Kapitel 22
Er übersah zweifellos auf den ersten Blick die Situation. Aber nicht eine Sekunde lang verlor er die Fassung.
»Ach, du hast dem Herrn Leutnant Gesellschaft geleistet«, sagte er in seiner jovialen Art, hinter der er, das merkte ich nun schon, am liebsten starke Spannungen verbarg. »Wie lieb von dir, Klara.«
Gleichzeitig ging er auf die Blinde zu und strich ihr zart über das graue und verwirrte Haar. Sofort veränderte sich bei dieser Berührung ihr ganzer Ausdruck. Die Angst, die eben noch ihren großen, schweren Mund verzerrt hatte, glättete sich unter diesem einen zärtlichen Strich, und mit einem hilflos verschämten, einen geradezu bräutlichen Lächeln wandte sie sich, kaum daß sie seine Nähe spürte, ihm zu; rein und hell glänzte die etwas eckige Stirn im Reflex des Lichts. Unbeschreiblich war dieser Ausdruck persönlicher Beruhigung und Gesichertheit nach jenem Ausbruch der Heftigkeit. Anscheinend vergaß sie meine Gegenwart vollkommen über dem Glück, die seine zu fühlen. Ihre Hand tastete, magnetisch angezogen, ihm durch die leere Luft entgegen, und sofort, da die weich suchenden Finger seinen Rock erreichten, strichen sie schon rieselnd aber- und abermals den Arm entlang. Verstehend, daß ihr ganzer Körper seine Nähe suchte, trat er heran, und nun lehnte sie an ihm, wie ein völlig Erschöpfter hinsinkt zur Rast. Lächelnd legte er den Arm um ihre Schultern und wiederholte, ohne mich anzusehen:
»Wie lieb von dir, Klara«, und seine Stimme streichelte gleichsam mit.
»Verzeih mir«, begann sie sich zu entschuldigen, »aber ich hab dem Herrn doch erklären müssen, daß du erst dein Essen haben sollst, du mußt schrecklich hungrig sein. Den ganzen Tag unterwegs, und zwölfmal, fünfzehnmal hat’s inzwischen um dich telephoniert … Verzeih, daß ich dem Herrn sagte, er solle lieber morgen kommen, aber …«
»Diesmal, Kind«, lachte er und strich zugleich wieder mit der Hand über ihr Haar (ich verstand, er tat es, damit sein Lachen sie nicht kränken könnte), »hast du dich aber mit dem Abschieben gründlich geirrt. Dieser Herr, der Herr Leutnant Hofmiller, ist glücklicherweise kein Patient, sondern ein Freund, der schon lang versprochen hat, mich zu besuchen, wenn er einmal in die Stadt kommt. Er kann sich ja nur immer abends freimachen, bei Tag steckt er im Dienst. Jetzt bleibt nur die Hauptfrage: hast du auch für ihn etwas Gutes zum Nachtmahl?«
Neuerdings begann die ängstliche Spannung in ihrem Gesicht, und ich verstand an ihrem impulsiven Erschrecken, daß sie allein sein wollte mit dem Langentbehrten.
»Oh nein, danke«, lehnte ich eilig ab. »Ich muß gleich weiter. Ich darf den Nachtzug nicht versäumen. Ich wollte wirklich nur Grüße von draußen überbringen, und das kann in ein paar Minuten geschehen.«
»Ist draußen alles in Ordnung?« fragte Condor, mir scharf in die Augen blickend. Und irgendwie mußte er bemerkt haben, daß etwas nicht in Ordnung war, denn er fügte rasch hinzu: »Also hören Sie, lieber Freund, meine Frau weiß immer, wie’s mit mir steht, sie weiß es meist besser als ich selbst. Ich habe tatsächlich einen furchtbaren Hunger, und ehe ich nicht was gegessen und mir meine Zigarre verdient habe, bin ich zu nichts zu gebrauchen. Wenn’s dir recht ist, Klara, gehn wir zwei jetzt ruhig hinüber zum Essen und lassen den Herrn Leutnant ein bissel warten. Ich gebe ihm unterdessen ein Buch oder er ruht sich aus – Sie haben wohl auch einen ausgiebigen Tag hinter sich«, wandte er sich mir zu. »Wenn ich bei der Zigarre bin, komm ich zu Ihnen herüber, allerdings in Pantoffeln und Hausrock – nicht wahr, Herr Leutnant, Sie verlangen ja von mir keine große Toilette …«
»Und ich bleibe wirklich nur zehn Minuten, gnädige Frau … ich muß dann schleunigst zur Bahn.«
Dieses eine Wort erhellte wieder vollkommen ihr Gesicht. Beinahe freundlich wandte sie sich mir zu.
»Wie schade, daß Sie nicht mit uns speisen wollen, Herr Leutnant. Aber ich hoffe, Sie kommen ein anderes Mal.«
Ihre Hand kam mir entgegen, eine sehr zarte, schmale, schon etwas verblichene und verfaltete Hand. Ich küßte sie respektvoll. Und mit ehrlicher Ehrfurcht blickte ich zu, wie Condor die Blinde vorsichtig durch die Tür steuerte, geschickt verhütend, daß sie zur Rechten oder Linken anstreifte: es war, als hielte er etwas unsäglich Zerbrechliches und Kostbares in seiner Hand.
