Kapitel 25
In der Kaserne stelle ich eiligst das Pferd ein und laufe, um allem Geschwätz und Gratulieren auszuweichen, die Nebentreppe hinauf. Tatsächlich – vor meiner Zimmertür wartet schon Kusma; an seinem ängstlichen Gesicht, seinen gedrückten Schultern merke ich: etwas ist los. Ein Herr in Zivil warte in meinem Zimmer, meldet er mit einer gewissen Bestürzung, er habe sich nicht getraut, den Herrn abzuweisen, weil es ihm gar so dringlich gewesen. Nun hat Kusma eigentlich strengen Auftrag, niemanden in mein Zimmer zu lassen. Aber wahrscheinlich hat ihm Condor ein Trinkgeld gegeben – darum Kusmas Angst und Unsicherheit, die jedoch rasch in Verwunderung umschlägt, als ich, statt ihn auszuschelten, nur ein joviales »Schon recht«, murmle und auf die Tür losfahre. Gott sei Dank, Condor ist gekommen! Er wird mir alles erzählen.
Hastig habe ich die Tür aufgestoßen, und sofort regt sich, wie aus dem Schatten herausgewachsen, im äußersten Ende des verdunkelten Raumes (Kusma hat die Rolläden der Hitze wegen herabgelassen) eine Gestalt. Schon will ich Condor herzlich entgegen, da erkenne ich – das ist doch gar nicht Condor. Es ist jemand anderer, der hier auf mich wartet, und gerade der Mensch, den ich am wenigsten hier erwartet hätte. Es ist Kekesfalva: auch wenn das Dunkel noch dichter wäre, würde ich ihn unter Tausenden an seinem verschüchterten Aufstehen und Sicherverbeugen erkennen. Und noch ehe er räuspernd zum Sprechen ansetzt, weiß ich schon den demütigen, den erschütterten Ton seiner Stimme voraus.
»Entschuldigen Sie, Herr Leutnant«, verbeugt er sich, »daß ich unangemeldet bei Ihnen eingedrungen bin. Aber Doktor Condor hat mir aufgetragen, Ihnen seine speziellen Grüße zu überbringen, und Sie sollen verzeihen, daß er das Auto nicht anhalten ließ … es war schon höchste Zeit, er mußte unbedingt den Wiener Schnellzug erreichen, weil er dort abends … und … und … darum bat er mich, Ihnen gleich auszurichten, wie leid es ihm tat … Nur darum … ich meine, nur darum habe ich mir erlaubt, selbst zu Ihnen heraufzukommen …«
Er steht vor mir, den Kopf gesenkt wie unter einem unsichtbaren Joch. Im Dunkeln schimmert der knochige Schädel mit dem dünnen gescheitelten Haar. Die völlig unnötige Servilität seiner Haltung beginnt mich zu erbittern. Untrüglich sagt mir ein Unbehagen: hinter diesem verlegenen Herumgerede steckt eine bestimmte Absicht. Bloß um gleichgültige Grüße zu bestellen, klettert ein alter, herzkranker Mann nicht drei Stockwerke hinauf. Diese Grüße hätten sich ebensogut telephonisch übermitteln oder bis morgen aufsparen lassen. Achtung! sage ich mir, dieser Kekesfalva will etwas von dir. Schon einmal ist er so aus dem Dunkel vorgebrochen; demütig wie ein Bettler beginnt er und preßt dir schließlich seinen Willen auf wie der Djinn deines Traumes dem Mitleidigen. Nicht ihm nachgeben! Nicht dich einfangen lassen! Nichts fragen, nach nichts dich erkundigen, möglichst bald ihn verabschieden und hinabbegleiten!
