Kapitel 23


Wir durchschritten zuerst das Wartezimmer, dann öffnete Condor die Tür zu dem nächsten Raum. An dem noch nicht abgeräumten Speisetisch saß seine Frau und strickte. Nichts an ihrer beharrlichen Tätigkeit hätte vermuten lassen, daß hier blinde Hände so leicht und sicher die Nadeln gegeneinander spielten, und sauber-gradlinig standen das Körbchen mit Wolle und die Schere aufgereiht. Erst als die Niedergeneigte die leeren Pupillen zu uns aufhob und sich auf ihrer glatten Rundung miniaturhaft die Lampe spiegelte, wurde die Unempfindlichkeit ihrer Augen offenbar.


»Nun, Klara, haben wir Wort gehalten?« sagte Condor, zärtlich auf sie zutretend, mit jenem schwingenden Ton, der immer weich aus seiner Kehle bebte, wenn er sich an sie wandte. »Nicht wahr, es hat nicht lang gedauert! Und wenn du es wüßtest, wie froh ich bin, daß der Herr Leutnant mich aufgesucht hat! Du mußt nämlich wissen – aber setzen Sie sich doch einen Augenblick, lieber Freund – daß er in derselben Stadt in Garnison steht, wo die Kekesfalvas wohnen, du erinnerst dich doch an meine kleine Patientin.«


»Ach, das arme lahme Kind, nicht wahr?«


»Und nun verstehst du auch: durch den Herrn Leutnant erfahre ich ab und zu, ohne daß ich eigens hinfahren muß, was es dort Neues gibt. Er geht fast jeden Tag hinaus, um sich ein bißchen der Armen anzunehmen, und leistet ihr Gesellschaft.«


Die Blinde wandte den Kopf in die Richtung, wo sie mich vermutete. Etwas Weiches glättete mit einem Mal ihre harten Züge.


»Wie gut von Ihnen, Herr Leutnant! Ich kann mir denken, wie ihr das wohltut!« nickte sie mir zu; unwillkürlich rückte ihre Hand auf dem Tisch näher an mich heran.


»Ja, gut auch für mich«, fuhr Condor fort, »sonst müßte ich viel öfter hinaus, um sie in ihrem nervösen Zustand aufzurichten. Da bedeutet’s mir eine große Entlastung, daß gerade in dieser letzten Woche, ehe sie zur Erholung in die Schweiz fährt, Leutnant Hofmiller bei ihr ein bißchen aufpaßt. Man hat’s mit ihr nicht immer leicht, aber er nimmt sich der Armen wirklich wunderbar an, ich weiß, er läßt mich nicht im Stich. Auf ihn kann ich mich besser als auf meine Assistenten und Kollegen verlassen.«


Ich verstand sofort, daß Condor mich noch fester binden wollte, indem er mich in Gegenwart dieser anderen Hilflosen verpflichtete; aber ich nahm das Versprechen gern auf mich.


»Selbstverständlich können Sie sich auf mich verlassen, Herr Doktor. Ich gehe bestimmt diese letzten acht Tage vom ersten bis zum letzten hinaus und würde Ihnen den kleinsten Zwischenfall sofort telephonisch melden. Jedoch es wird« – ich blickte ihn über die Blinde hinweg bedeutsam an – »es wird keinen Zwischenfall und keine Schwierigkeiten geben. Ich bin dessen so viel wie gewiß.«


»Ich auch«, bestätigte er mit einem kleinen Lächeln. Wir verstanden uns ganz. Aber da begann um den Mund seiner Frau eine kleine Anstrengung. Man sah, daß etwas sie quälte.