Zwei, drei Minuten blieb die Tür offen, ich hörte die leise schlurfenden Schritte sich entfernen. Dann kam Condor noch einmal zurück. Er hatte ein anderes Gesicht als vordem, jenes wachsame, scharfe Gesicht, das ich in den Augenblicken innerer Spannung an ihm kannte. Zweifellos hatte er begriffen, daß ich nicht ohne zwingenden Grund ihm unangemeldet ins Haus gefallen war.
»Ich komme in zwanzig Minuten. Wir sprechen dann alles rasch durch. Am besten, Sie legen sich inzwischen auf das Sofa oder strecken sich hier in den Fauteuil. Sie gefallen mir nicht, mein Lieber, Sie sehen schrecklich übermüdet aus. Und wir müssen doch beide frisch und konzentriert sein.«
Und rasch die Stimme umwechselnd, fügte er laut hinzu, um bis ins dritte Zimmer hörbar zu sein:
»Ja, liebe Klara, da bin ich schon wieder. Ich hab nur dem Herrn Leutnant rasch ein Buch hingelegt, damit er sich inzwischen nicht langweilt.«
Condors geschulter Blick hatte richtig gesehen. Jetzt erst, da er es ausgesprochen, merkte ich selbst, wie furchtbar übermüdet ich war von der zerstörten Nacht und dem mit Spannungen überfüllten Tag. Seinem Rate folgend – schon spürte ich, daß ich ganz seinem Willen verfallen war – streckte ich mich in den Fauteuil seines Ordinationszimmers, den Kopf ins Tiefe zurückgelehnt, die Hände lasch auf die weiche Lehne gestützt. Draußen mußte die Dämmerung während meines beklommenen Wartens völlig niedergesunken sein; ich unterschied im Raum kaum mehr etwas anderes als das silberne Blinken der Instrumente in dem hohen Glaskasten, und über der rückwärtigen Ecke rund um den Fauteuil, in dem ich ruhte, wölbte sich eine völlige Nische von Nacht. Unwillkürlich schloß ich die Augen, und sofort erschien, wie in einer Laterna magica, das Gesicht der Blinden mit jenem unvergeßlichen Übergang von Erschrecktheit in jähe Beglückung, kaum daß Condors Hand sie berührt, sein Arm sie umfangen hatte. Wunderbarer Arzt, dachte ich, wenn du nur auch mir so helfen könntest, und ich fühlte noch verworren, daß ich weiter denken wollte, an irgend jemand anderen, der ebenso unruhig und verstört gewesen und gleich ängstlich blickte, an irgend etwas Bestimmtes, um dessentwillen ich hierher gekommen war. Aber es gelang mir nicht mehr.
Plötzlich berührte mich eine Hand an der Schulter. Condor mußte leisesten Schritts in das völlig nachtschwarze Zimmer getreten sein oder vielleicht war ich wirklich eingeschlafen. Ich wollte aufstehen, aber er drückte mir, sanft und energisch zugleich, die Schultern nieder.
»Bleiben Sie. Ich setz mich zu Ihnen. Es spricht sich besser im Dunkeln. Nur eines bitte ich Sie: sprechen wir leise! Ganz leise! Sie wissen ja, bei Blinden entwickelt sich manchmal auf magische Weise das Gehör und dazu noch ein geheimnisvoller Instinkt des Erratens. Also« – und dabei strich mir seine Hand wie hypnotisierend von der Schulter den Arm herab bis zu meiner Hand – »erzählen Sie und haben Sie keine Scheu. Ich habe gleich bemerkt, daß was mit Ihnen los ist.«
Sonderbar – in dieser Sekunde fiel es mir ein. Ich hatte in der Kadettenschule einen Kameraden gehabt, Erwin hieß er, zart und blond wie ein Mädchen; ich glaube, ich war sogar auf uneingestandene Weise ein wenig in ihn verliebt. Bei Tag sprachen wir fast nie miteinander oder bloß über gleichgültige Dinge; wahrscheinlich schämten wir uns beide unserer heimlichen und uneingestandenen Neigung. Nur nachts im Schlafsaal, wenn die Lichter gelöscht waren, fanden wir manchmal Mut; aufgestützt auf den Ellenbogen in unseren nachbarlichen Betten, erzählten wir uns im schützenden Dunkel, während alle anderen im Zimmer schliefen, unsere kindischen Gedanken und Betrachtungen, um dann am nächsten Morgen uns unfehlbar mit der gleichen Befangenheit wieder auszuweichen. Jahre und Jahre hatte ich mich an diese flüsternden Geständnisse, die das Glück und Geheimnis meiner Knabenjahre gewesen, nicht mehr erinnert. Aber nun, da ich ausgestreckt lag und das Dunkel um mich schattete, vergaß ich gänzlich meinen Vorsatz, mich vor Condor zu verstellen. Ohne daß ich es wollte, wurde ich völlig aufrichtig; und wie damals dem Kameraden der Kadettenschule die kleinen Erbitterungen und großen, wilden Träume unserer kindischen Jugend, berichtete ich nun – und es war eine geheime Lust des Gestehens dabei – Condor den unvermuteten Ausbruch Ediths, mein Entsetzen, meine Angst, meine Verstörung. Alles erzählte ich in dieses schweigsame Dunkel, in dem sich nichts regte als die beiden Augengläser, die manchmal, wenn er den Kopf bewegte, undeutlich blitzten.