Aber der da vor mir steht, ist ein alter Mann, und sein Kopf ist demütig gebeugt. Ich sehe seinen dünnen weißen Scheitel; wie aus einem Traum erinnere ich mich an jenen meiner Großmutter, wenn sie über dem Strickzeug uns kleinen Geschwistern Märchen erzählte. Einen alten, kranken Mann kann man doch nicht unhöflich wegweisen. So deute ich, unbelehrbar durch alle Erfahrung, auf den Stuhl hin:
»Zu liebenswürdig, Herr von Kekesfalva, daß Sie sich bemüht haben! Wirklich, zu freundlich von Ihnen! Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Kekesfalva antwortet nicht. Er hat wohl nicht deutlich gehört. Aber er hat wenigstens die Geste meiner Hand verstanden. Zaghaft schiebt er sich an den äußersten Rand des angebotenen Stuhls. So verschüchtert muß er, erinnere ich mich blitzartig, in seiner Jugend als Kostgänger am Freitisch fremder Menschen gesessen haben. Und so sitzt er jetzt, der Millionär, bei mir auf dem armseligen abgebrauchten Rohrsessel. Umständlich nimmt er die Brille ab, kramt das Tuch aus der Tasche und beginnt die beiden Gläser zu putzen. Aber mein Lieber, ich bin schon gewitzigt, ich kenne dieses Putzen schon, ich kenne deine Tricks! Ich weiß, du putzt an den Gläsern, um Zeit zu gewinnen. Du möchtest, daß ich das Gespräch beginne, daß ich frage, und ich weiß sogar, was du gefragt werden möchtest – ob Edith wirklich krank ist und warum die Abreise verschoben werden soll. Aber ich bleibe auf meiner Hut. Fang du an, wenn du mir was zu sagen hast! Keinen Schritt geh ich dir entgegen! Nein – ich laß mich nicht neuerdings hineinlocken, – genug mit dem verdammten Mitleid, genug auch mit diesem ewigen Mehr und Mehr! Schluß mit diesen Hinterhältigkeiten und Undurchsichtigkeiten! Wenn du was von mir willst, dann mach’s rasch und ehrlich, aber versteck dich nicht hinter dieser einfältigen Brillenputzerei! Ich geh dir nicht mehr auf den Leim, ich hab mein Mitleid satt!
Der alte Mann legt, als hätte er die ungesprochenen Worte hinter meinen verschlossenen Lippen vernommen, endlich die blankgescheuerte Brille resigniert vor sich hin. Er spürt offenbar schon, daß ich ihm nicht helfen will und er selber beginnen müsse; beharrlich das Haupt gebeugt, hebt er zu sprechen an, ohne den Blick zu mir herüber zu wenden. Nur zu dem Tisch redet er hin, als erhoffe er von dem harten, rissigen Holz mehr Mitleid als von mir.
»Ich weiß, Herr Leutnant«, beginnt er beklommen, »daß ich kein Recht habe – oh, gewiß, kein Recht, Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen. Aber was soll ich tun, was sollen wir tun? Ich kann nicht mehr weiter, wir alle können nicht mehr weiter … Gott weiß, wie das über sie gekommen ist, man kann ja nicht mit ihr reden, sie hört auf keinen mehr … Und dabei weiß ich doch, sie tut’s nicht aus schlechter Absicht … nur unglücklich ist sie, unermeßlich unglücklich … nur aus Verzweiflung tut sie uns das an … glauben Sie mir, nur aus Verzweiflung.«
Ich warte. Was meint er? Was tut sie ihnen an? Was denn? Rück endlich heraus! Warum redest du so täuscherisch herum, warum sagst du nicht gerade heraus, was los ist?