»Ich hab mich noch gar nicht bei Ihnen entschuldigt, Herr Leutnant. Ich fürchte, ich bin vorhin ein bißchen … ein bißchen unfreundlich zu Ihnen gewesen. Aber das dumme Mädel hatte niemanden gemeldet, ich hatte keine Ahnung, wer da im Zimmer wartete, und Emmerich hat mir noch nie von Ihnen erzählt. So meinte ich, es wäre jemand Fremder, der ihn aufhalten will, und er ist doch immer todmüde, wenn er nach Hause kommt.«


»Sie haben ganz recht gehabt, gnädige Frau, und Sie sollten sogar noch strenger sein. Ich fürchte – verzeihen Sie meine Unbescheidenheit – Ihr Herr Gemahl gibt zu viel von sich her.«


»Alles«, unterbrach sie mich heftig und rückte mit dem Sessel leidenschaftlich näher heran. »Alles, sage ich Ihnen, gibt er her, seine Zeit, seine Nerven, sein Geld. Er ißt nicht, er schläft nicht wegen seiner Kranken. Jeder beutet ihn aus, und ich, mit meinen blinden Augen, kann ihm nichts abnehmen, kann ihm nichts wegschaffen. Wenn Sie wüßten, wie ich um ihn in Sorge bin! Den ganzen Tag denke ich: jetzt hat er noch nichts gegessen, jetzt sitzt er schon wieder in der Bahn, in der Tramway, und in der Nacht werden sie ihn wieder wecken. Für alle hat er Zeit, nur für sich selbst nicht. Und mein Gott, wer dankt ihm dafür? Niemand! Niemand!«


»Wirklich niemand?« beugte er sich lächelnd über die Erregte.


»Natürlich«, errötete sie. »Aber ich kann doch gar nichts für ihn leisten! Wenn er heimkommt von der Arbeit, bin ich jedesmal ganz zerquält vor Angst. Ach, wenn Sie nur Einfluß auf ihn nehmen könnten! Er brauchte jemanden, der ihn ein bißchen zurückhält. Man kann doch nicht allen helfen …«


»Aber versuchen muß man’s«, sagte er und blickte mich dabei an. »Dafür lebt man doch. Nur dafür.« Ich spürte die Mahnung bis nach innen dringen. Aber ich ertrug diesen Blick, seit ich wußte, daß ich entschlossen war.


Ich erhob mich. Ich hatte in diesem Moment ein Gelöbnis geleistet. Kaum, daß sie das Rücken meines Stuhles vernahm, hob die Blinde die Augen.


»Müssen Sie wirklich schon gehen?« fragte sie mit ehrlichem Bedauern. »Wie schade, wie schade! Aber nicht wahr, Sie kommen bald wieder?«


Mir war sonderbar zumute. Was ist das mit mir, staunte ich innerlich, daß alle zu mir Vertrauen haben, daß diese Blinde ihre leeren Augen strahlend gegen mich hebt, daß dieser Mann, ein beinahe Fremder, mir jetzt freundschaftlich den Arm um die Schulter legt? Schon als ich die Treppe hinunterging, verstand ich nicht mehr, was vor einer Stunde mich hierhergetrieben. Warum hatte ich denn eigentlich fliehen wollen? Weil irgendein bärbeißiger Vorgesetzter mich beschimpft hatte? Weil ein Wesen, ein armer verstümmelter Mensch in Liebe zu mir verging? Weil jemand an mir sich festhalten, sich aufrichten wollte? Es war doch wunderbar, zu helfen, das einzige, was sich wahrhaft verlohnte und belohnte. Und diese Erkenntnis drängte mich, nun aus freiem Willen zu leisten, was ich gestern noch als unerträgliches Opfer empfunden: für die große, für die glühende Liebe eines Menschen diesem Menschen dankbar zu sein.


Acht Tage! – seit Condor meine Aufgabe befristet hatte, fühlte ich mich wieder meiner gewiß. Nur eine Stunde flößte mir noch Bangnis ein oder vielmehr jene einzige Minute, da ich Edith nach ihrem Bekenntnis zum erstenmal wieder entgegentreten sollte. Ich wußte, daß eine völlige Unbefangenheit nach so wilder Vertraulichkeit nicht mehr möglich war – der erste Blick nach jenem brennenden Kuß mußte die Frage enthalten: hast du mir vergeben? – und vielleicht noch die gefährlichere: duldest du meine Liebe und erwiderst du sie? Dieser erste Blick des Errötens, der verhaltenen und doch unaufhaltsamen Ungeduld, konnte, das fühlte ich deutlich, der gefährlichste und zugleich der entscheidende werden. Ein einziges ungeschicktes Wort, eine falsche Geste, und schon war grausam verraten, was ich nicht verraten durfte, und damit bereits jenes Brüske, jenes Beleidigende unwiderruflich geschehen, vor dem Condor mich so eindringlich gewarnt. War aber dieser Blick bestanden, dann war ich gerettet und hatte sie vielleicht für immer gerettet.


