismäßig, daß dieses verwöhnte, verzogene Geschöpf, das doch selber an seiner Zurückgesetztheit höllisch litt, die meine nicht begriff. Gegen meinen Willen wurde ich beinahe grob.
»Ein paar hundert Kronen höchstens? Eine Kleinigkeit, nicht wahr? Eine erbärmliche Kleinigkeit für einen Offizier! Und Sie finden’s natürlich schäbig, daß ich so eine Läpperei überhaupt erwähne? Nicht wahr, schäbig, kleinlich, knickerig! Aber haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wovon unsereins sich durchfretten muß? Womit er sich abfinden und abschinden muß?«
Und da sie mich noch immer mit jenem verkniffenen und, wie ich töricht vermeinte, verächtlichen Blick anstarrte, packte mich plötzlich das Bedürfnis, ihr meine ganze Armut bloßzulegen. Genau wie sie damals, um uns zu quälen, mit Absicht vor uns, den Gesunden, durch das Zimmer gehumpelt war, um sich durch diesen herausfordernden Anblick zu rächen an unserer behaglichen Gesundheit, so empfand ich eine Art zorniger Freude, ihr die Enge und Abhängigkeit meiner Existenz exhibitionistisch zu entblößen.
»Wissen Sie denn überhaupt, was ein Leutnant Gage kriegt?« fuhr ich sie an. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Also, damit Sie’s wissen: zweihundert Kronen am Ersten des Monats für die dreißig oder einunddreißig Tage und dazu die Verpflichtung, ›standesgemäß‹ zu leben. Von diesem Bettel hat er die Menage, die Wohnung, den Schneider, den Schuster und seinen ›standesgemäßen‹ Luxus zu bestreiten. Gar nicht zu reden davon, wenn, Gott behüte, einmal was mit dem Roß passiert. Und wenn er glorreich gewirtschaftet hat, dann bleiben ihm grad noch die paar Heller übrig, um in jenem Kaffeehausparadies zu schlemmen, mit dem Sie mich immer aufziehen; dort kann er, wenn er wirklich gespart hat wie ein Tagelöhner, sich alle Herrlichkeiten der Erde bei einer Schale Melange erkaufen.«
Ich weiß heute, daß es dumm, daß es verbrecherisch von mir war, mich dermaßen von meiner Bitterkeit hinreißen zu lassen. Wie sollte ein siebzehnjähriges Kind, verwöhnt und weltfremd auferzogen, wie sollte diese Gelähmte, ständig an ihr Zimmer gefesselt, etwas von Geldwert und Gage und unserem glänzenden Elend ahnen? Aber die Lust, mich für zahllose kleine Erniedrigungen einmal an jemandem zu rächen, hatte mich gleichsam hinterrücks angefallen, und ich drosch zu, blindlings, besinnungslos, wie man immer im Zorn zuschlägt, ohne die Wucht des Hiebs in der eigenen Hand zu fühlen.
Aber kaum daß ich aufblickte, begriff ich schon, wie tierisch roh ich zugeschlagen. Mit der Feinfühligkeit der Kranken hatte sie sofort gespürt, daß sie mich unbewußt an empfindlichster Stelle getroffen. Unwiderstehlich – ich sah, sie wehrte sich dagegen und hob rasch die Hand vor das Gesicht – wurde sie rot; offenbar hatte ein bestimmter Gedanke ihr das Blut in die Wagen getrieben.
»Und da … und da kaufen Sie mir noch so teure Blumen?«
Nun kam ein peinlicher Augenblick, und er währte lange. Ich schämte mich vor ihr, und sie schämte sich vor mir. Wir hatten beide einander unbeabsichtigt verletzt und fürchteten uns vor jedem neuen Wort. Mit einem Mal hörte man den Wind, der warm durch die Bäume strich, und unten im Hof das Gackern der Hühner, und von ferne ab und zu das dünne Rollen eines Wagens die Landstraße entlang. Aber da raffte sie sich schon wieder auf.