Aber der alte Mann starrt leer auf den Tisch. »Und dabei war doch alles besprochen, alles schon vorbereitet. Der Schlafwagen bestellt, die schönen Zimmer reserviert, und gestern nachmittag war sie noch voll Ungeduld. Sie hatte sich selbst die Bücher ausgesucht, die sie mitnehmen wollte, hat die neuen Kleider und den Pelz probiert, die ich aus Wien hab kommen lassen; und mit einmal ist das in sie gefahren, ich versteh’s nicht, gestern abends nach dem Essen – Sie erinnern sich ja, wie sie erregt war. Ilona versteht’s nicht und niemand versteht’s, was plötzlich über sie gekommen ist. Aber sie sagt und schreit und schwört, um keinen Preis werde sie wegfahren, keine Macht der Erde könne sie fortbringen. Sie bleibt, sie bleibt, sie bleibt, sagt sie, und wenn man ihr das Haus über dem Kopf anzündet. Sie mache den Schwindel nicht mit, sie lasse sich nicht betrügen, sagt sie. Nur weghaben wolle man sie mit dieser Kur, nur sie los sein. Aber wir alle würden uns irren, wir alle. Sie fährt einfach nicht weg, sie bleibt, sie bleibt, sie bleibt.«
Mich überläuft’s kalt. Das also steckte hinter dem zornigen Lachen von gestern. Hat sie bemerkt, daß ich nicht weiter kann, und inszeniert sie das, damit ich ihr verspreche, doch in die Schweiz nachzukommen?
Aber: nicht dich einlassen, befehle ich mir. Nicht zeigen, daß es dich erregt! Dem alten Mann nicht verraten, daß ihr Dableiben dir die Nerven zerreißt! So stelle ich mich mit Absicht töricht und äußere ziemlich gleichgültig:
»Ach, das wird sich schon geben! Sie wissen doch am besten, wie wetterwendisch bei ihr die Launen umspringen. Und Ilona hat mir ja telephoniert, es handle sich nur um einen Aufschub von ein paar Tagen.«
Der alte Mann seufzt, und dieser Seufzer bricht dumpf aus ihm wie ein Erbrechen; es ist, als risse dieser jähe Aufstoß ihm die letzte Kraft aus der Brust.
»Ach Gott, wenn das nur so wäre! Aber das Schreckliche ist, daß ich fürchte … wir fürchten alle, daß sie überhaupt nicht mehr wegreisen wird … Ich weiß nicht, ich versteh’s nicht – auf einmal ist ihr die Kur gleichgültig geworden und ob sie geheilt wird oder nicht. ›Ich laß mich nicht länger quälen, ich laß nicht mehr an mir herumkurieren, es hat alles keinen Sinn!‹ Solche Dinge sagt sie; sagt sie so, daß einem das Herz stillsteht. ›Ich laß mich nicht mehr betrügen‹, schreit und schluchzt sie, ›alles durchschaue ich, alles durchschaue ich … alles!‹«
Ich überlege rasch. Um Gottes willen, hat sie etwas bemerkt? Habe ich mich verraten? Hat Condor eine Unvorsichtigkeit begangen? Konnte sie aus einer achtlosen Bemerkung Verdacht schöpfen, daß mit dieser Schweizer Kur nicht alles stimmt? Hat ihre Hellsichtigkeit, ihre furchtbar mißtrauische Hellsichtigkeit am Ende durchschaut, daß wir sie eigentlich zwecklos wegschicken? Vorsichtig taste ich mich heran.
»Das verstehe ich nicht … Ihr Fräulein Tochter hatte doch sonst unbedingtes Vertrauen zu Doktor Condor, und wenn er ihr diese Kur so dringend anempfohlen hat … dann verstehe ich das einfach nicht.«
»Ja, aber das ist es ja! … Das ist ja der Wahnsinn: sie will überhaupt keine Kur mehr machen, sie will gar nicht mehr geheilt werden! Wissen Sie, was sie gesagt hat? … ›Um keinen Preis fahr ich weg, ich hab die Lügnerei satt! … Lieber der Krüppel bleiben, der ich bin, und dableiben … ich will nicht mehr geheilt werden, ich will nicht, das hat alles keinen Sinn mehr.‹«
»Keinen Sinn?« wiederhole ich ganz ratlos.