Aber kaum daß ich am nächsten Tage das Haus betrat, merkte ich schon, daß, hellsichtig durch die gleiche Besorgnis, Edith bereits Vorkehrungen getroffen hatte, um mir nicht allein zu begegnen. Bereits im Vorraum vernahm ich hell plaudernde Frauenstimmen; sie hatte also zu dieser ungewohnten Zeit, wo sonst niemals Gäste unser Beisammensein störten, sich Bekannte zum Schutz eingeladen, um den ersten kritischen Augenblick zu überbrücken.


Noch ehe ich den Salon betrat, eilte mir – entweder von Edith instruiert oder aus eigenem Antrieb – Ilona mit auffallendem Ungestüm entgegen, führte mich weiter und stellte mich der Frau des Bezirkshauptmanns und ihrer Tochter, einem bleichsüchtigen, sommersprossigen, mokanten Geschöpf, vor, von der ich übrigens wußte, daß Edith sie nicht leiden konnte; damit war jener erste Blick gleichsam abgeblendet, und schon schob mich Ilona hin an den Tisch. Man trank Tee und plauderte. Ich redete heftig auf das schnippische sommersprossige Provinzgänschen ein, während Edith mit der Mutter konversierte. Durch diese keineswegs zufällige Verteilung waren in den unterirdisch schwingenden Kontakt zwischen ihr und mir ein paar abdichtende Zwischenglieder eingeschaltet; ich konnte vermeiden, Edith anzuschauen, obwohl ich spürte, daß ihr Blick manchmal unruhig auf mir ruhte. Und auch, als die beiden Damen sich endlich erhoben, brachte die geschickte Ilona mit einem geschwinden Handgriff die Situation sofort in Ordnung.


»Ich begleite die Damen nur hinaus. Ihr könnt inzwischen eure Schachpartie schon anfangen. Ich hab dann noch ein bißchen mit den Vorbereitungen für die Reise zu tun, aber in einer Stunde bin ich wieder bei euch.«


»Haben Sie Lust auf eine Partie?« konnte ich jetzt Edith unbefangen fragen, und »Gern«, senkte Edith, indes die drei andern das Zimmer verließen, ihren Blick.


Sie behielt den Blick im Schoß, während ich das Brett hinstellte und umständlich, um Zeit zu gewinnen, die Figuren ordnete. Sonst pflegten wir, nach alter Schachregel, um über Angriff oder Verteidigung zu entscheiden, je eine weiße und eine schwarze Figur in der geschlossenen Faust hinter dem Rücken zu verbergen. Aber die Wahl hätte immerhin schon ein Sichansprechen, das eine Wort »rechts« oder »links« gefordert; selbst ihm wichen wir beide einverständlich aus, und ich stellte ohne weiteres die Figuren auf. Nur nicht sprechen! Nur alle Gedanken in das Karree der vierundsechzig Felder einsperren! Einzig auf die Figuren starren, nicht einmal auf die fremden Finger, die sie bewegen! Und so spielten wir mit jener vorgetäuschten Versunkenheit, wie sie sonst nur ganz verbissenen Schachmeistern eigen ist, die alles um sich herum vergessen und ihre ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Partie konzentrieren.


Bald aber verriet das Spiel schon selbst das Trügerische unseres Tuns. In der dritten Partie versagte Edith vollkommen. Sie machte falsche Züge, am Zucken ihrer Finger merkte ich deutlich, sie ertrug dieses unwahrhafte Schweigen nicht länger. Mitten im Spiel schob sie das Brett weg.


