Kapitel 17
Ich weiß nicht, wie lange ich so auf der Terrasse inmitten der zerschellten Teller und Tassen herumstand, völlig perplex von diesem elementaren Ausbruch, für den mir jede Deutung fehlte. Was hatte ich denn Törichtes gesagt? Womit diesen unerklärlichen Zorn herausgefordert? Aber da kam schon wieder von rückwärts das wohlbekannte windfangartige Geräusch; der Lift fuhr neuerdings empor, abermals näherte sich Josef, der Diener, einen Schatten merkwürdiger Trauer über seinem wie immer wohlrasierten Gesicht. Ich dachte, er käme nur, um aufzuräumen, und fühlte mich geniert, inmitten dieses Trümmerhaufens ihm hinderlich zu sein. Doch unmerklich schob er sich mit gesenkten Augen an mich heran, gleichzeitig eine Serviette vom Boden aufnehmend.
»Verzeihen Herr Leutnant«, sagte er mit seiner diskret gedämpften Stimme, die gleichsam immer mit einer Verbeugung sprach (ach, er war ein Diener vom alten österreichischen Schlag). »Erlauben, daß ich Herrn Leutnant ein wenig abtrockne.«
Nun bemerkte ich erst, seinen beschäftigten Fingern folgend, an meiner Bluse und meiner hellen Pejacsevichhose je einen großen nassen Fleck. Offenbar hatte, während ich mich niederbeugte, um der Stürzenden aufzuhelfen, eine der im Fall mitgerissenen Teeschalen mich angeschüttet, denn sorgfältig rieb und tupfte der Diener mit der Serviette an den nassen Stellen herum. Ich aber blickte, indes er hingekniet sich bemühte, von oben auf sein gutes graues Haupt mit dem treuen Scheitel; ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, der alte Mann bücke sich absichtlich so tief, damit ich nicht sein Antlitz und seinen erschütterten Blick gewahre.
»Nein, so geht’s nicht«, äußerte er schließlich betrübt, ohne den Kopf zu heben. »Am besten, Herr Leutnant, ich schick den Chauffeur in die Kaserne und laß einen anderen Rock holen. So können Herr Leutnant nicht ausgehen. Aber verlassen sich Herr Leutnant darauf, in einer Stunde ist alles getrocknet und ich bügel die Hose gleich sauber auf.«
Er konstatierte das alles scheinbar bloß fachmännisch beflissen. Aber ein anteilnehmender und etwas bestürzter Ton klang verräterisch mit. Und als ich ihm bedeutete, nein, das sei gar nicht nötig, er solle lieber um einen Wagen telephonieren, ich wolle ohnehin gleich nach Hause, da räusperte er sich unvermutet und hob seine guten, etwas müden Augen bittend empor.
»Bitte, wollten Herr Leutnant noch ein bißchen bleiben. Es wäre schrecklich, wenn Herr Leutnant jetzt fortgingen. Ich weiß bestimmt, das gnädige Fräulein würden sich furchtbar aufregen, wenn Herr Leutnant nicht noch etwas warteten. Jetzt sind Fräulein Ilona noch bei ihr … und … haben sie zu Bett gebracht. Aber Fräulein Ilona hat mir aufgetragen, zu sagen, sie käme gleich, Herr Leutnant möchten unbedingt sie abwarten.«
Gegen meinen Willen war ich erschüttert. Wie alle doch diese Kranke liebten! Wie jeder sie verzärtelte und entschuldigte! Unwiderstehlich fühlte ich das Bedürfnis, diesem gütigen alten Mann, der, von seinem eigenen Mut bestürzt, wieder auffallend emsig an meiner Bluse herumputzte, etwas Herzliches zu sagen; so klopfte ich ihm leicht auf die Schulter.
»Lassen Sie nur, lieber Josef, es steht nicht dafür! Bei der Sonne trocknet so was rasch weg, und ich hoffe, Euer Tee ist nicht stark genug, um einen anständigen Fleck zu machen. Lassen Sie’s nur, Josef, klauben Sie lieber das Geschirr auf. Ich wart schon, bis Fräulein Ilona kommt.«
»Oh, wie gut, daß Herr Leutnant warten!« Er atmete förmlich auf. »Und Herr von Kekesfalva werden auch bald zurück sein und sich gewiß freuen, den Herrn Leutnant zu begrüßen. Er hat mir ausdrücklich aufgetragen …«
Aber da knisterte schon ein Schritt leichtfüßig die Treppe empor. Ilona war es. Auch sie hielt, ganz wie vordem der Diener, die Augen gesenkt, während sie an mich herantrat.