Dann kam ein Schweigen und nach dem Schweigen ein merkwürdiger Laut. Offenbar hatte Condor die Finger gegeneinander gepreßt, daß die Gelenke knackten.
»Das also war’s«, knurrte er unwillig. »Und ich Dummkopf konnte so was übersehen! Immer wieder dasselbe, daß man hinter der Krankheit den Kranken nicht mehr spürt. Mit diesem akkuraten Untersuchen und Herumtasten nach allen Symptomen greift man gerade am Wesentlichen vorbei, an dem, was in dem Menschen selber vorgeht. Das heißt – etwas habe ich gleich bei dem Mädel gespürt; Sie erinnern sich, wie ich nach der Untersuchung den Alten fragte, ob nicht jemand anderer in die Behandlung eingegriffen hätte – dieser plötzliche und hitzige Wille, rasch-rasch gesund zu werden, hatte mich sofort stutzig gemacht. Ich hatte schon ganz richtig getippt, daß da jemand Fremder im Spiel war. Aber ich Schwachkopf dachte nur an einen Barbier oder Magnetiseur; ich glaubte, irgendein Hokuspokus hätt ihr den Kopf verdreht. Einzig an das Einfachste, das Logische habe ich nicht gedacht, nur an das nicht, was klar auf der Hand lag. Verliebtheit gehört im Übergangsalter doch geradezu organisch zu einem Mädchen. Nur vertrackt, daß das gerade jetzt passieren muß und derart vehement – o Gott, das arme, das arme Kind!«
Er war aufgestanden. Ich hörte das Auf und Ab seiner kurzen Schritte und den Seufzer:
»Schrecklich, just jetzt muß das geschehen, da wir diese Sache mit der Reise angezettelt haben. Und dabei kann kein Gott das mehr zurückschrauben, weil sie sich suggeriert, sie müsse für Sie geheilt werden, nicht für sich selbst. Furchtbar, o furchtbar wird das werden, wenn dann der Rückschlag kommt. Jetzt, da sie alles erhofft und fordert, wird keine kleine Besserung ihr mehr genügen, kein bloßer Fortschritt! Mein Gott, was für eine schreckliche Verantwortung haben wir da übernommen!«
In mir regte sich plötzlich ein Widerstand. Mich ärgerte dieses Mich-einbeziehen. Ich war doch gekommen, um mich freizumachen. So unterbrach ich entschieden:
»Ich teile ganz Ihre Meinung. Die Folgen werden unabsehbar. Man muß diesen unsinnigen Wahn rechtzeitig abstellen. Sie müssen energisch eingreifen. Sie müssen ihr sagen …«
»Was sagen?«
»Nun … daß diese Verliebtheit einfach eine Kinderei, ein Unsinn ist. Sie müssen ihr das ausreden.«
»Ausreden? Was ausreden? Einer Frau ihre Leidenschaft ausreden? Ihr sagen, sie soll nicht fühlen, wie sie fühlt? Nicht lieben, wenn sie liebt? Das wäre kerzengrad das Allerfalscheste, was man tun könnte, und das Dümmste zugleich. Haben Sie je gehört, daß man mit Logik aufkommt gegen eine Leidenschaft? Daß man dem Fieber zureden kann: ›Fieber, fiebre nicht‹ oder dem Feuer: ›Feuer, brenn’ nicht!‹ Ein schöner, ein wahrhaft menschenfreundlicher Gedanke, einer Kranken, einer Gelähmten ins Gesicht zu schreien: ›Red’ dir um Gottes willen nicht ein, daß auch du lieben darfst! Gerade von dir ist es anmaßend, Gefühl zu zeigen, Gefühl zu erwarten – du hast zu kuschen, weil du ein Krüppel bist! Marsch in den Winkel! Verzichte, gib’s auf! Gib dich selber auf!‹ – So wünschen Sie offenbar, daß ich mit der Armen rede. Aber denken Sie sich gütigst dazu auch die gloriose Wirkung aus!«
»Aber gerade Sie müssen …«
»Warum ich? Sie haben doch ausdrücklich alle Verantwortung auf sich genommen? Warum jetzt justament ich?«
»Ich kann ihr doch nicht selbst zugeben, daß …«
»Sollen Sie auch gar nicht! Dürfen Sie auch gar nicht! Erst sie verrückt machen und dann auf einen Hieb Vernunft fordern! … Das fehlte gerade noch! Selbstredend dürfen Sie mit keinem Ton und keinem Wink das arme Kind ahnen lassen, daß seine Zuneigung Ihnen peinlich ist – das hieße doch geradezu einen Menschen mit dem Beil auf den Kopf schlagen!«
»Aber …« – die Stimme versagte mir – »jemand muß ihr schließlich doch klarmachen …«
»Was klarmachen? Drücken Sie sich freundlichst präziser aus!«
»Ich meine … daß … daß das völlig aussichtslos ist, völlig absurd … damit sie dann nicht … wenn ich … wenn ich …«
Ich stockte. Auch Condor schwieg. Er wartete offenbar. Dann machte er unvermittelt zwei starke Schritte zur Tür und griff an den Lichtschalter. Scharf und mitleidslos – der grelle Schuß Licht zwang mich unwillkürlich, die Lider zu schließen – fuhren drei weiße Flammen in die Glühbirnen. Mit einem Schlag war das Zimmer taghell.