»Genug! Geben Sie mir eine Zigarette!«


Ich holte eine aus der ziselierten silbernen Dose und zündete beflissen ein Streichhölzchen an. Als das Licht aufflammte, konnte ich ihren Augen nicht ausweichen. Sie starrten völlig reglos, nicht mir zugewandt und auch nicht in eine bestimmte Richtung blickend; gleichsam erfroren in eisigem Zorn verharrten sie unbeweglich und fremd, jedoch über ihnen zuckten in zitterndem Bogen die gespannten Brauen. Ich verstand sofort das wetterleuchtende Zeichen, das bei ihr einen Nervenausbruch unvermeidlich ankündigte.


»Nicht!« mahnte ich ehrlich erschrocken. »Bitte nicht!«


Aber sie warf sich zurück in ihren Fauteuil. Ich sah das Zucken über den ganzen Körper hin fortströmen und die Finger sich immer tiefer in die Lehne einkrampfen.


»Nicht! nicht!« bat ich nochmals, mir fiel nichts anderes ein als dieses eine beschwörende Wort. Aber das aufgestaute Weinen war bereits durchgebrochen. Es war kein wildes, lautes Schluchzen, sondern – furchtbarer noch – ein stilles erschütterndes Weinen mit verbissenem Mund, ein Weinen, das sich seiner selbst schämte und das sie doch nicht zu bändigen vermochte.


»Nicht! Ich bitte Sie, nicht!« sagte ich und legte, mich nahe heranbeugend, um sie zu beruhigen, die Hand auf ihren Arm. Sofort lief es wie ein elektrischer Schlag über die Schultern hin und dann wie ein Riß quer durch den ganzen in sich gekrümmten Leib.


Und mit einmal hörte das Zucken auf, alles wurde wieder starr, sie rührte sich nicht mehr. Es war, als ob der ganze Körper wartete, als ob er lauschte, um zu verstehen, was diese fremde Berührung meinte. Ob sie Zärtlichkeit bedeutete oder Liebe oder nur Mitleid. Furchtbar war dieses Warten mit aussetzendem Atem, dieses Warten eines ganzen reglos lauschenden Körpers. Ich fand nicht den Mut, meine Hand zu entfernen, die so wunderbar jäh das aufschwellende Weinen beschwichtigt hatte, und hatte andererseits wieder nicht die Kraft, meine Finger zu einer Zärtlichkeit zu zwingen, die Ediths Körper, ihre brennende Haut – ich fühlte es – so dringlich erwartete. Wie etwas Fremdes ließ ich meine Hand liegen, und mir war, als käme an dieser einen Stelle ihr ganzes Blut mir warm und pulsend entgegen.


Willenlos verblieb meine Hand auf ihrem Arm, ich weiß nicht, wie lange, denn die Zeit stand während dieser Minuten so still wie die Luft in dem Zimmer. Dann aber spürte ich, daß ein leises Bemühen in ihren Muskeln begann. Abgewendeten Blicks, ohne mich anzuschauen, schob sie sanft mit ihrer Rechten meine Hand von ihrem Arm weiter hinüber zu sich, langsam zog sie sie näher zu dem Herzen, und nun gesellte sich zaghaft und zärtlich auch ihre Linke dazu. Beide hielten sie meine große, schwere, nackte Männerhand sehr sachte fest und begannen ganz, ganz zart mit furchtsamen Liebkosungen. Zuerst wanderten ihre zärtlichen Finger nur wie neugierig um meine wehrlose, reglose Handfläche herum, hauchhaft bloß die Haut übergleitend. Dann fühlte ich, wie die dünnen kindlichen Tastungen mit vorsichtigem Strich vom Gelenk her bis an die Fingerspitzen sich emporwagten, wie sie innen und außen, außen und innen versucherisch die Formen nachschmeichelten, wie sie erschrocken zuerst innehielten bei den harten Nägeln, um dann auch diese rund zu umtasten und dann wieder die Adern entlang zu gleiten bis hinab zum Gelenk und abermals auf und nieder – es war ein zärtliches Erkunden, das niemals sich erkühnte, meine Hand wirklich fest zu nehmen, zu drücken, zu fassen. Nur wie laues Wasser einen umspült, nahte sich diese spielerische Liebkosung, ehrfürchtig und kindlich zugleich, staunend und verschämt. Und doch spürte ich, daß die Liebende in diesem einen hingegebenen Stück meines Ichs mich ganz umfing. Unwillkürlich hatte sich ihr Kopf tiefer in den Fauteuil zurückgelehnt, gleichsam um diese Berührung lustvoller zu genießen; wie eine Schlafende lag sie da, wie eine Träumende, die Augen geschlossen, die Lippen weich geöffnet, und ein vollkommenes Ausruhen beschwichtigte und beglänzte zugleich ihr Antlitz, während immer und immer wieder, mit immer erneuter Beseligung, ihre zärtlichen Finger meine Hand von der Wurzel bis zu den Fingerspitzen umfuhren. Keinerlei Gier war in diesem innigen Berühren, nur eine stille, eine staunende Beglückung, endlich etwas von meinem Körper flüchtig besitzen zu dürfen und ihm unermeßliche Liebe zu bekunden; in keiner Umarmung einer Frau, selbst der glühendsten nicht, habe ich seither Zärtlichkeit mehr so erschütternd empfunden als in diesem zarten, beinahe träumerischen Spiel.