Aber da senkt der alte Mann den Kopf noch tiefer, ich sehe seine schwimmenden Augen, ich sehe die Brille nicht mehr. Nur an dem dünnen flattrigen weißen Haar merke ich, daß er heftig zu zittern begonnen hat. Dann murmelt er beinahe unverständlich:
»›Es hat keinen Sinn mehr, daß ich geheilt werde‹, sagt sie und schluchzt sie, ›denn er … er …‹«
Der alte Mann schöpft Atem wie vor einer großen Anstrengung. Dann stößt er endlich heraus »›Er … er hat ja doch nichts als Mitleid für mich.‹«
Eiskalt wird mir mit einem Mal, wie Kekesfalva dieses Wort »er« ausspricht. Es ist das erste Mal, daß er zu mir eine Andeutung über das Gefühl seiner Tochter macht. Schon lange war mir aufgefallen, daß er mich zusehends mied, ja daß er kaum wagte, mich anzublicken, während er sich doch vordem so zart und dringlich um mich bemüht hatte. Aber ich wußte, daß es Scham war, die ihn von mir weghielt; schrecklich mußte es doch für diesen alten Mann gewesen sein, mitanzusehen, wie seine Tochter um einen Menschen warb, der vor ihr flüchtete. Entsetzlich gequält mußten ihn ihre geheimen Geständnisse haben, maßlos beschämt ihr unverhohlenes Verlangen. Auch er hatte, wie ich selbst, die Unbefangenheit verloren. Wer etwas verbirgt oder verbergen muß, verliert den offenen und freien Blick.
Aber jetzt war es ausgesprochen und derselbe Schlag uns beiden aufs Herz gefallen. Beide sitzen wir nach diesem einen verräterischen Wort stumm und vermeiden, einer den andern anzublicken. In dem schmalen Raum über dem Tisch zwischen uns steht ein Schweigen in der starren Luft. Aber allmählich dehnt sich dieses Schweigen; wie ein schwarzes Gas schwillt es auf bis zur Decke und füllt das ganze Zimmer; von oben, von unten, von allen Seiten drückt und drängt diese Leere auf uns ein, und ich höre an den gepreßten Stößen seines Atems, wie sehr das Schweigen ihm die Kehle würgt. Ein Augenblick noch, und dieser Druck muß uns beide ersticken oder einer von uns muß auffahren und sie mit einem Wort zerschlagen, diese drückende, diese mörderische Leere.
Da plötzlich geschieht etwas: ich merke zuerst nur, daß er eine Bewegung macht, eine merkwürdig plumpe und ungeschickte Bewegung. Und dann, daß der alte Mann jählings wie eine weiche Masse vom Sessel niederfällt. Hinter ihm poltert und stürzt krachend der Stuhl.
Ein Anfall, ist mein erster Gedanke. Ein Schlaganfall, er ist ja herzkrank, Condor hat es mir gesagt. Entsetzt springe ich hin, um ihm aufzuhelfen und ihn auf das Sofa zu betten. Aber in diesem Moment gewahre ich – der alte Mann ist gar nicht gestürzt, gar nicht herabgefallen vom Sessel. Er hat sich selber herabgestoßen. Er ist – im ersten erregten Zuspringen war dies mir völlig entgangen – absichtlich in die Knie gesunken und jetzt, da ich ihn aufheben will, rutscht er näher heran, packt meine Hände und bettelt:
»Sie müssen ihr helfen … nur Sie können ihr helfen, nur Sie … auch Condor sagt es: nur Sie und kein anderer! … ich flehe Sie an, erbarmen Sie sich … es geht nicht so weiter … sie tut sich sonst etwas an, sie richtet sich selbst zugrunde.«