»So!« skandierte Condor heftig. »So, Herr Leutnant! Ich seh schon, man darf’s Ihnen nicht zu bequem machen. Hinter dem Dunkel versteckt man sich zu leicht, und bei gewissen Dingen ist’s besser, sich klar in die Pupillen zu schauen. Also Schluß mit dem quatschigen Hin und Her, Herr Leutnant – hier stimmt etwas nicht. Ich laß mir nicht einreden, Sie seien bloß gekommen, um mir diesen Brief zu zeigen. Dahinter steckt etwas. Sie haben, spür ich, etwas Bestimmtes vor. Entweder äußern Sie sich da ehrlich, oder ich muß für Ihren Besuch danken.«
Die Brille blitzte mich scharf an; ich hatte Furcht vor ihrem spiegelnden Rund und blickte nieder.
»Nicht sehr imposant, Ihr Schweigen, Herr Leutnant. Deutet nicht eben auf ein sauberes Gewissen. Aber mir schwant schon ungefähr, was da gespielt wird. Keine Umschweife bitte: haben Sie am Ende die Absicht, auf diesen Brief … oder auf das andere hin plötzlich Schluß zu machen mit Ihrer sogenannten Freundschaft?«
Er wartete. Ich hob nicht den Blick. Seine Stimme nahm den fordernden Ton eines Examinators an.
»Wissen Sie, was das wäre, wenn Sie sich jetzt aus dem Staube machten? Jetzt, nachdem Sie mit Ihrem famosen Mitleid dem Mädel den Kopf verdreht haben?«
Ich schwieg.
»Nun, dann werde ich mir erlauben, Ihnen meine persönliche Qualifikation einer solchen Handlungsweise mitzuteilen – eine jämmerliche Feigheit wäre ein solches Auskneifen … ach was, zucken Sie nicht gleich militärisch auf! Lassen wir den Herrn Offizier und den Ehrenkodex aus dem Spiel! Hier geht’s schließlich um mehr als um solche Faxereien. Hier geht’s um einen lebendigen, einen jungen, einen wertvollen Menschen, und noch dazu um einen, für den ich verantwortlich bin – unter solchen Umständen habe ich keine Lust und Laune, höflich zu sein. Jedenfalls, damit Sie sich keiner Täuschung hingeben, was Sie mit Ihrem Davonlaufen auf Ihr Gewissen nehmen, sage ich Ihnen nun mit voller Deutlichkeit: Ihr Echappieren in einem so kritischen Augenblick wäre – bitte jetzt nicht weghören! – ein niederträchtiges Verbrechen an einem unschuldigen Wesen, und ich fürchte, sogar mehr noch – es wäre ein Mord!«
Der kleine feiste Mann war, die Fäuste geballt wie ein Boxer, auf mich eingedrungen. Vielleicht hätte er sonst in seinem flauschigen Hausrock und seinen schlurfenden Pantoffeln lächerlich gewirkt. Aber etwas Überwältigendes ging von seinem ehrlichen Zorn aus, als er mich neuerdings anschrie:
»Ein Mord! ein Mord! ein Mord! Jawohl, und Sie wissen es selbst! Oder glauben Sie, dieses reizbare, dieses stolze Geschöpf würde es überstehen, wenn sie sich zum erstenmal einem Manne aufschließt, und als Antwort läuft dieser Ehrenmann in einer Panik davon, als hätte er den Teufel erblickt? Ein bißchen mehr Phantasie, wenn ich bitten darf! Haben Sie den Brief nicht gelesen oder keine Augen im Herzen? Schon eine normale, eine gesunde Frau würde eine derartige Mißachtung nicht ertragen! Schon ihr würde ein solcher Hieb das innere Gleichgewicht für Jahre zerstören! Und dieses Mädchen, das sich doch nur an der unsinnigen Heilungshoffnung aufrecht hält, die Sie ihm vorgeschwafelt haben – dieser verstörte, verratene Mensch, glauben Sie, käme über so was hinweg? Wenn nicht dieser Schock, so wird sie sich selber zerstören! Ja, sie wird es selber tun – eine solche Erniedrigung erträgt ein verzweifelter Mensch nicht – ich bin überzeugt, sie übersteht eine solche Roheit nicht, und Sie, Herr Leutnant, wissen das genau so gut wie ich. Und weil Sie all das wissen, wäre Ihr Auskneifen nicht nur Schwäche und Feigheit, sondern ein gemeiner, ein vorbedachter Mord!«
Unwillkürlich wich ich noch weiter zurück. In der einen Sekunde, da er das Wort »Mord« ausgesprochen, hatte ich alles in blitzhafter Vision gesehen: das Geländer der Turmterrasse und wie sie sich ankrampfte daran mit beiden Händen! Wie ich sie packen mußte und mit Gewalt zurückreißen im letzten Augenblick! Ich wußte, Condor übertrieb nicht; genau so würde sie es tun, dort hinunter sich werfen – ich sah die gequaderten Steine der Tiefe vor mir, alles sah ich in dieser Sekunde, als ob es eben geschähe, als ob es schon geschehen wäre, und ein Brausen dröhnte in meinen Ohren, als sauste ich selbst diese vier, diese fünf Stockwerke hinab.