Wie lange dies dauerte, weiß ich nicht. Solche Erlebnisse sind jenseits der gewöhnlichen Zeit; es ging etwas Betäubendes, Betörendes, Hypnotisches von diesem scheuen Streifen und Streicheln aus, das mich mehr erregte und erschütterte als damals jener jähe, brennende Kuß. Noch immer fand ich nicht die Kraft, die Hand zurückzuziehen – »nur dulden sollst du meine Liebe«, erinnerte ich mich – ich genoß in einer dumpfen Traumhaftigkeit dies ständige Rieseln über meiner Haut bis in die Nerven und ließ es geschehen, machtlos, wehrlos und doch zugleich im Unterbewußtsein beschämt, so über alles Maß geliebt zu werden und meinerseits nichts zu empfinden als eine wirre Scheu, einen verlegenen Schauer.


Allmählich aber ward mir meine eigene Starre unerträglich – nicht die Liebkosung ermüdete, nicht das warme Gehen und Wandern der zärtlichen Finger, die hauchende und scheue Berührung, sondern es quälte mich, daß meine Hand dermaßen tot dort lag, als ob sie nicht zu mir gehörte, und dieser Mensch, der sie liebkoste, nicht zu meinem Leben. Ich wußte, wie man im Halbschlaf die Glocken hört von den Türmen, daß ich irgendeine Antwort geben mußte, – entweder mich dieser Liebkosung erwehren oder sie meinerseits erwidern. Aber nicht zum einen und nicht zum andern hatte ich die Kraft: nur ein Ende machen diesem gefährlichen Spiel, drängte es mich, und so schaltete ich vorsichtig die Muskeln an. Langsam, langsam, ganz langsam begann ich meine Hand aus der leichten Umstrickung loszulösen – unmerklich, wie ich hoffte. Aber die Empfindliche merkte sofort, noch ehe ich selbst darum wußte, dies beginnende Zurücknehmen; mit einem Ruck gab sie meine Hand gleichsam erschrocken frei. Die Finger fielen wie welk ab, plötzlich war die rieselnde Wärme fort von meiner Haut. Etwas verlegen nahm ich die verlassene Hand wieder an mich. Denn gleichzeitig hatte Ediths Gesicht sich verdunkelt, abermals begann das kindisch schmollende Zucken um die Mundwinkel.


»Nicht! nicht!« flüsterte ich ihr zu, ich fand kein anderes Wort. »Ilona muß gleich kommen.« Und da ich sah, daß sie bei diesen leeren, kraftlosen Worten nur noch heftiger zu zittern begann, faßte mich wieder jenes jäh aufbrennende Mitleid. Ich beugte mich zu ihr nieder und küßte sie mit fliehender Berührung auf die Stirn.


Aber streng, grau und abwehrend starrten ihre Pupillen mich an und gleichsam durch mich hindurch, als könnten sie die Gedanken hinter meiner Stirne erraten. Ich hatte ihr hellsichtiges Gefühl nicht zu täuschen vermocht. Sie hatte gemerkt, daß ich mich selbst mit der flüchtenden Hand ihrer Zärtlichkeit entzogen und daß dieser hastige Kuß nicht wirkliche Liebe, sondern bloß Verlegenheit und Mitleid gewesen war.