»Edith läßt Sie bitten, einen Augenblick hinunter ins Schlafzimmer zu kommen. Nur einen Augenblick! Sie bittet herzlichst darum, läßt sie Ihnen sagen.«
Wir gingen die Wendeltreppe zusammen hinab. Und sprachen kein Wort, während wir durch den Empfangsraum und das zweite Zimmer in den langen Gang gelangten, der offenbar zu den Schlafräumen führte. Manchmal berührten sich zufällig unsere Schultern in diesem dunklen Engpaß, vielleicht auch, weil ich so erregt und unruhig ging. Bei der zweiten Seitentür blieb Ilona stehen und flüsterte dringlich:
»Sie müssen jetzt gut zu ihr sein. Ich weiß nicht, was da oben vorgefallen ist, aber ich kenne diese plötzlichen Ausbrüche bei ihr. Wir alle kennen sie. Aber man darf’s ihr nicht übelnehmen, wirklich nicht. Unsereins vermag sich’s gar nicht auszudenken, was das heißt, immer so von morgens bis abends hilflos herumzuliegen. Da muß sich schließlich in den Nerven Unruhe aufstauen und einmal bricht’s eben heraus, ohne daß sie’s weiß oder will. Nur, glauben Sie mir, niemand ist nachher unglücklicher als die Arme. Gerade wenn sie sich derart schämt und abquält, muß man doppelt gut zu ihr sein.«
Ich antwortete nicht. Es war auch unnötig. Ilona mußte ohnehin bemerkt haben, wie erschüttert ich war. Nun klopfte sie vorsichtig an die Tür, und kaum daß von innen Antwort kam, ein leises schüchternes »Herein«, mahnte sie noch rasch:
»Bleiben Sie nicht zu lang. Nur einen Augenblick!«
Ich trat durch die lautlos nachgebende Tür. Auf den ersten Blick gewahrte ich im weiträumigen Zimmer, das die orangefarbenen Vorhänge vollkommen gegen die Gartenseite abdunkelten, nichts als rötliche Dämmerung; dann erst unterschied ich im Hintergrund das hellere Rechteck eines Betts. Schüchtern kam von dort die wohlbekannte Stimme:
»Bitte hierher, auf das Taburett. Nur einen Augenblick halte ich Sie auf.«
Ich trat näher. Aus den Kissen schimmerte schmal das Gesicht unter dem Schatten des Haars. Eine bunte Decke rankte ihre eingestickten Blumen empor bis knapp an den mageren kindlichen Hals. Mit einer gewissen Ängstlichkeit wartete Edith ab, daß ich mich setzte. Dann erst wagte sich die Stimme scheu heran.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie hier empfange, aber mir war schon ganz schwindlig … ich hätte nicht so lange in der scharfen Sonne draußen liegen sollen, das macht mir immer den Kopf wirr … Ich glaub faktisch, ich war nicht ganz bei Verstand, als ich … Aber … aber, nicht wahr … Sie vergessen alles? Sie nehmen mir meine Ungezogenheit nicht weiter übel?«
Es war so viel flehentliches Ängsten in ihrer Stimme, daß ich sie rasch unterbrach. »Aber was denken Sie … Es war doch nur meine Schuld … ich hätte Sie nicht so lange in dieser grellen Hitze sitzen lassen dürfen.«
»Zuverlässig also … Sie nehmen es mir nicht übel … wirklich nicht?«
»Keine Spur.«
»Und Sie kommen wieder … genau so wie immer?«
»Genau so. Aber unter einer Bedingung freilich.«
Sie blickte unruhig. »Welche Bedingung?«
»Daß Sie ein bissel mehr Zutrauen zu mir haben und sich nicht immer gleich Sorgen machen, Sie hätten mich gekränkt oder beleidigt! Wer denkt denn an solchen Nonsens unter Freunden. Wenn Sie wüßten, wie anders Sie aussehen, wenn Sie sich’s herzhaft wohl sein lassen, und wie Sie uns alle damit glücklich machen, den Vater und Ilona und mich und das ganze Haus! Ich hätte Ihnen gewünscht, Sie hätten sich selber zusehen können vorgestern bei unserem Ausflug, wie Sie lustig waren und wir alle mit Ihnen – ich habe noch den ganzen Abend daran gedacht.«
»Den ganzen Abend haben Sie an mich gedacht?« Sie blickte mich an, ein wenig unsicher. »Wirklich?«
»Den ganzen Abend. Ach, was war das aber auch für ein Tag, den werde ich nie vergessen. Wunderbar war diese ganze Fahrt, wunderbar!«