Doch Condor drängte immer noch nach. »Nun? Leugnen Sie’s doch ab! Zeigen Sie endlich etwas von dem Mut, zu dem Sie professionell verpflichtet sind!«
»Aber Herr Doktor … was soll ich denn tun … Ich kann mich doch nicht zwingen lassen … nicht etwas sagen, was ich nicht sagen will! … Wie komme ich denn dazu, so zu tun, als ob ich einginge auf ihren irrwitzigen Wahn …« Und unbeherrscht brach es aus mir: »Nein, ich ertrage es nicht, ich kann es nicht ertragen! … Ich kann nicht, ich will nicht und kann nicht!«
Ich mußte ganz laut geschrien haben, denn eisern fühlte ich Condors Finger um meinen Arm.
»Leise, um Himmels willen!« Er sprang rasch zum Lichtschalter und drehte wieder ab. Nur die Lampe auf dem Schreibtisch verstreute unter ihrem gelblichen Schirm einen matten Kegel Helligkeit.
»Kreuzdonner! – Mit Ihnen muß man wirklich wie mit einem Kranken reden. Da – setzen Sie sich erst einmal ruhig nieder; auf diesem Sessel sind schon schwerere Dinge durchgesprochen worden.«
Er rückte näher heran.
»Also ohne Erregung jetzt, und bitte, ruhig, langsam eins – nach dem andern! Zunächst: Sie stöhnen da herum ›Ich kann es nicht ertragen!‹ Aber das sagt mir nicht genug. Ich muß wissen: was können Sie nicht ertragen? Was entsetzt Sie eigentlich so sehr an der Tatsache, daß dies arme Kind sich leidenschaftlich in Sie vernarrt hat?«
Ich holte aus, um zu antworten, aber schon setzte Condor hastig ein:
»Nichts übereilen! Und vor allem: sich nicht schämen! An sich kann ich’s ja verstehen, daß man im ersten Moment erschrickt, wenn man mit einem derart leidenschaftlichen Geständnis überfallen wird. Nur einen Hohlkopf macht ein sogenannter ›Erfolg‹ bei Frauen glücklich, nur einen Dummkopf bläht dergleichen auf. Ein wirklicher Mensch wird eher bestürzt sein, wenn er spürt, daß eine Frau sich an ihn verloren hat und er kann ihr Gefühl nicht erwidern. Alles das verstehe ich. Aber da Sie so ungewöhnlich, so ganz ungewöhnlich verstört sind, muß ich doch fragen: spielt in Ihrem Fall nicht etwas Besonderes mit, ich meine die besondern Umstände …«
»Welche Umstände?«
»Nun … daß Edith … es ist nur so schwer, derlei Dinge zu formulieren … ich meine … flößt Ihnen ihr … ihr körperlicher Defekt am Ende einen gewissen Widerwillen … einen physiologischen Ekel ein?«
»Nein … durchaus nicht«, protestierte ich heftig. Es war doch gerade die Hilflosigkeit, die Wehrlosigkeit, die mich an ihr so unwiderstehlich angezogen, und wenn ich in manchen Sekunden ein Gefühl für sie empfunden, das dem zärtlichen eines Liebenden sich geheimnisvoll näherte, so war es doch nur deshalb gewesen, weil ihr Leiden, ihr Vereinsamt- und Verstümmeltsein mich derart erschüttert hatte. »Nein! Niemals«, wiederholte ich in beinahe erbitterter Überzeugtheit. »Wie können Sie so etwas denken!«
»Um so besser. Das beruhigt mich einigermaßen. Nun, als Arzt hat man oft Gelegenheit, derartige psychische Hemmungen bei den scheinbar Normalsten zu beobachten. Freilich – verstanden habe ich die Männer nie, bei denen die kleinste Unregelmäßigkeit bei einer Frau eine Art Idiosynkrasie erzeugt, aber es gibt eben unzählige Männer, bei denen sich, sobald von den Millionen und Milliarden Zellen, die einen Körper, einen Menschen formen, nur ein Fingerbreit Pigment entstellt ist, sofort jede Möglichkeit einer erotischen Bindung ausschaltet. Solche Repulsionen sind wie alle Instinkte leider immer unüberwindlich – darum bin ich doppelt froh, daß dies bei Ihnen nicht zutrifft, daß es also keinesfalls das Faktum ihrer Lahmheit ist, das Sie derart zurückschrecken läßt. Dann allerdings kann ich nur annehmen, daß … darf ich aufrichtig reden?«
»Gewiß.«
»Daß Ihr Erschrecken gar nicht der Tatsache selbst galt, sondern den Konsequenzen … ich meine, daß Sie sich gar nicht so sehr vor der Verliebtheit dieses armen Kindes entsetzen, als daß Sie innerlich fürchten, andere möchten von Ihrer Verliebtheit erfahren und darüber spotten … meiner Meinung nach ist also Ihre unmäßige Verstörtheit nichts anderes als eine Art Angst – verzeihen Sie – lächerlich zu werden vor den andern, vor Ihren Kameraden.«
Mir war, als hätte Condor mir mit einer feinen spitzen Nadel ins Herz gestoßen. Denn was er aussprach, hatte ich im Unbewußten längst gefühlt und nur nicht zu denken gewagt. Schon vom ersten Tage an hatte ich mich gefürchtet, meine sonderbare Beziehung zu dem humpelnden Mädchen könnte von meinen Kameraden bespöttelt werden mit jener gutmütigen und doch seelenmörderischen österreichischen »Frozzelei«; ich wußte zu gut, wie sie jeden verhöhnten, den sie einmal mit einer »schiechen« oder uneleganten Person »erwischt« hatten. Nur darum hatte ich ja instinktiv jene Doppelschicht in meinem Leben zwischen der einen Welt und der andern, zwischen dem Regiment und den Kekesfalvas aufgerichtet. Tatsächlich – Condor hatte richtig gemutmaßt: vom ersten Augenblick, da ich ihrer Leidenschaft gewahr wurde, hatte ich mich hauptsächlich geschämt vor den andern, vor dem Vater, vor Ilona, vor dem Diener, vor den Kameraden. Sogar vor mir selbst hatte ich mich meines verhängnisvollen Mitleids geschämt.