»Und ich bin so dumm und geh auf Ihren Unsinn ein! Wirklich, dumm bin ich und reg mich sogar noch auf. Was kümmert Sie das überhaupt, was so eine Reise kostet? Wenn Sie zu uns kommen, sind Sie selbstverständlich unser Gast. Glauben Sie, Papa würde zugeben, wenn Sie schon so nett sind, uns zu besuchen … daß Sie da noch Kosten haben? So ein Unsinn! Und ich laß mich zum Narren halten von Ihnen … also kein Wort mehr darüber – nein, kein Wort, habe ich gesagt!«
Aber hier war der Punkt, wo ich nicht nachgeben konnte. Denn nichts war mir – ich sagte es schon früher – dermaßen unerträglich wie der Gedanke, als Schmarotzer zu gelten.
»Doch! Ein Wort noch! Wir wollen doch keine Mißverständnisse! Also klipp und klar: ich lasse mich nicht ausbitten von meinem Regiment, ich lasse mich nicht freihalten. Mir paßt es nicht, Ausnahmen und Annehmlichkeiten zu fordern. Ich will in Reih und Glied stehen mit meinen anderen Kameraden, ich will nichts Außertourliches und keine Protektion. Ich weiß, Sie meinen es gut und Ihr Herr Vater meint es gut. Aber manche Leute können eben nicht alles Gute im Leben serviert bekommen … Sprechen wir nicht weiter davon.«
»Sie wollen also nicht kommen?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht will. Ich erklärte Ihnen deutlich, weshalb ich nicht kann.«
»Auch nicht, wenn mein Vater Sie darum ersucht?«
»Auch dann nicht.«
»Und auch … auch wenn ich Sie bitte? … Wenn ich Sie herzlich, wenn ich Sie freundschaftlich bitte?«
»Tun Sie’s nicht. Es hätte keinen Sinn.«
Sie senkte den Kopf. Aber schon hatte ich das wetterleuchtende Zittern und Zucken um ihren Mund bemerkt, das untrüglich bei ihr eine gefährliche Irritation ankündigte. Dieses arme verwöhnte Kind, nach dessen Wink und Wunsch alles im Hause geschah, hatte etwas Neues erlebt: es war auf Widerstand gestoßen. Jemand hatte ihr »nein« gesagt, und das erbitterte sie. Mit einem Ruck riß sie meine Blumen vom Tisch und warf sie in zornigem Bogen weit über die Balustrade.
»Gut«, stieß sie dann zwischen den Zähnen heraus. »Jetzt weiß ich wenigstens, wie weit Ihre Freundschaft reicht. Gut, daß man’s einmal erprobt hat! Nur weil ein paar Kameraden im Kaffeehaus sich den Mund zerreißen könnten, verstecken Sie sich hinter Ausredereien! Nur weil man Angst hat, daß man einen schlechten Punkt in der Sittennote kriegt beim Regiment, verdirbt man seinen Freunden eine Freude! … Aber gut! Erledigt! Ich werde nicht weiter betteln. Sie haben keine Lust – gut! Erledigt!«
Ich spürte, ihre Erregung war noch nicht völlig gewichen, denn sie wiederholte nochmals und nochmals mit einer gewissen zähen Hartnäckigkeit dieses »gut«; gleichzeitig stemmte sie gewaltsam beide Hände an die Lehne, um ihren Körper höher zu ziehen, als wollte sie vorstoßen zu einem Angriff. Plötzlich wandte sie sich mir scharf zu.