So sehr mir die Hände beben, ich reiße den Hingeknieten gewaltsam wieder empor. Aber er packt meine helfenden Arme, wie Krallen spüre ich die verzweifelt angepreßten Finger in meinem Fleisch – der Djinn, der Djinn meines Traums, der den Mitleidigen vergewaltigt. »Helfen Sie ihr«, keucht er. »Um Himmels willen, helfen Sie ihr … Man kann das Kind doch nicht in diesem Zustand lassen … es geht, ich schwör es Ihnen, um Leben und Tod … Sie können sich nicht vorstellen, was für unsinnige Dinge sie in ihrer Verzweiflung sagt … Sie müsse sich wegschaffen, sich aus dem Weg räumen, schluchzt sie, damit Sie Ruhe hätten und wir alle endlich Ruhe vor ihr … Und das sagt sie nicht nur so, das ist furchtbar ernst bei ihr … Zweimal hat sie’s schon versucht, die Pulsadern hat sie sich aufgeschnitten und das andere Mal mit dem Schlafmittel. Wenn sie einmal etwas will, dann kann sie niemand mehr davon abbringen, niemand … nur Sie können sie jetzt retten, nur Sie … ich schwöre es Ihnen, nur Sie allein …«
»Aber selbstverständlich, Herr von Kekesfalva … bitte beruhigen Sie sich nur … es ist doch selbstverständlich, daß ich alles tue, was mir möglich ist. Wenn Sie wollen, fahren wir jetzt sofort hinaus und ich versuche, ihr zuzureden. Sofort fahre ich mit Ihnen. Bestimmen Sie selbst, was ich ihr sagen soll, was ich tun soll …«
Er ließ plötzlich meinen Arm los und starrte mich an. »Was Sie tun sollen? … Verstehen Sie denn wirklich nicht oder wollen Sie nicht verstehen? Sie hat sich Ihnen doch aufgeschlossen, sich Ihnen angeboten, und schämt sich jetzt zu Tod, daß sie’s getan hat. Sie hat Ihnen geschrieben, und Sie haben ihr nicht geantwortet, und jetzt quält sie sich Tag und Nacht, daß Sie sie wegschicken lassen, sie loswerden wollen, weil Sie sie verachten … sie ist ganz irr vor Angst, daß Sie sich ekeln vor ihr … weil sie … weil sie … Verstehen Sie denn nicht, daß das einen Menschen zugrunde richten muß, einen so stolzen, einen so leidenschaftlichen Menschen wie dieses Kind, wenn man ihn so warten läßt? Warum geben Sie ihr nicht etwas Zuversicht? Warum sagen Sie ihr nicht ein Wort, warum sind Sie so grausam, so herzlos zu ihr? Warum quälen Sie dieses arme, dieses unschuldige Kind so fürchterlich?«
»Aber ich habe doch alles getan, um sie zu beruhigen … ich habe ihr doch gesagt …«
»Nichts haben Sie ihr gesagt! Sie müssen doch selbst merken, daß Sie sie toll machen mit Ihrem Kommen, mit Ihrem Schweigen, weil sie nur wartet auf eines … auf das eine Wort, das jede Frau erwartet von dem Mann, den sie liebt … Sie hätte doch nie etwas zu hoffen gewagt, solange sie noch so hinfällig war … Aber jetzt, da sie doch bestimmt gesund wird, ganz, ganz gesund in ein paar Wochen, warum soll sie da nicht dasselbe erwarten wie jedes andere junge Mädchen, warum nicht … sie hat es Ihnen doch gezeigt, gesagt, wie ungeduldig sie wartet auf ein Wort von Ihnen … Sie kann doch nicht mehr tun, als sie getan hat … sie kann doch nicht betteln vor Ihnen … und Sie, Sie sagen kein Wort, sagen nicht das Einzige, was sie glücklich machen kann! … Ist es Ihnen denn wirklich so entsetzlich? Sie würden doch alles haben, was ein Mensch auf Erden haben kann. Ich bin ein alter, ein kranker Mann. Alles, was ich besitze, werd ich euch hinterlassen, das Schloß und das Gut und die sechs oder sieben Millionen, die ich zusammengetragen habe in vierzig Jahren … alles wird Ihnen gehören … morgen können Sie es schon haben, jeden Tag, jede Stunde, ich will doch selber nichts mehr … ich will nur, daß jemand für das Kind sorgt, wenn ich nicht mehr da bin. Und ich weiß, Sie sind ein guter Mensch, ein anständiger Mensch, Sie werden sie schonen, Sie werden gut zu ihr sein!«