Aber da spürte ich schon Condors Hand magnetisch streichelnd auf meinem Knie.
»Nein, schämen Sie sich nicht! Wenn einer, so versteh ich, daß man Furcht haben kann vor den Menschen, sobald etwas ihren reglementierten Vorstellungen widerspricht. Sie haben doch meine Frau gesehen. Niemand verstand, warum ich sie heiratete, und alles, was nicht auf ihrer engen und sozusagen normalen Linie liegt, macht die Menschen erst neugierig und dann böswillig. Gleich flüsterten meine Herren Kollegen herum, ich hätte sie in meiner Behandlung verpatzt und nur aus Furcht geheiratet – meine Freunde wieder, die sogenannten, verbreiteten, sie habe viel Geld oder erwarte eine Erbschaft. Meine Mutter, meine eigene Mutter, weigerte sich zwei Jahre lang, sie zu empfangen, denn sie hatte schon eine andere Partie für mich im Hinterhalt, die Tochter eines Professors – damals der berühmteste Internist der Universität – und wenn ich sie geheiratet hätte, wäre ich drei Wochen später Dozent gewesen, Professor geworden und mein Leben lang warm in der Wolle gesessen. Aber ich wußte, daß diese Frau zugrunde gehen würde, wenn ich sie im Stiche ließe. Sie glaubte nur an mich, und hätte ich ihr diesen Glauben genommen, so wäre sie unfähig gewesen, weiterzuleben. Nun, ich gestehe Ihnen offen, ich habe meine Wahl nicht bereut. Denn glauben Sie mir, als Arzt und gerade als Arzt hat man selten ein ganz reines Gewissen. Man weiß, wie wenig man wirklich helfen kann, man kommt als einzelner nicht auf gegen die Unermeßlichkeit des täglichen Jammers. Man schöpft nur mit einem Fingerhut ein paar Tropfen weg aus diesem unergründlichen Meer, und die man heute geheilt glaubt, haben morgen schon wieder ein neues Gebrest. Immer hat man das Gefühl, zu lässig, zu nachlässig gewesen zu sein, dazu kommen die Irrtümer, die Kunstfehler, die man unvermeidlich begeht – da bleibt es immerhin ein gutes Bewußtsein, wenigstens einen Menschen gerettet zu haben, ein Vertrauen nicht enttäuscht, eine Sache richtig getan zu haben. Schließlich muß man wissen, ob man nur dumpf und dumm hingelebt hat oder für etwas gelebt. Glauben Sie mir« – und ich spürte mit einmal seine Nähe ganz warm und beinahe zärtlich – »es lohnt sich schon, etwas Schweres auf sich zu nehmen, wenn man es einem anderen Menschen damit leichter macht.«
Die tiefe Schwingung in seiner Stimme berührte mich. Mit einmal fühlte ich ein leises Brennen in der Brust, jenen wohlbekannten Druck, als ob das Herz sich erweiterte oder spannte; ich spürte, wie die Erinnerung an die verzweifelte Verlassenheit jenes unglücklichen Kindes das Mitleid in mir neuerdings erweckte. Gleich, wußte ich, würde dieses Quellen und Strömen beginnen, dem ich nicht zu wehren vermochte. Aber – nicht nachgeben! sagte ich mir. Nicht dich wieder hineinziehen, nicht dich zurückziehen lassen! So blickte ich entschlossen auf.
»Herr Doktor – jeder kennt bis zu einem Grad die Grenzen seiner Kraft. Deshalb muß ich Sie warnen: bitte zählen Sie nicht auf mich! An Ihnen ist es und nicht an mir, jetzt Edith zu helfen. Ich bin in dieser Sache schon viel weiter gegangen, als ich ursprünglich wollte, und sage Ihnen ehrlich – ich bin keineswegs so gut oder so aufopfernd, wie Sie meinen. Ich bin am Ende meiner Kraft! Ich ertrag’s nicht länger, mich anbeten, mich anhimmeln zu lassen und dabei so zu tun, als ob ich’s wünschte oder duldete. Besser, sie begreift jetzt die Situation, als daß sie später enttäuscht wird. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Soldat, daß ich Sie aufrichtig gewarnt habe, wenn ich Ihnen jetzt wiederhole: Zählen Sie nicht auf mich, überschätzen Sie mich nicht!«
Ich mußte sehr entschieden gesprochen haben, denn Condor blickte mich etwas verdutzt an.