»Ja«, wiederholte sie träumerisch. »Wunderbar war das … wun-der-bar … erst die Fahrt über die Felder und dann die kleinen Fohlen und das Fest im Dorf … wunderbar alles vom Anfang bis zum Ende! Ach, ich müßte öfters so wo hinaus! Vielleicht war’s wirklich nur dies dumme Zuhausesitzen, dieses blödsinnige Micheinsperren, das mir die Nerven derart heruntergebracht hat. Aber Sie haben recht, ich hab immer zu viel Mißtrauen … das heißt, ich hab’s erst, seit mir das passiert ist. Früher, mein Gott, ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich je vor irgend jemandem gefürchtet hätte … erst seitdem bin ich so schrecklich unsicher geworden … immer bild ich mir ein, jeder schaut auf meine Krücken, jeder bemitleidet mich … Ich weiß ja, wie dumm das ist, ein dummer und kindlicher Stolz, und daß man sich dadurch vertrotzt gegen sich selber, ich weiß schon, es rächt sich, es reißt einem nur die Nerven durch. Aber wie soll man nicht mißtrauisch werden, wenn’s eine solche Ewigkeit dauert! Ach, wenn nur diese schreckliche Sache endlich zu einem Ende käme, daß man nicht so schlecht dadurch wird, so bös und zornmütig!«
»Aber es geht doch bald zu Ende. Nur Mut müssen Sie haben, ein bißchen Mut noch und Geduld.«
Sie richtete sich leicht auf. »Glauben Sie … glauben Sie ehrlich, daß jetzt wirklich Schluß wird durch diese neue Kur? … Denken Sie, vorgestern, wie Papa heraufgekommen ist, war ich schon ganz sicher … Aber heut nacht, ich weiß nicht wieso, kam plötzlich eine Angst über mich, der Doktor habe sich geirrt und mir was Falsches gesagt, weil ich … weil ich mich an etwas erinnert hab. Früher, da habe ich dem Doktor, dem Doktor Condor, vertraut wie dem lieben Gott. Aber es geht ja immer so … erst beobachtet der Arzt den Patienten, aber wenn’s lange dauert, lernt auch der Kranke den Arzt beobachten, und gestern – aber das erzähl ich nur Ihnen –, gestern, während er mich untersucht hat, da kam’s mir manchmal so vor … ja, wie soll ich’s erklären … nun so … als ob er mir eine Komödie vormachen wollte … Er kam mir so unsicher, so unwahrhaftig vor, nicht so offen, nicht so herzlich wie sonst … Ich weiß nicht warum, aber mir war, als ob er sich aus irgend einem Grund vor mir schämte … Natürlich war ich entsetzlich glücklich, wie ich dann hörte, daß er mich gleich in die Schweiz schicken will … und doch … irgendwo im geheimen … das sag ich nur Ihnen … kam immer wieder diese sinnlose Angst … aber das sagen Sie ihm nicht, um Gottes willen nicht! … es sei was nicht richtig mit dieser neuen Kur … als wollt er mich damit nur zum Narren halten … oder vielleicht nur Papa beruhigen … Sie sehen, ich werd es noch immer nicht los, dieses schreckliche Mißtrauen. Aber was kann man dafür? Wie soll man nicht argwöhnisch werden gegen sich, gegen alle, wenn einem so oft schon vorgeredet worden ist, man käme zu einem Ende, und dann ging es immer wieder so langsam, so schrecklich langsam. Nein, ich kann, ich kann dieses ewige Warten wirklich nicht länger ertragen!«
Sie hatte sich erregt aufgerichtet, ihre Hände begannen zu zittern. Rasch beugte ich mich näher zu ihr.
»Nein! Nicht … nicht sich wieder aufregen! Erinnern Sie sich, eben haben Sie mir versprochen …«
»Ja, ja, Sie haben recht! Es hilft nichts, wenn man sich quält, man quält nur die andern damit. Und die andern, was können die denn dafür! Man liegt ihnen ohnehin schon als eine Last auf dem Leben … Aber nein, ich wollte gar nicht davon reden, wirklich, ich wollte nicht … Ich wollte Ihnen nur danken, daß Sie mir meine dumme Aufgeregtheit nicht weiter übelgenommen haben und … daß Sie überhaupt immer so gut zu mir sind, so … so rührend gut, wie ich’s gar nicht verdiene … und daß ich gerade Sie … aber nicht wahr, wir reden nie mehr davon?«
»Nie mehr. Verlassen Sie sich darauf. Und jetzt ruhen Sie sich ausgiebig aus.«
Ich stand auf, um ihr die Hand zu reichen. Rührend sah sie aus, halb ängstlich noch und halb schon beruhigt von ihren Kissen zu mir emporlächelnd, ein Kind, ein Kind vor dem Schlafengehen. Alles war gut, die Atmosphäre aufgeklärt wie der Himmel nach einem Gewitter. Völlig unbefangen und beinahe fröhlich trat ich heran. Aber da schrak sie jäh empor.
»Um Himmels willen, was ist denn das? Ihre Uniform …«
Sie hatte die großen nassen Flecken auf meinem Rock bemerkt; schuldbewußt mußte sie sich erinnert haben, daß nur die in ihrem Sturz mitgerissenen Tassen dies kleine Malheur verursacht haben konnten. Sofort flüchteten ihre Augen unter die Lider, die schon ausgestreckte Hand zog sich verängstigt zurück. Aber gerade daß sie diese läppische Kleinigkeit so ernst nahm, wirkte auf mich ergreifend; um sie zu beruhigen, nahm ich zu einem lockeren Ton Zuflucht.
»Ach nichts«, spaßte ich, »nichts Ernstliches. Ein schlimmes Kind hat mich angeschüttet.«
Noch immer war Verstörung in ihrem Blick. Doch dankbar rettete sie sich hinüber in den spielerischen Ton.