Der Atem versagte ihm. Wehrlos, kraftlos sank er wieder hin auf den Sessel. Aber auch ich hatte meine Kraft verbraucht, auch ich war erschöpft und fiel hin in den anderen Stuhl. Und so saßen wir genau wie früher einander gegenüber, wortlos, blicklos, ich weiß nicht, wie lange. Nur manchmal spürte ich, wie der Tisch, an den er sich ankrampfte, leicht schütterte von dem jähen Zucken, das seinen Körper überlief. Dann vernahm ich – abermals war unmeßbare Zeit vergangen – einen trockenen Ton, wie wenn Hartes auf Hartes fällt. Seine niedergebeugte Stirn war hingesunken auf die Tischplatte. Ich spürte, wie dieser Mensch litt, und unermeßlich wurde in mir das Bedürfnis, ihn zu trösten.
»Herr von Kekesfalva«, beugte ich mich über ihn. »Haben Sie doch Vertrauen zu mir … wir wollen alles überlegen, in Ruhe überlegen … ich wiederhole Ihnen, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung … ich werde alles tun, was in meiner Macht steht … Nur das … was Sie mir vorhin andeuteten … das ist … das ist unmöglich … völlig unmöglich.«
Er zuckte schwach wie ein schon niedergebrochenes Tier unter dem letzten tödlichen Hieb. Seine von der Erregung leicht angespeichelten Lippen bewegten sich angestrengt, aber ich ließ ihm keine Zeit.
»Es ist unmöglich, Herr von Kekesfalva, bitte sprechen wir nicht weiter … überlegen Sie doch selbst … wer bin ich denn? Ein kleiner Leutnant, der von seiner Gage lebt und seinem kleinen Monatszuschuß … mit solchen beschränkten Mitteln kann man sich doch keine Existenz aufbauen, davon kann man doch nicht leben, zu zweit leben …«
Er wollte unterbrechen.
»Ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen, Herr von Kekesfalva. Geld spielt keine Rolle, meinen Sie, dafür wäre gesorgt. Und ich weiß auch, daß Sie reich sind und … daß ich alles von Ihnen haben könnte … Aber gerade, daß Sie so reich sind und ich ein Nichts, ein Niemand … gerade das macht doch alles unmöglich … Jeder würde meinen, ich hätte es nur wegen des Geldes getan, ich hätte mich … und auch Edith selbst, glauben Sie mir, würde ihr ganzes Leben nicht von dem Verdacht loskommen, nur wegen des Geldes hätte ich sie genommen und trotz … trotz der besonderen Umstände … Glauben Sie mir, Herr von Kekesfalva, es ist unmöglich, so redlich, so aufrichtig ich Ihre Tochter schätze und … und … und gern habe … aber das müssen Sie doch verstehen.«
Der alte Mann blieb unbeweglich. Zuerst meinte ich, er hätte gar nicht begriffen, was ich sagte. Aber allmählich ging eine Bewegung durch seinen kraftlosen Körper. Mühsam hob er den Kopf und starrte vor sich hin ins Leere. Dann griff er mit beiden Händen an die Tischkante, und ich merkte, er wollte den lastenden Körper aufstemmen, er wollte aufstehen, jedoch es gelang ihm nicht gleich. Zweimal, dreimal versagte ihm die Kraft. Endlich arbeitete er sich hoch und stand, schwankend noch von der Anstrengung, dunkel im Dunkel, die Pupillen starr wie schwarzes Glas. Dann sagte er mit einem ganz fremden, einem grauenhaft gleichgültigen Ton, als ob seine eigene, seine menschliche Stimme ihm gestorben wäre, vor sich hin:
»Dann … dann ist eben alles vorbei.«
Entsetzlich war dieser Ton, entsetzlich dies völlige Sichaufgeben. Noch immer den Blick starr ins Leere gerichtet, tappte er, ohne niederzuschauen, mit der Hand die Tischplatte entlang nach der Brille. Aber er stülpte sie nicht vor die steinernen Augen – wozu noch sehen? wozu noch leben? – sondern stopfte sie ungelenk in die Tasche. Abermals wanderten die bläulichen Finger (in denen Condor den Tod gesehen) rings um den Tisch, bis sie am Rande endlich auch den schwarzen zerknüllten Hut ertasteten. Dann erst wandte er sich zum Gehen und murmelte, ohne mich anzuschauen:
»Verzeihen Sie die Störung.«
Er hatte sich den Hut schief auf den Kopf gestülpt; die Füße gehorchten ihm nicht recht, sie schlurften und schwankten ohne Kraft. Wie ein Schlafwandler taumelte er weiter, der Tür zu. Dann, als ob er sich plötzlich an etwas erinnert hätte, nahm er den Hut ab, verbeugte sich und wiederholte:
»Verzeihen Sie die Störung.«
Er verbeugte sich vor mir, der alte geschlagene Mann, und gerade diese Geste der Höflichkeit inmitten seiner Verstörung zernichtete mich. Plötzlich spürte ich es wieder in mir, dies Warme, dies Heiße, dies Quellende, dies Strömende, das aufstieg und mir bis in die Augen brannte, und gleichzeitig jenes Weichwerden und Schwachwerden: abermals fühlte ich mich vom Mitleid übermannt. Ich konnte ihn doch nicht so fortlassen, den alten Mann, der gekommen war, um mir sein Kind, sein Einzigstes auf Erden anzubieten, nicht fortlassen in die Verzweiflung, in den Tod. Ich konnte ihm doch nicht das Leben aus dem Leibe reißen. Ich mußte noch etwas sagen, etwas Tröstliches, Beruhigendes, Beschwichtigendes. So eilte ich ihm hastig nach.
»Herr von Kekesfalva, bitte, mißverstehen Sie mich doch nicht … Sie dürfen keinesfalls so fortgehen und ihr am Ende sagen … das wäre ja furchtbar in diesem Augenblick für sie und … und es wäre auch gar nicht wahr.«
Immer heftiger wurde meine Erregung, denn ich spürte, daß der alte Mann mich gar nicht anhörte. Eine Salzsäule seiner Verzweiflung, stand er starr, ein Schatten im Schatten, ein lebendiger Tod. Immer leidenschaftlicher wurde mein Bedürfnis, ihn zu beruhigen.
»Es wäre wirklich nicht wahr, Herr von Kekesfalva, ich schwöre es Ihnen … und nichts wäre mir so schrecklich, als Ihre Tochter, als Edith zu … kränken oder … oder in ihr das Gefühl aufkommen zu lassen, ich hätte sie nicht aufrichtig gern … niemand empfindet doch herzlicher für sie, ich schwöre es Ihnen, niemand kann sie lieber haben als ich … es ist wirklich nur ein Wahn von ihr, daß … sie mir gleichgültig ist … im Gegenteil … im Gegenteil … ich meinte doch bloß, es hätte keinen Sinn, wenn ich jetzt … wenn ich heute etwas sagte … zunächst ist nur eines wichtig … daß sie sich schont … daß sie wirklich geheilt wird!«
»Aber dann … wenn sie geheilt ist …?«
Er hatte sich mir plötzlich zugewandt. Die Pupillen, eben noch starr und tot, phosphoreszierten im Dunkel.