Das blieb mein Fehler in diesen Tagen, mein irreparabler, mein unverzeihlicher Fehler, daß ich trotz allem leidenschaftlichen Bemühen nicht die äußerste Geduld aufbrachte, nicht die letzte Kraft, mich zu verstellen. Vergebens hatte ich mir vorgenommen, mit keinem Wort, keinem Blick, keiner Geste ahnen zu lassen, daß ihre Zärtlichkeit mich bedrückte. Immer und immer wieder brachte ich mir Condors Warnung zum Bewußtsein, welche Gefährdung, welche Verantwortung ich verschuldete, wenn ich diese Verletzliche verletzte. Laß dich lieben von ihr, sagte ich mir immer wieder, verbirg dich, verstell dich diese acht Tage lang, um ihren Stolz zu schonen. Laß sie nicht ahnen, daß du sie betrügst, doppelt betrügst, indem du mit heiterer Sicherheit von ihrer baldigen Genesung sprichst und gleichzeitig innerlich zitterst vor Scheu und Scham. Tu unbefangen, ganz unbefangen, mahnte ich mich immer wieder, versuch’s deiner Stimme Herzlichkeit, deinen Händen Zärtlichkeit und Zartheit zu geben.


Aber zwischen einer Frau, die ihre Neigung an einen Mann einmal verraten, und diesem Mann schwingt eine feurige, eine geheimnisvolle, eine gefährliche Luft. Liebenden ist immer unheimliche Hellsichtigkeit für das wahre Glück des Geliebten zu eigen, und da Liebe ihrem innersten Wesen gemäß allemal das Grenzenlose will, muß alles Maßvolle, alles Gemäßigte ihr widrig, ihr unerträglich sein. In jedem Gehemmtsein und Eingedämmtsein des andern ahnt sie den Widerstand, in jedem Nicht-voll-sich-Gewähren mit Recht die verborgene Gegenwehr. Und etwas mußte damals offenbar verlegen und verwirrt in meiner Haltung, etwas unehrlich und ungeschickt in meinen Worten gewesen sein, denn alle meine Bemühungen hielten ihrem wachsamen Warten nicht stand. Das Letzte gelang mir nicht: sie zu überzeugen, und immer unruhiger ahnte ihr Mißtrauen, daß ich das Eigentliche, das Einzige nicht gab, das sie von mir begehrte: die Gegenliebe der Liebe. Manchmal hob sie inmitten des Gesprächs – und gerade dann, wenn ich am eifrigsten um ihr Zutrauen, um ihre Herzlichkeit warb – den grauen Blick scharf zu mir empor; dann mußte ich immer die Lider senken. Mir war, als hätte sie eine Sonde hinabgestoßen, um den untersten Grund meines Herzens zu erkunden.


Drei Tage ging das so, eine Qual für mich, eine Qual für sie; ununterbrochen spürte ich dies stumme gierige Warten in ihren Blicken, in ihrem Schweigen. Dann – ich glaube, es war am vierten Tage – begann jene merkwürdige Feindseligkeit, die ich zuerst nicht begriff. Ich war wie gewöhnlich schon frühnachmittags gekommen und hatte ihr Blumen gebracht. Sie nahm sie, ohne recht aufzublicken, legte sie lässig zur Seite, um mir mit dieser betonten Gleichgültigkeit zu zeigen, ich sollte nicht hoffen, mich durch Geschenke freizukaufen. Nach einem beinahe verächtlichen »Ach, wozu denn so schöne Blumen!« verschanzte sie sich sofort wieder hinter einer demonstrativen und feindseligen Stummheit. Ich versuchte, unbefangene Konversation zu machen. Doch sie antwortete bestenfalls mit einem knappen »ach« oder »so« oder »merkwürdig, merkwürdig«, immer aber beleidigend deutlich markierend, daß mein Gespräch sie nicht im mindesten interessierte. Mit Absicht betonte sie schon rein äußerlich ihre Gleichgültigkeit: sie spielte mit einem Buch, blätterte es auf, legte es weg, tändelte mit allerhand Gegenständen, ein-, zweimal gähnte sie ostentativ, dann rief sie, mitten während ich erzählte, den Diener, fragte ihn, ob er den Chinchillapelz eingepackt habe, und erst als er bejaht hatte, wandte sie sich mir wieder zu mit einem kalten »Erzählen Sie nur weiter«, das den unausgesprochenen Nachsatz allzu deutlich erraten ließ, »es ist doch ganz gleichgültig, was Sie mir vorschwätzen«.