»Und haben Sie das schlimme Kind dafür tüchtig verhauen?«
»Nein«, antwortete ich, schon ganz im Spielton. »Das war nicht mehr nötig. Das Kind ist längst wieder brav.«
»Und Sie sind ihm wirklich nicht mehr böse?«
»Nicht die Spur. Sie hätten hören müssen, wie schön es sein ›bitte um Verzeihung‹ gesagt hat!«
»Sie tragen’s ihm also gar nicht mehr nach?«
»Nein, vergeben und vergessen. Nur weiter brav bleiben muß es natürlich und alles tun, was man von ihm verlangt.«
»Und was soll es tun, das Kind?«
»Immer geduldig sein, immer freundlich bleiben, immer heiter. Nicht zu lang in der Sonne sitzen, viel spazierenfahren und alles genau befolgen, was der Arzt ihm befiehlt. Jetzt aber soll das Kind vor allem schlafen und nicht mehr reden und nachdenken. Gute Nacht.«
Ich gab ihr die Hand. Bezaubernd hübsch sah sie aus, wie sie da lag und mich glücklich anlachte mit glitzernden Augensternen. Warm und beschwichtigt legten sich fünf schmale Finger in meine Hand.
Dann ging ich, und das Herz war mir leicht. Schon rührte ich an die Klinke, da perlte von rückwärts noch ein kleines Lachen.
»War das Kind jetzt brav?«
»Tadellos. Es kriegt auch eine große Eins. Aber jetzt schlafen, schlafen, schlafen und an nichts Böses mehr denken!«
Ich hatte die Tür schon halb geöffnet, da flitzte noch einmal dieses Lachen mir nach, kindisch und verschmitzt. Und wieder kam von den Kissen die Stimme:
»Haben Sie vergessen, was ein braves Kind bekommt, vor dem Schlafengehen?«
»Nun?«
»Ein braves Kind bekommt einen Gutenachtkuß.«
Irgendwie wurde mir nicht ganz behaglich. Es flackerte und flirrte ein kitzliger Ton in ihrer Stimme, der mir nicht gefiel; schon früher hatten ihre Augen mir zu fiebrig gefunkelt. Aber ich wollte die Reizbare nicht verstimmen.
»Ach ja, natürlich«, sagte ich scheinbar lässig. »Das hätte ich beinahe vergessen.«
Ich ging die paar Schritte zurück bis zu ihrem Bett und spürte an einer plötzlichen Stille, daß ihr Atem aussetzte. Unablässig blieben ihre mitwandernden Augen auf mich gerichtet, indes der Kopf reglos in den Kissen verharrte. Keine Hand, kein Finger rührte sich, einzig die beobachtenden Augen wanderten mit mir und ließen mich nicht los.
Rasch, rasch, dachte ich mit wachsendem Unbehagen: so beugte ich mich eiligst nieder und streifte leicht und flüchtig mit den Lippen ihre Stirn. Mit Absicht rührte ich kaum an ihre Haut und spürte nur von nahe den verworrenen Duft ihres Haares.
Aber da fuhren ihre beiden Hände, die offenbar wartend auf der Decke gelegen, plötzlich empor. Wie Klammern umpreßten sie von beiden Seiten, ehe ich den Kopf wegwenden konnte, meine Schläfen und rissen mir den Mund von der Stirne nieder an ihre Lippen. So heiß, so saugend und gierig preßten sie sich an, daß die Zähne die Zähne berührten, und gleichzeitig wölbte und spannte sich drängend ihre Brust empor, um meinen herabgebeugten Körper zu berühren, zu spüren. Nie in meinem Leben hab ich mehr einen derart wilden, einen so verzweifelten, einen so durstigen Kuß empfangen wie von diesem verkrüppelten Kind.
Und nicht genug, nicht genug! Mit einer trunkenen Kraft hielt sie mich an sich gepreßt, bis ihr der Atem versagte. Dann lockerte sich der Griff, erregt begannen ihre Hände wegzuwandern von den Schläfen und in meinem Haar zu wühlen. Aber sie gab mich nicht frei. Einen Augenblick nur ließ sie mich los, um zurückgelehnt, wie verzaubert, meine Augen anzustarren, dann riß sie mich neuerdings an sich, küßte ziellos und heiß meine Wangen, meine Stirn, meine Augen, meine Lippen mit einer wilden und zugleich ohnmächtigen Gier. Bei jedem dieser Anrisse stammelte, stöhnte sie: »Dummkopf … Dummkopf … du Dummkopf …« und immer heißer »du, du, du«. Immer gieriger, immer leidenschaftlicher wurde dieser Überfall, immer heftiger, immer spasmischer faßte und küßte sie mich. Und plötzlich, wie ein Tuch reißt, ging ein Ruck durch sie hin … Sie ließ mich los, der Kopf fiel zurück in die Kissen, und nur ihre Augen funkelten mich noch triumphierend an.