Ich erschrak. Ich spürte instinktiv die Gefahr. Wenn ich jetzt etwas versprach, war ich verpflichtet. Aber in diesem Augenblick fiel mir ein: es ist doch alles Täuschung, was sie erhofft. Sie wird doch auf keinen Fall sofort geheilt. Es kann noch Jahre dauern und Jahre; nicht zu weit denken, hat Condor gesagt, nur sie jetzt beruhigen, sie trösten! Warum ihr nicht etwas Hoffnung lassen, warum sie nicht glücklich machen, wenigstens für eine kurze Frist? Und so sagte ich:
»Ja, wenn sie geheilt ist, dann natürlich … dann wäre ich doch … doch selbst zu Ihnen gekommen.«
Er starrte mich an. Ein Zittern ging durch seinen Körper; es war, als ob eine innere Kraft ihn unmerklich heranschöbe.
»Darf ich … darf ich ihr das sagen?«
Wieder spürte ich das Gefährliche. Aber ich hatte nicht mehr die Kraft, seinem flehenden Blick zu widerstehen. So erwiderte ich in festem Ton:
»Ja, sagen Sie es ihr«, und reichte ihm die Hand.
Seine Augen funkelten, sie füllten sich, sie strömten mir entgegen. So muß Lazarus geblickt haben, als er betäubt emporstieg aus seinem Grabe und wieder den Himmel sah und sein heiliges Licht. Ich spürte seine Hand in der meinen zittern, immer stärker zittern. Dann begann sich die Stirn niederzubeugen, tiefer und tiefer. Rechtzeitig noch erinnerte ich mich, wie er sich damals niedergebückt und mir die Hand geküßt hatte. Hastig riß ich die meine zurück und wiederholte:
»Ja, sagen Sie es ihr, bitte sagen Sie es ihr: sie soll ohne Sorge sein. Und eines vor allem: gesund werden, bald gesund, für sich, für uns alle!«
»Ja«, wiederholte er ekstatisch, »gesund, bald gesund. Sofort wird sie jetzt reisen, oh, ich bin ganz sicher. Sofort wird sie abreisen und gesund werden, durch Sie gesund, für Sie gesund … von der ersten Stunde an habe ich gewußt, Gott hat Sie mir geschickt … nein, nein, ich kann Ihnen nicht danken … Gott soll es Ihnen lohnen … Ich geh schon … nein, bleiben Sie, bemühen Sie sich nicht, ich geh schon.«
Und mit einem anderen Schritt, den ich an ihm nicht kannte, einem leichten, federnden Schritt lief er mit seinen wehenden schwarzen Schößen zur Tür. Sie schlug hinter ihm zu mit einem hellen, fast fröhlichen Ton. Ich stand allein im dunkeln Zimmer, leicht bestürzt, wie allemal, wenn man etwas Entscheidendes getan, ohne sich vorher innerlich entschieden zu haben. Aber was ich in der Schwachmütigkeit meines Mitleids eigentlich versprochen, wurde mir erst eine Stunde später in seiner ganzen Verantwortlichkeit bewußt, als mein Bursche, schüchtern anklopfend, mir einen Brief brachte, blaues Papier, wohlbekannten Formats:
»Wir reisen übermorgen. Ich habe es Papa in die Hand versprochen. Verzeihen Sie mir die letzten Tage, aber ich war ganz verstört von der Angst, ich sei Ihnen eine Last. Nun weiß ich, wozu und für wen ich gesund werden muß. Jetzt fürchte ich nichts mehr. Kommen Sie morgen möglichst früh. Nie habe ich Sie ungeduldiger erwartet. Immer Ihre E.«
»Immer« – ich fühlte einen jähen Schauer bei diesem Wort, das unwiderruflich und für alle Ewigkeit einen Menschen bindet. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Wieder einmal war mein Mitleid stärker gewesen als mein Wille. Ich hatte mich weggegeben. Ich gehörte mir selber nicht mehr.
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