Schließlich fühlte ich meine Kraft erlahmen. Oft und öfter blickte ich nach der Tür, ob nicht endlich jemand kommen wollte, um mich von diesem verzweifelten Monologisieren zu erlösen, Ilona oder Kekesfalva. Aber auch dieser Blick entging ihr nicht. Mit verstecktem Hohn fragte sie scheinbar teilnahmsvoll: »Suchen Sie etwas? Wollen Sie etwas?«, und ich konnte zu meiner Beschämung nichts anderes erwidern als ein dummes: »Nein, durchaus nicht.« Wahrscheinlich hätte ich am vernünftigsten getan, den Kampf offen aufzunehmen und sie anzufahren: »Was wollen Sie eigentlich von mir? Warum quälen Sie mich? Ich kann ja auch fortgehen, wenn es Ihnen lieber ist.« Aber ich hatte doch Condor zugesagt, alles Brüske oder Herausfordernde zu vermeiden; statt die Last dieses böswilligen Schweigens mit einem Ruck von mir zu werfen, schleppte ich törichterweise das Gespräch durch zwei Stunden wie über heißen stummen Sand, bis endlich Kekesfalva erschien, scheu wie immer in der letzten Zeit und vielleicht noch verlegener: »Wollen wir nicht zu Tisch gehen?«


Und dann saßen wir rund um den Tisch, Edith mir gegenüber. Nicht ein einziges Mal blickte sie auf, zu niemandem sprach sie ein Wort. Alle drei spürten wir das Obstinate, das aggressiv Beleidigende ihrer verpreßten Stummheit. Um so gewaltsamer versuchte ich darum, Stimmung zu machen. Ich erzählte von unserem Obersten, der wie ein Quartalsäufer regelmäßig im Juni und Juli seine sogenannte »Manöverkrankheit« bekam, und wie er, je näher der Termin der großen Übung heranrückte, immer aufgeregter, immer federfuchsiger werde: ich schmückte, um die dumme Geschichte auszuwalken, obwohl der Kragen um meine Kehle sich gleichsam nach innen würgte, sie mit immer läppischeren Details aus. Jedoch nur die andern lachten, auch sie gezwungen und sichtlich bemüht, das peinliche Schweigen Ediths zu decken, die nun schon zum drittenmal ostentativ gähnte. Aber nur weitersprechen, sagte ich mir, und so erzählte ich, wie wir jetzt herumgehetzt würden, niemand wisse mehr ein und aus. Obwohl gestern zwei Ulanen mit Sonnenstich vom Pferd gefallen seien, nehme der rabiate Menschenschinder uns jeden Tag noch schärfer vor. Wann man aus dem Sattel komme, könne jetzt niemand mehr voraussagen, zwanzigmal, dreißigmal lasse er in seinem Manöverkoller die dümmste Übung wiederholen. Mit Müh und Not sei’s mir heute noch gelungen, mich rechtzeitig fortzudrücken, aber ob ich morgen ganz pünktlich kommen könnte, wüßte nur der liebe Gott und der Herr Oberst, der sich zur Zeit für seinen Statthalter auf Erden halte.


Dies war nun gewiß eine unschuldige Feststellung, die niemanden kränken oder erregen konnte; ganz locker, ganz heiter hatte ich sie zu Kekesfalva hinübergesprochen, ohne Edith überhaupt anzusehen (ich konnte längst ihren starr ins Leere gerichteten Blick nicht mehr ertragen). Da klirrte plötzlich etwas. Sie hatte das Messer, mit dem sie die ganze Zeit über nervös gespielt hatte, quer über den Teller geworfen und hieb in unser Aufschrecken scharf hinein:


»Nun, wenn’s Ihnen solche Scherereien macht, dann bleiben Sie eben in der Kaserne oder im Kaffeehaus. Wir werden’s schon ertragen.«


Als hätte jemand durch das Fenster geschossen, starrten wir alle atemlos auf.