Und dann flüsterte sie, hastig sich wegwendend von mir, gleichzeitig erschöpft und schon beschämt: »Geh jetzt, geh, du Dummkopf … geh!«
Ich ging, nein, ich taumelte hinaus. Schon in dem dunklen Gang verließ mich die letzte Kraft. Ich mußte mich festhalten an der Wand, so schwindlig kreiselten mir die Sinne. Das also war es, das! Das jenes Geheimnis, das zu spät enthüllte, ihrer Unruhe, ihrer mir bisher unerklärlichen Aggressivität. Mein Schrecken war namenlos. Mir war wie einem, der sich arglos über eine Blume beugt, und eine Natter fährt ihm entgegen. Wenn die Empfindliche mich geschlagen, mich beschimpft, mich bespien hätte – all das würde mich weniger entgeistert haben, denn auf Unberechenbares war ich jederzeit bei ihren flackernden Nerven gefaßt – nur auf dies eine nicht, dies eine, daß sie, die Kranke, die Zerstörte, lieben könnte und geliebt sein wollte. Daß dieses Kind, dieses Halbwesen, dieses unfertige und ohnmächtige Geschöpf sich (ich kann es nicht anders sagen) unterfing, zu lieben, zu begehren, mit der wissenden und sinnlichen Liebe einer wirklichen Frau. An alles hatte ich gedacht, nur an dies eine nicht, daß eine vom Schicksal Verstümmelte, die nicht Kraft genug hatte, den eigenen Körper zu schleppen, jemand andern als Liebenden, als Geliebten erträumen konnte, daß sie mich, der ich doch einzig aus Mitleid kam und immer wiederkam, so fürchterlich mißverstand. Aber in der nächsten Sekunde begriff ich bereits mit erneutem Entsetzen, daß nichts so sehr als gerade mein eigenes leidenschaftliches Mitleid die Hauptschuld trug, wenn dies von der Welt abgesperrte und verlassene Mädchen von mir, dem einzigen Manne, der es Tag um Tag in ihrem Kerker anteilnehmend besuchte, wenn es von diesem Narren seines Mitleids ein anderes, ein zärtliches Gefühl erwartete. Ich aber, ich Tölpel, unheilbar einfältig in meiner Ahnungslosigkeit, hatte nur die Leidende in ihr gesehen, die Gelähmte, das Kind und nicht die Frau. Nicht einen Augenblick, und auch nur im flüchtigsten, war es mir in den Sinn gekommen, mir innerlich vorzustellen, daß unter dieser hüllenden Decke ein nackter Körper atmete, fühlte, wartete, der Körper eines Weibes, der wie alle andern begehrte und begehrt sein wollte – nie hatte ich Fünfundzwanzigjähriger auch nur die Möglichkeit zu träumen gewagt, daß auch die Kranken, die Krüppel, die Unreifen, die Überalterten, die Ausgestoßenen, die Gezeichneten unter den Frauen es wagten, zu lieben. Denn vor dem wirklichen Leben und Erleben imaginiert und formt sich ein junger unerfahrener Mensch die Welt fast immer nur nach dem Abglanz des Erzählten, des Angelesenen, er träumt vor der eigenen Erfahrung unweigerlich fremde Bilder und Vorbilder nach. In jenen Büchern aber, jenen Theaterstücken, oder in den Kinos (diesen Verflachungen und Versimplungen der Wirklichkeit) waren es immer ausschließlich die jungen, die schönen, die auserlesenen Menschen, die einander begehrten; so hatte ich gemeint – darum auch meine Scheu vor manchen Abenteuern – man müsse besonders anziehend, besonders begnadet, besonders vom Schicksal bevorzugt sein, um die Neigung einer Frau auf sich zu ziehen. Nur darum war ich ja im Umgang mit diesen beiden Mädchen so arglos, so unbefangen geblieben, weil doch alles Erotische mir in unserer Beziehung von vorneweg ausgeschaltet schien und ich nie auf den Verdacht kam, sie könnten mehr in mir sehen als einen netten Jungen, einen guten Freund. Selbst wenn ich bei Ilona manchmal die sinnliche Hübschheit spürte – an Edith hatte ich nie als ein Wesen anderen Geschlechts gedacht; bestimmt hatte nie der Gedanke auch nur schattenhaft mir durch den Sinn gestreift, daß in ihrem verkümmerten Körper die gleichen Organe sich spannten und in ihrer Seele das gleiche Begehren drängte wie bei anderen Frauen. Erst von diesem Augenblick an begann ich allmählich (das meist von den Dichtern Verschwiegene) zu verstehen, daß gerade die Ausgesetzten, die Gezeichneten, die Häßlichen, die Verblühten, die Verkümmerten, die Zurückgestoßenen mit einer viel leidenschaftlicheren, einer viel gefährlicheren Gier begehren als die Glücklichen und Gesunden, daß sie lieben mit einer fanatischen, einer finsteren, einer schwarzen Liebe und keine Leidenschaft auf Erden gieriger, verzweifelter sich aufbäumt als eben jene aussichtslose, jene hoffnungslose der Stiefkinder Gottes, welche doch nur durch Liebe und Geliebtsein ihre irdische Existenz gerechtfertigt fühlen können. Daß gerade aus dem untersten Abgrund der Verzweiflung am grimmigsten der panische Schrei der Lebensgier aufstöhnt – dieses fürchterliche Geheimnis hatte ich, der Unerfahrene, der Unerprobte niemals zu ahnen gewagt! Erst in dieser Sekunde war diese Erkenntnis wie ein glühendes Messer in mich hineingestoßen.