»Das klingt ja beinahe so, als ob Sie zu etwas Bestimmtem entschlossen wären.«
Er stand plötzlich auf.
»Die ganze Wahrheit, bitte, und nicht die halbe! Haben Sie schon etwas – etwas Unwiderrufliches getan?«
Ich stand gleichfalls auf.
»Ja«, sagte ich, mein Abschiedsgesuch aus der Tasche ziehend. »Hier. Bitte lesen Sie selbst.«
Mit einer zögernden Bewegung nahm Condor das Blatt, einen beunruhigten Blick auf mich werfend, ehe er hinüber ging zum kleinen Lichtkreis der Lampe. Er las stumm und langsam. Dann faltete er das Blatt zusammen und äußerte ganz ruhig in dem sachlichsten Ton der Selbstverständlichkeit:
»Ich nehme an, Sie sind nach dem, was ich Ihnen vorhin darlegte, sich vollkommen der Konsequenzen bewußt – wir haben eben festgestellt, daß Ihr Echappieren auf das Kind mörderisch wirken muß … mörderisch oder selbstmörderisch … Sie sind sich daher, vermute ich, eindeutig über die Tatsache im klaren, daß dieses Blatt Papier nicht nur ein Abschiedsgesuch für Sie darstellt, sondern ein … ein Todesurteil für das arme Kind.«
Ich antwortete nicht.
»Ich habe eine Frage an Sie gerichtet, Herr Leutnant! Und ich wiederhole die Frage: sind Sie sich dieser Konsequenzen bewußt? Nehmen Sie die volle Verantwortung auf Ihr Gewissen?«
Ich schwieg abermals. Er trat näher, das gefaltete Blatt in der Hand, und reichte es mir zurück.
»Danke! Ich will mit der Sache nichts zu tun haben. Da – nehmen Sie!«
Aber mein Arm war gelähmt. Ich hatte nicht die Kraft, ihn aufzuheben. Und ich hatte nicht den Mut, seinen prüfenden Blick zu bestehen.
»Sie beabsichtigen also, das … das Todesurteil nicht weiterzugeben?«
Ich wandte mich ab und nahm die Hände hinter den Rücken. Er verstand.
»Ich darf es also zerreißen?«
»Ja«, antwortete ich, »ich bitte Sie darum.«
Er ging zurück zum Schreibtisch. Ich hörte, ohne hinzublicken, einen scharfen Riß durch das Papier, den ersten, den zweiten, den dritten, und wie dann raschelnd die zerfetzten Blätter in den Papierkorb fielen. Auf merkwürdige Weise ward mir leicht. Abermals – zum zweitenmal an diesem schicksalhaften Tage – war eine Entscheidung für mich geschehen. Ich hatte sie nicht tun müssen. Sie hatte sich selbst für mich getan.
Condor trat auf mich zu und drückte mich sanft wieder auf den Sessel zurück.
»So – ich glaube, wir haben jetzt ein großes Unglück verhütet … ein ganz großes Unglück! Und nun zur Sache! Ich verdanke immerhin dieser Gelegenheit, Sie einigermaßen kennengelernt zu haben – nein, wehren Sie nicht ab. Ich überschätze Sie nicht, ich betrachte Sie keineswegs als jenen ›wunderbaren, guten Menschen‹, als den Kekesfalva Sie lobpreist, sondern als einen, durch die Unsicherheit des Gefühls, durch eine besondere Ungeduld des Herzens, recht unverläßlichen Partner; so sehr ich froh bin, Ihre unsinnige Eskapade verhindert zu haben, so wenig gefällt mir die Art, wie rasch Sie Entschlüsse fassen und wie rasch Sie Ihre Absichten wieder fallen lassen. Menschen, die Stimmungen derart unterworfen sind, soll man keine ernsten Verantwortungen auferlegen. Sie wären der letzte, den ich zu etwas verpflichten möchte, was Ausdauer und Standhaftigkeit erfordert.