»Gut. Erledigt der Fall. Unser submissestes Gesuch ist abgelehnt. Sie besuchen uns nicht, Sie wollen uns nicht besuchen. Es paßt Ihnen nicht. Gut! Man wird’s überstehen. Sind schließlich auch früher ohne Sie ausgekommen … Etwas aber möchte ich noch wissen – wollen Sie mir jetzt aufrichtig antworten?«
»Selbstverständlich.«
»Aber ehrlich! Ihr Ehrenwort! Geben Sie mir Ihr Ehrenwort.«
»Wenn Sie durchaus darauf bestehen – mein Ehrenwort.«
»Gut. Gut.« Immer wiederholte sie dieses harte, schneidende »gut«, als risse sie damit etwas wie mit einem Messer weg. »Gut. Keine Angst, ich insistiere nicht weiter auf Dero erlauchtem Besuch. Nur eins möchte ich wissen – Sie haben mir Ihr Wort gegeben. Nur das eine. Also – es paßt Ihnen nicht, zu uns zu kommen, weil’s Ihnen unangenehm ist, weil Sie sich geniert fühlen … oder aus irgendwelchen Gründen sonst – was geht’s mich an? Gut … gut. Erledigt. Aber jetzt ehrlich und klar: warum kommen Sie dann überhaupt zu uns?«
Auf alles war ich gefaßt gewesen, nur nicht auf diese Frage. In meiner Verblüffung stammelte ich, um Zeit zu gewinnen, ein vorbereitendes:
»Aber … aber das ist doch ganz einfach … da hätte es doch keines Ehrenworts bedurft …«
»So? … einfach? Gut! Um so besser! Also los?«
Nun gab es kein Ausbiegen mehr. Das Einfachste schien mir die Wahrheit, nur merkte ich schon, daß ich sie vorsichtigst stilisieren müßte. So setzte ich mit scheinbarer Ungezwungenheit an:
»Aber, liebes Fräulein Edith – suchen Sie doch keine geheimnisvollen Beweggründe bei mir. Sie kennen mich schließlich genug, um zu wissen, daß ich jemand bin, der nicht viel über sich nachdenkt. Ich bin, ich schwör’s Ihnen, noch nie auf die Idee gekommen, mich zu examinieren, warum ich zu dem geh und zu jenem, warum ich die einen Leut gern hab und die andern nicht. Mein Wort – ich kann Ihnen wirklich nichts Gescheiteres und nichts Dümmeres sagen, als daß ich immer wieder zu Euch komm – eben weil ich gern zu Euch komm und weil ich mich hier eben hundertmal wohler fühl als anderswo. Ihr stellt’s Euch, glaub ich, unsere Kavalleristik doch ein bissel zu sehr nach der Operette vor, immer fesch, immer lustig, eine Art ewiger Kirchweih. Nun, von innen sehen die Dinge nicht so üppig aus, und auch mit der vielgerühmten Kameradschaft steht’s manchmal reichlich windig. Wo ein paar Dutzend vor die gleiche Karre gespannt sind, zieht immer einer schärfer an als der andere, und wo’s Avancement und Ranglisten gibt, tritt man dem Vordermann leicht auf die Zehen. Bei jedem Wort, das man sagt, muß man auf der Hut sein, nie ist man ganz sicher, ob man nicht das Mißbehagen der Großkopfeten erregt; immer hängt wo ein Donnerwetter in der Luft. Dienst kommt von Dienen, und Dienen heißt abhängig sein. Und dann, eine Kaserne und ein Wirtshaustisch sind doch nie ein rechtes Zuhause; keiner braucht einen dort und keinem liegt was an einem. Ja, ja, es geht schon manchmal ganz fidel zu mit den Kameraden, aber irgendein Letztes an Sicherheit kriegt man nie richtig heraus. Wenn ich dagegen zu Euch komm, da leg ich mit dem Säbel zugleich alle Bedenklichkeiten weg, und wenn ich dann mit Euch so gemütlich plausche, dann …«
»Nun … was ist dann?« Ganz ungeduldig stieß sie es heraus.
»Dann … na, Sie werden’s vielleicht ein bissel unverschämt finden, daß ich’s so ehrlich heraussag … dann red ich mir ein, Ihr seht’s mich gern bei Euch, hier gehör ich dazu, hier bin ich hundertmal mehr zu Hause als irgendwo. Immer, wenn ich Sie so anschau, hab ich das Gefühl …«
Ich stockte unwillkürlich. Aber sie wiederholte sofort mit gleicher Heftigkeit: »Nun, was ist bei mir …«