Dummkopf! – auch das verstand ich jetzt, warum just dieses Wort ihr inmitten der Panik des Gefühls von der Lippe gefahren, während sie die halbgeformte Brust der meinen entgegenpreßte. Dummkopf! – ja, sie hatte recht, mich so zu nennen! Alle mußten längst alles durchschaut haben vom ersten Augenblick, der Vater und Ilona und der Diener und das übrige Gesinde. Alle mußten ihre Liebe, ihre Leidenschaft längst geargwöhnt haben, mit Erschrecken vielleicht und wahrscheinlich mit schlimmem Vorgefühl – nur ich ahnte nichts, der Narr meines Mitleids, der den guten, den braven, den tölpischen Kameraden spielte, der breitmäulig spaßte und nicht merkte, daß sie sich an meinem unverständigen, unverständlichen Nichtverstehen die brennende Seele zerquälte. Wie in einer schlechten Komödie der triste Held inmitten einer Intrige steht, jeder einzelne im Zuschauerraum weiß schon längst, daß er umstrickt ist, und nur er, der Tölpel allein, spielt todernst weiter, unbekümmert weiter und weiter und begreift noch immer nicht, in welches Netz er geriet (und die andern kennen schon jeden Faden und jede Masche von Anfang an) – so mußten alle im Haus zugesehen haben, wie ich herumtappte bei diesem albernen Blindekuhspiel des Gefühls, bis sie mir endlich gewaltsam die Binde von den Augen riß. Aber wie ein einziges aufflammendes Licht genügt, um in einem Zimmer gleichzeitig ein Dutzend Gegenstände zu erhellen, so wurde mir jetzt im nachhinein – zu spät, zu spät! – eine Unzahl Einzelheiten all dieser Wochen beschämend verständlich. Jetzt erst blitzte in mir auf, warum ich sie jedesmal erbitterte, wenn ich sie übermütig »Kind« nannte, sie, die doch gerade vor mir nicht als Kind gelten, sondern als Frau, als Geliebte ersehnt werden wollte. Jetzt erst begriff ich, warum ihr manchmal die Lippen unruhig bebten, wenn ihre Lahmheit mich sichtlich erschütterte, warum sie ingrimmig mein Mitleid haßte – offenbar erkannte hellseherisch der weibliche Instinkt in ihr, daß Mitleid ein viel zu laues Schwestergefühl und nur trister Ersatz wirklicher Liebe sei. Wie mußte die Arme gewartet haben auf ein Wort, auf ein Zeichen des Begreifens, das noch immer und immer nicht kam, wie mußte sie gelitten haben unter meiner plaudernden Unbefangenheit, indes sie auf dem glühenden Rost der Ungeduld lag und mit zuckender Seele wartete, wartete auf die erste zärtliche Geste, oder zumindest wartete, daß ich ihrer Leidenschaft endlich gewahr würde. Und ich, ich hatte nichts gesagt, nichts getan und war doch nicht fortgeblieben, sie unablässig bestärkend durch mein tägliches Kommen und gleichzeitig verstörend durch meine seelische Schwerhörigkeit – wie verständlich darum, daß ihr schließlich die Nerven rissen und sie mich nahm als ihre Beute!
All das jagte jetzt mit hundert Bildern in mich hinein, während ich, wie von einer Explosion hingeschlagen, in dem dunklen Gang an der Wand lehnte, den Atem ausgeschöpft und die Beine fast genau so lahm wie die ihren. Zweimal versuchte ich, mich weiterzutasten, erst das dritte Mal tappte ich hin bis an die Klinke. Hier geht es in den Salon, überlegte ich rasch, gleich links führt die Ausgangstür zur Halle, dort liegt mein Säbel und meine Kappe. Rasch also das Zimmer durch und fort, nur fort, ehe der Diener kommt. Gleich die Treppe hinab und fort, fort, fort! Sich retten aus dem Haus, bevor man jemandem begegnet, dem man Rede und Antwort stehen muß. Nur fort jetzt, nicht dem Vater in den Weg kommen, nicht Ilona, nicht Josef, keinem von allen, die mich narrenhaft weiterrennen ließen in diese Verstrickung! Fort, nur rasch fort!
Aber zu spät! Im Salon wartete – offenbar hatte sie meinen Schritt schon gehört – Ilona. Kaum daß sie mich erblickte, veränderte sich ihr Gesicht.
»Jesus Maria, was ist denn? Sie sind ja ganz blaß … Ist … ist mit Edith wieder etwas passiert.«
»Nichts, nichts«, fand ich gerade noch Kraft zu stammeln und wollte weiter. »Ich glaube, sie schläft jetzt. Verzeihung, ich muß nach Hause.«
Jedoch etwas Erschreckendes muß in meinem brüsken Gehaben gewesen sein, denn Ilona faßte mich resolut am Arm und drückte, ja stieß mich in einen Fauteuil.