Darum hören Sie! Ich will von Ihnen nicht viel. Nur das Nötigste, das unbedingt Nötigste. Wir haben Edith doch bewogen, eine neue Kur zu beginnen – oder vielmehr eine, die sie für eine neue hält. Um Ihretwillen hat sie sich entschlossen, wegzufahren, für Monate wegzufahren, und wie Sie wissen, reisen sie in acht Tagen. Nun – diese acht Tage lang benötige ich Ihre Hilfe, und ich sage Ihnen gleich zur Entlastung: nur für diese acht Tage! Ich will nicht mehr von Ihnen, als daß Sie versprechen, innerhalb dieser einen Woche bis zur Abreise nichts Brüskes, nichts Plötzliches zu tun, und vor allem, mit keinem Wort und keiner Geste zu verraten, daß die Neigung dieses armen Kindes Sie dermaßen verstört. Mehr will ich zunächst nicht von Ihnen – ich glaube, das ist das Bescheidenste, was man fordern kann: acht Tage Selbstbeherrschung, wenn es um das Leben eines andern Menschen geht.«
»Ja … aber dann?«
»An später denken wir vorläufig nicht. Ich darf auch, wenn ich einen Tumor operieren soll, nicht lange fragen, ob er nicht in ein paar Monaten wiederkommt. Wenn ich gerufen werde, zu helfen, habe ich nur eines zu tun: zuzugreifen, ohne zu zögern. Das ist in jedem Fall das einzig Richtige, weil das einzig Menschliche. Alles Übrige liegt beim Zufall, oder wie Frömmere sagen würden: bei Gott. Was kann nicht alles in den paar Monaten geschehen! Vielleicht bessert sich ihr Zustand wirklich rapider, als ich vermeinte, vielleicht flaut ihre Leidenschaft mit der Entfernung ab – ich kann nicht alle Möglichkeiten vorausdenken, und Sie sollen’s schon gar nicht! Konzentrieren Sie alle Ihre Kraft einzig darauf, innerhalb dieser entscheidenden Zeit ihr nicht zu verraten, daß ihre Liebe Ihnen … Ihnen so schrecklich ist. Sagen Sie sich’s immer wieder: acht Tage, sieben Tage, sechs Tage, und ich rette einen Menschen, ich kränke, ich beleidige, ich verstöre, ich entmutige ihn nicht. Acht Tage männlicher, entschlossener Haltung – glauben Sie, daß Sie das wirklich nicht durchstehen können?«
»Doch«, sagte ich spontan. Und fügte noch entschlossener bei: »Bestimmt! Ganz bestimmt!« Seit ich meine Aufgabe begrenzt wußte, fühlte ich eine Art neuer Kraft.
Ich hörte Condor stark aufatmen.
»Gott sei Dank! Jetzt kann ich Ihnen auch eingestehen, wie beunruhigt ich war. Glauben Sie mir – Edith hätte es wirklich nicht überstanden, wenn Sie als Antwort auf ihren Brief, auf ihr Geständnis einfach durchgebrannt wären. Gerade die nächsten Tage sind darum entscheidend. Alles andere wird sich später geben. Lassen wir zunächst das arme Kind ein bißchen glücklich sein – acht Tage ahnungslos glücklich; für diese eine Woche verbürgen Sie sich doch, nicht wahr?«
Statt eines Wortes reichte ich ihm die Hand.
»Dann, glaube ich, ist alles wieder in Ordnung, und wir können getrost hinüber zu meiner Frau.«
Aber er erhob sich nicht. Ich spürte, daß ein Zögern in ihm begonnen hatte.
»Noch eines«, fügte er leise bei. »Wir Ärzte sind genötigt, immer auch an Unvorhergesehenes zu denken, wir müssen auf jede Möglichkeit vorbereitet sein. Sollte etwa – ich setze hier einen irrealen Fall – ein Zwischenfall sich ereignen … ich meine, sollte Ihnen die Kraft versagen oder das Mißtrauen Ediths zu irgendeiner Krise führen – dann verständigen Sie mich sofort. Um keinen Preis darf während dieser kurzen, aber gefährlichen Phase etwas Unwiderrufliches geschehen. Wenn Sie sich Ihrer Aufgabe nicht gewachsen fühlen sollten, oder innerhalb dieser acht Tage unbewußt verraten, dann schämen Sie sich nicht – um Gottes willen, schämen Sie sich nicht vor mir, ich habe genug nackte Menschen und brüchige Seelen gesehen! Sie können zu jeder Stunde bei Tag oder Nacht kommen oder mich anrufen; ich bin immer bereit, beizuspringen, denn ich weiß, um was es geht. Und jetzt« – der Sessel neben mir rückte, ich merkte, daß Condor aufstand – »übersiedeln wir besser hinüber. Wir haben etwas lang gesprochen, und meine Frau wird leicht unruhig. Auch ich muß nach Jahren noch immer auf der Hut sein, sie nicht zu irritieren. Wen einmal das Schicksal hart verletzt hat, der bleibt für immer verletzbar.«
Er machte wieder die zwei Schritte zum Lichtschalter, die Glühbirnen flammten auf. Da er sich jetzt mir zuwandte, schien mir sein Gesicht anders; vielleicht modellierte nur der grelle Schein so scharf die Konturen heraus, denn zum erstenmal bemerkte ich die tiefen Falten auf seiner Stirn, und an seiner ganzen Haltung, wie müde, wie erschöpft dieser Mann war. Er hat sich immer an andere weggegeben, dachte ich. Erbärmlich schien mir mit einmal mein Flüchtenwollen vor der ersten Unannehmlichkeit, und ich blickte ihn mit dankbarer Erregung an.
Er schien es zu merken und lächelte.
»Wie gut«, klopfte er mir mit der Hand auf die Schulter, »daß Sie zu mir gekommen sind und wir uns ausgesprochen haben. Denken Sie sich aus, Sie wären ohne zu überlegen, einfach davongelaufen! Ihr ganzes Leben hätte der Gedanke auf Ihnen gelastet, denn allem kann man entfliehen, nur sich selber nicht. – Und nun gehen wir hinüber. Kommen Sie – lieber Freund.«
Dieses Wort »Freund«, das mir dieser Mann in dieser Stunde gab, bewegte mich. Er wußte, wie schwach, wie feig ich gewesen, und doch, er verachtete mich nicht. Mit diesem einen Wort schenkte er mir, der Ältere dem Jüngeren, der Erfahrene dem unsicher Beginnenden, wieder Zuversicht. Entlastet und leicht folgte ich ihm.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.