»… daß da jemand ist, bei dem ich nicht so schrecklich überflüssig bin wie bei den Unsrigen … Natürlich, ich weiß schon, viel ist nicht dran an mir, manchmal wunder ich mich selber, daß ich Euch nicht längst schon langweilig geworden bin … Oft … Ihr wißt’s ja nicht, wie oft ich schon Angst gehabt hab, ob ich Euch nicht schon über bin … aber dann erinnere ich mich immer, wie allein Sie da sitzen in dem großen leeren Haus, und daß Sie’s freuen könnt, wenn jemand zu Ihnen kommt. Und das, sehn Sie, macht mir jedesmal wieder Mut … jedesmal wenn ich Sie auf Ihrem Turm oder in Ihrem Zimmer find, rede ich mir ein, es war doch gut, daß ich gekommen bin, statt daß Sie da allein den langen Tag versitzen. Können Sie das wirklich nicht verstehen?«
Aber nun geschah etwas Unerwartetes. Die grauen Augen wurden starr, es war, als ob etwas in meinen Worten ihre Pupillen versteinert hätte. Dagegen wurden allmählich die Finger unruhig, sie tasteten die Lehne auf und nieder, begannen zuerst leise und dann immer heftiger auf dem blanken Holz zu trommeln. Der Mund verzerrte sich leicht, und mit einem Mal sagte sie abrupt:
»Ja, ich verstehe. Ich verstehe vollkommen, was Sie meinen … Sie haben … Sie haben jetzt, glaube ich, wirklich die Wahrheit gesagt. Sehr, sehr höflich haben Sie sich ausgedrückt, und sehr gewunden. Aber ich hab Sie doch genau verstanden. Ganz genau verstanden … Sie kommen, sagen Sie, weil ich so ›allein‹ bin – das heißt auf gut deutsch: weil ich angenagelt bin an diesen verfluchten Liegestuhl. Nur deshalb also trotten Sie täglich heraus, nur als barmherziger Samariter kommen Sie zu dem ›armen, kranken Kind‹ – so nennt ihr mich wohl alle, wenn ich nicht dabei bin, ich weiß schon, ich weiß. Nur aus Mitleid kommen Sie, ja, ja, ich glaub’s Ihnen schon – warum wollen Sie’s jetzt wieder ableugnen? Sie sind doch ein sogenannter ›guter‹ Mensch und lassen sich gern von meinem Vater so nennen. Solche ›gute Menschen‹ haben Mitleid mit jedem geprügelten Hund und jeder räudigen Katze – warum nicht auch mit einem Krüppel?«
Und plötzlich bäumte sie sich auf, ein Krampf überlief ihren ungelenken Körper.
»Aber danke schön! Ich pfeife auf diese Art Freundschaft, die nur meiner Krüppelei gilt … Ja, machen Sie nicht so zerknirschte Augen! Natürlich tut’s Ihnen leid, daß Ihnen die Wahrheit herausgerutscht ist, daß Sie eingestanden haben, Sie kommen nur, weil ich Sie ›derbarmen tu‹, wie jenes Dienstmädchen sagte – nur die hat’s ehrlich gesagt und grad heraus. Sie aber drücken sich als ›guter Mensch‹ viel schonender, viel ›zartfühlender‹ aus, Sie sagen um die Ecke herum: weil ich so allein hier hocke den ganzen Tag. Nur aus Mitleid, das spür ich doch längst in allen Gliedern, nur aus Mitleid kommen Sie und möchten noch gern bewundert sein für Dero gnädige Aufopferung – aber bedaure, ich will nicht, daß jemand mir Opfer bringt! Von niemandem dulde ich’s und am wenigsten von Ihnen … ich verbiete es Ihnen, hören Sie, ich verbiet es Ihnen … Glauben Sie, daß ich wirklich angewiesen bin auf Euer Herumsitzen mit Euren ›teilnehmenden‹, Euren feuchten, schwammigen Blicken oder auf Euer ›schonendes‹ Geschwätz … Nein, Gott sei Dank, ich brauch Euch alle nicht … Ich werde schon selber fertig mit mir, ich steh’s schon allein durch. Und wenn’s nicht weiter geht, dann weiß ich schon, wie ich loskomme von Euch … Da!« – sie stieß mir plötzlich die umgewendete Hand entgegen – »Hier, sehen Sie die Narbe! Einmal hab ich’s schon probiert, ich war nur ungeschickt und hab mit der stumpfen Schere den Puls nicht erwischt; dummerweise kamen sie noch zurecht und konnten mich verbinden, sonst wär ich Euch alle schon los und Euer schuftiges Mitleid! Aber nächstes Mal mach ich’s besser, verlassen Sie sich darauf! Glaubt nur ja nicht, daß ich schon ganz wehrlos Euch ausgeliefert bin! Lieber krepieren, als mich bemitleiden lassen! Da!