»Da, setzen Sie sich zunächst einmal nieder. Sie müssen erst zu sich kommen … Und Ihr Haar … wie sieht denn Ihr Haar aus? Sie sind ja ganz zerzaust … Nein, bleiben Sie« – ich wollte aufspringen – »ich hol einen Kognak.«
Sie lief zum Schrank, füllte ein Glas, und ich kippte es rasch hinab. Beunruhigt blickte Ilona mir zu, wie ich mit zitternder Hand das Glas abstellte (nie in meinem Leben hatte ich mich so schwach, so ausgeschöpft gefühlt). Dann setzte sie sich still zu mir und wartete, ohne zu sprechen, manchmal nur von der Seite vorsichtig den beunruhigten Blick zu mir aufhebend, wie man einen Kranken beobachtet. Endlich fragte sie:
»Hat Edith Ihnen … etwas gesagt … ich meine, etwas, das … das Sie selber betrifft?«
An ihrer teilnehmenden Art spürte ich, daß sie alles ahnte. Und ich war zu schwach, um mich zu wehren. Leise nur murmelte ich: »Ja.«
Sie rührte sich nicht. Sie antwortete nicht. Ich merkte bloß, daß ihr Atem mit einmal heftiger ging. Vorsichtig beugte sie sich heran.
»Und das … das haben Sie wirklich erst jetzt bemerkt?«
»Wie konnte ich denn so etwas ahnen … einen solchen Unsinn! Einen solchen Irrsinn! … Wie kommt sie denn darauf … wie denn auf mich … warum gerade auf mich? …«
Ilona seufzte. »O Gott – und sie meinte immer, Sie kämen nur ihretwegen … Sie kämen deshalb zu uns. Ich … ich habe es ja nie geglaubt, weil Sie so … so unbefangen waren und so … so herzlich auf eine andere Art. Ich habe vom ersten Moment an gefürchtet, daß es bei Ihnen nur Mitleid ist. Aber wie konnte ich das arme Kind warnen, wie so grausam sein, ihr einen Wahn auszureden, der sie glücklich machte … Seit Wochen lebt sie einzig in dem Gedanken, daß Sie … Und wenn sie mich dann immer fragte und fragte, ob ich glaubte, daß Sie sie wirklich gerne hätten, da konnte ich doch nicht roh sein … Ich mußte sie doch beruhigen und bestärken.«
Ich vermochte nicht länger, an mich zu halten. »Nein, im Gegenteil, Sie müssen es ihr ausreden, unbedingt ausreden. Es ist doch ein Wahnsinn von ihr, ein Fieber, eine kindische Marotte … nichts als die übliche Backfischschwärmerei für die Uniform, und wenn morgen ein anderer kommt, so wird’s eben der andere sein. Sie müssen ihr das erklären … Sie müssen ihr das rechtzeitig ausreden. Es ist doch nur ein Zufall, daß ich es bin, daß ich es war, der da kam, und nicht ein anderer, ein besserer von meinen Kameraden. So etwas vergeht ganz rasch wieder in ihrem Alter …«
Aber Ilona schüttelte traurig den Kopf. »Nein, lieber Freund, täuschen Sie sich nichts vor. Bei Edith ist das ernst, fürchterlich ernst und wird sogar von Tag zu Tag gefährlicher … Nein, lieber Freund, ich kann etwas derart Schweres nicht plötzlich für Sie leicht machen. Ach, wenn Sie ahnten, was hier im Haus vorgeht … Dreimal, viermal schrillt mitten in der Nacht die Glocke, rücksichtslos weckt sie uns alle auf, und wenn wir an ihr Bett laufen voll Angst, es sei etwas passiert, sitzt sie da, aufrecht, verstört, starrt vor sich hin und fragt uns immer dasselbe, dasselbe: ›Glaubst du nicht, daß er mich wenigstens ein bißchen, nur ganz, ganz wenig gernhaben kann? Ich bin doch nicht so häßlich.‹ Und dann verlangt sie einen Spiegel, doch sofort wirft sie ihn wieder weg, und im nächsten Augenblick erkennt sie selbst schon, daß es Wahnsinn ist, was sie tut, und zwei Stunden später beginnt es wieder von neuem. Den Vater fragt sie in ihrer Verzweiflung und Josef und die Dienstmädchen; sogar jene Zigeunerin von vorgestern – Sie erinnern sich – hat sie gestern noch einmal heimlich kommen und sich dasselbe von ihr wahrsagen lassen, noch einmal … Fünfmal hat sie Ihnen schon Briefe geschrieben, lange Briefe, und dann wieder zerrissen. Von morgens bis abends, von früh bis nachts denkt und spricht sie nichts anderes. Einmal verlangt sie, daß ich zu Ihnen gehen und auskundschaften soll, ob Sie sie gernhaben, nur ein bißchen gernhaben, oder ob … ob sie Ihnen lästig ist, weil Sie so schweigen und ausweichen. Sofort, sofort soll ich zu Ihnen, Sie abfangen auf dem Weg, und schon muß der Chauffeur springen und der Wagen wird geholt. Dreimal, viermal, fünfmal lernt sie mir jedes Wort ein, das ich Ihnen sagen, das ich Sie fragen soll. Und im letzten Moment, wenn ich schon draußen im Hausflur stehe, schrillt wieder die Glocke, ich muß in Hut und Mantel zurück und ihr schwören bei dem Leben