»Aber Edith«, lallte Kekesfalva mit ganz trockener Zunge.


Doch sie warf sich im Sessel zurück und höhnte: »Nun, man hat doch Mitleid mit einem so geplagten Menschen! Warum soll er sich nicht einen Tag dienstfrei machen von uns, der Herr Leutnant! Ich für mein Teil spendier ihm gerne einen Feiertag.«


Kekesfalva und Ilona blickten einander verstört an. Beide verstanden sofort, daß eine lang aufgestaute Erregung mich völlig sinnlos ansprang; an der ängstlichen Art, wie sie sich mir zuwandten, ahnte ich ihre Besorgnis, ich würde grob dieser Grobheit erwidern. Eben darum nahm ich mich besonders zusammen.


»Wissen Sie, eigentlich haben Sie recht, Edith«, sagte ich so warmherzig, als es mir mit hämmerndem Herzen möglich war. »Einen guten Gesellschafter kriegt’s ihr wirklich nicht an mir, wenn ich dermaßen abgeschunden herauskomm; die ganze Zeit spür ich’s selber, daß ich Sie heute gründlich angeödet hab! Aber Sie sollten die paar Tage auch mit einem so abgerackerten Kerl vorliebnehmen. Wie lang wird’s denn noch sein, daß ich zu euch kommen darf? Auf ja und nein wird das Haus leer sein und ihr alle fort. Ich kann’s mir noch gar nicht ausdenken, daß wir im ganzen nur mehr vier Tage zusammen sein sollen, vier Tage oder eigentlich nur dreieinhalb Tage, ehe ihr …«


Aber da zuckte ein Lachen drüben auf, scharf und schrill, wie wenn ein Tuch durchreißt.


»Ha! Dreieinhalb Tage! Haha! Bis auf den halben Tag hat er sich’s ausgerechnet, wann er uns endlich los wird! Hat sich wahrscheinlich eigens einen Kalender gekauft und rot angezeichnet: Feiertag, unsere Abfahrt? Aber geben Sie nur acht! Man kann sich auch einmal gründlich verrechnen. Ha! Dreieinhalb Tage, drei und ein halb, ein halb, ein halb …«


Sie lachte immer heftiger, uns gleichzeitig mit hartem Blick anblitzend, aber sie zitterte, während sie lachte; es war eher ein böses Fieber, das sie schüttelte, als eine richtige Heiterkeit. Man merkte, am liebsten wäre sie aufgesprungen, was ja auch die natürlichste, die normalste Bewegung gewesen wäre bei solch aufrüttelnder Erregung; aber mit ihren hilflosen Beinen konnte sie nicht von ihrem Sessel weg. Diese gewaltsame Gebanntheit gab ihrem Zorn etwas von der Bösartigkeit und tragischen Wehrlosigkeit eines eingegitterten Tiers.


»Gleich, ich hole schon Josef«, flüsterte ihr ganz blaß Ilona zu, seit Jahren gewohnt, jede ihrer Bewegungen zu erraten, und sogleich trat der Vater an ihre Seite. Aber seine Angst erwies sich als überflüssig, denn wie jetzt der Diener eintrat, ließ sich Edith von ihm und Kekesfalva wortlos hinausführen, ohne sich mit einem Wort zu verabschieden oder zu entschuldigen; erst an unserer Betroffenheit war sie offenbar gewahr geworden, welche Verstörung sie verschuldet hatte.


Ich blieb mit Ilona allein. Mir war wie einem Menschen, der mit einem Flugzeug abgestürzt ist und aus der Erstarrung des Schreckens sich taumelig erhebt, unwissend, was eigentlich mit ihm geschah.


»Sie müssen es verstehen«, flüsterte Ilona mir hastig zu, »sie schläft jetzt keine Nacht mehr. Der Gedanke an die Reise regt sie furchtbar auf und … Sie wissen ja nicht …«


»Doch Ilona, ich weiß. Ich weiß alles«, sagte ich. »Eben darum komme ich morgen wieder.«

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