« – sie lachte plötzlich auf, das Lachen riß scharf und zerfranst wie eine Säge – »Da sehen Sie her, das hat mein besorgter Herr Vater vergessen, als er den Turm für mich herrichten ließ … Nur daran, daß ich eine schöne Aussicht haben soll, hat er gedacht … Viel Sonne, viel Sonne und gute Luft, hat ja der Arzt gesagt. Aber wie gut sie mir einmal dienen kann, die Terrasse, das ist ihnen allen nicht eingefallen, nicht dem Vater, nicht dem Arzt, nicht dem Architekten … Schauen Sie einmal da herunter …« – sie hatte sich plötzlich aufgestemmt und mit einem jähen Ruck ihren schwankenden Körper hingeworfen bis an das Geländer, das sie jetzt grimmig mit beiden Händen umklammerte – »vier, fünf Stockwerke geht’s hier hinab und unten ist harter Stein … das reicht aus … und soviel Kraft habe ich gottlob in den Muskeln, um über’s Geländer zu kommen – ja, vom Krückengehen kriegt man stramme Muskeln. Nur einen Ruck braucht’s und ich bin Eure verfluchte Bemitleiderei ein für allemal los, und Euch allen wäre dann wohl, dem Vater und Ilona und Ihnen – Euch allen, auf denen ich Unwesen laste wie ein Alp … Sehen Sie, ganz leicht geht’s, nur so ein bißchen sich herunterbeugen und dann …«
In äußerster Besorgnis war ich aufgesprungen, als sie sich, mit blitzenden Augen, gefährlich tief über die Balustrade beugte, und ich packte rasch ihren Arm. Aber, als hätte ihr Feuer die Haut angesprüht, zuckte sie auf und schrie mich an:
»Weg! … Wie können Sie sich unterstehen, mich anzurühren! … Weg! … Ich habe das Recht, zu tun, was ich will. Los! … Sofort lassen Sie mich los!«
Und da ich nicht gehorchte, da ich versuchte, sie gewaltsam vom Geländer abzudrängen, warf sie plötzlich den Oberkörper herum und gab mir mitten in die Brust einen Stoß. Und nun geschah das Entsetzliche. Mit diesem Stoß verlor sie den Stützpunkt und damit das Gleichgewicht. Wie von einer Sense durchschnitten, gaben die lockeren Knie völlig nach. Mit einem Ruck sackte sie in sich zusammen, und dadurch, daß sie sich im Hinstürzen an dem Tisch festhalten wollte, riß ihr Fall die ganze Platte mit. Über sie und mich, der ich im letzten Augenblick die ungelenk Hintaumelnde noch aufzufangen suchte, klirrte jetzt zerbrechend die Vase, schmetterten die Teller und Tassen, rasselten die Löffel; laut schlug die große bronzene Glocke zu Boden und rollte mit lärmendem Klöppel die ganze Terrasse entlang.
Die Gelähmte war unterdes elend in sich zusammengestürzt, wehrlos lag sie am Boden, ein zuckendes Bündel Zorn, aufschluchzend vor Erbitterung und Scham. Ich versuchte den leichten Körper aufzuheben, aber sie wehrte sich und heulte mir entgegen:
»Weg … weg … weg, Sie gemeiner, Sie roher Mensch …«
Und dabei schlug sie mit den Armen um sich, immer wieder versuchend, sich ohne meine Hilfe aufzurichten. Jedesmal indes, wenn ich mich näherte, um ihr behilflich zu sein, krümmte sie sich widerstrebend und schrie mich an in ihrem tollen wehrlosen Zorn: »Weg … nicht mich anrühren … fort mit Ihnen!« Nie hatte ich etwas Furchtbareres erlebt.
In diesem Augenblick surrte leise etwas hinter uns. Es war der Lift, der herauffuhr; anscheinend hatte die Glocke im Niederkollern Lärm genug gemacht, um den immer bereiten Diener zu rufen. Eilends trat er, die erschrockenen Augen sofort diskret niederschlagend, heran, hob, ohne mich anzusehen, den zuckenden Körper – er mußte den Griff gewohnt sein – leicht auf und trug die Schluchzende hin zum Fahrstuhl. Eine Minute, und schon surrte der Lift leise wieder hinab; ich blieb allein zwischen dem umgestürzten Tisch, den zerschlagenen Tassen, den verstreuten Dingen, die so wirr durcheinanderlagen, als wäre ein Blitz mitten aus heiterm Himmel niedergefahren und hätte sie mit explosivem Einschlag nach allen Seiten versprengt.
1 unterwürfig, untertänig
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.