meiner Mutter, nicht die geringste Anspielung zu machen. Ach, was wissen Sie! Für Sie endet’s ja, wenn Sie die Tür hinter sich schließen. Aber kaum sind Sie fort, so berichtet sie mir jedes Wort, das Sie ihr gesagt haben, sie fragt, ob ich glaube und ob ich meine – sage ich ihr dann: ›Du siehst doch, wie gern er dich hat‹, so schreit sie mich an: ›Du lügst! Es ist nicht wahr! Kein gutes Wort hat er mir heute gesagt‹, aber gleichzeitig will sie alles nochmals hören, dreimal muß ich es wiederholen und beschwören … Und dazu noch der alte Mann! Er ist ja seither vollkommen verstört, und dabei liebt und vergöttert er Sie genau wie sein Kind. Sie müßten ihn sehen, wie er mit seinen müden Augen stundenlang an ihrem Bett sitzt und sie streichelt und beruhigt, bis sie endlich einschläft. Und dann geht er selber ruhelos die ganze Nacht auf und ab, auf und ab in seinem Zimmer … Und Sie – Sie haben wirklich von all dem nichts bemerkt?«
»Nein!« Ich schrie es ganz laut, in der Unbeherrschtheit meiner Verzweiflung. »Nein, ich schwöre Ihnen, nichts! Nicht das Geringste! Glauben Sie, ich wäre überhaupt noch gekommen, ich hätte mich mit Euch hinsetzen können, Schach spielen und Domino, oder Grammophonplatten anhören, wenn ich geahnt hätte, was vorgeht? … Aber wie kann sie sich in einen solchen Wahn verrennen, daß ich … daß gerade ich … wie verlangen, daß ich auf einen solchen Unsinn, eine solche Kinderei eingehe? … Nein, nein, nein!«
Ich wollte aufspringen, so quälte mich der Gedanke, wider meinen Willen geliebt zu werden, aber Ilona faßte mich energisch am Handgelenk.
»Ruhig! Ich beschwöre Sie, lieber Freund – nicht sich aufregen, und vor allem, ich flehe Sie an, etwas stiller! Sie hat eine Art durch die Wände zu hören. Und bitte, werden Sie um Himmels willen nicht ungerecht. Die Arme hat es eben als ein Zeichen genommen, daß jene Botschaft gerade von Ihnen kam, daß Sie es waren, gerade Sie, der zuerst ihrem Vater von dieser neuen Kur berichtete. Mitten in der Nacht ist er damals gleich zu ihr hinaufgestürzt und hat sie aufgeweckt. Können Sie sich’s wirklich nicht ausdenken, wie die beiden geschluchzt und Gott gedankt haben, daß jetzt diese grauenhafte Zeit zu Ende ist, und daß sie beide überzeugt sind, sobald Edith geheilt ist, ein Mensch wie andere Menschen, würden Sie … ich brauch’s Ihnen nicht erst zu sagen. Eben darum dürfen Sie das arme Kind gerade jetzt nicht verstören, wo sie ihre Nerven braucht für die neue Kur. Wir müssen ungemein vorsichtig sein und sie, Gott behüte, nicht ahnen lassen, daß es Ihnen so … so furchtbar ist.«
Aber meine Verzweiflung hatte mich rücksichtslos gemacht. »Nein, nein, nein«, hämmerte ich heftig mit der Hand auf die Lehne. »Nein, ich kann nicht … ich will nicht geliebt sein, nicht so geliebt … Und ich kann auch jetzt nicht weiter so machen, als merkte ich nichts, ich kann nicht mehr unbefangen sitzen und Süßholz raspeln … ich kann nicht! Sie wissen ja nicht, was vorgefallen ist … dort, dort drüben und … sie mißversteht mich ganz. Ich habe doch nur Mitleid mit ihr gehabt. Nur Mitleid, sonst nichts und sonst gar nichts!«
Ilona schwieg und sah vor sich hin. Dann seufzte sie.
»Ja, das habe ich von Anfang an gefürchtet! Die ganze Zeit spüre ich’s schon in den Nerven … Aber, mein Gott was soll jetzt werden? Wie bringt man ihr das bei?«
Wir saßen stumm. Es war alles gesagt. Wir wußten beide, es gab keinen Weg, keinen Ausweg. Plötzlich richtete Ilona sich mit einem gespannten Ausdruck des Aufhorchens empor, und fast gleichzeitig hörte ich vom Eingang her das Knirschen eines anfahrenden Automobils. Das mußte Kekesfalva sein. Rasch fuhr sie auf.
»Besser, Sie begegnen ihm jetzt nicht … Sie sind zu erregt, um mit ihm unbefangen zu sprechen … Warten Sie, ich hol Ihnen rasch Kappe und Säbel, Sie verschwinden am einfachsten durch die rückwärtige Tür in den Park. Ich erfind schon eine Ausrede, warum Sie nicht über Abend bleiben konnten.«
Mit einem Sprung hatte sie meine Sachen geholt. Glücklicherweise war der Diener zum Wagen geeilt; so konnte ich unbemerkt an den Hofgebäuden vorbeikommen, und im Park beschleunigte dann die rasende Angst, ich müßte jemandem Rede stehen, meinen Schritt. Zum zweitenmal flüchtete ich, geduckt und scheu wie ein Dieb, aus dem verhängnisvollen Hause.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.