Kapitel 26


Raff dich zusammen, sagte ich mir. Das war das Letzte, was sie dir abringen konnten, dies halbe Versprechen, das sich doch nie ganz erfüllen wird. Einen Tag noch, zwei Tage mußt du dieser unsinnigen Liebe geduldig dich gewähren, dann reisen sie ab, und du hast dich selbst wieder zurückgewonnen. Aber je näher der Nachmittag heranrückte, um so kribbliger wurde mein Unbehagen, immer quälender der Gedanke, mit einer Lüge im Herzen ihren gläubigzärtlichen Blick zu bestehen. Vergebens, daß ich mich bemühte, mit den Kameraden locker zu plaudern, zu deutlich spürte ich das Ticken hinter der Stirnhaut, das Flackern in den Nerven und eine plötzliche Trockenheit im Gaumen, als ob innen ein ersticktes Feuer qualmte und schwelte. Rein instinktiv bestellte ich einen Kognak und stürzte ihn hinab. Es half nichts, die Trockenheit würgte weiter die Kehle. So bestellte ich einen zweiten; erst als ich den dritten verlangte, entdeckte ich den unbewußten Antrieb: ich wollte mir Mut antrinken, um dort draußen nicht feig zu werden oder sentimental. Etwas in mir wollte ich vorher chloroformieren, vielleicht die Furcht, vielleicht die Scham, vielleicht ein sehr gutes, vielleicht ein sehr schlimmes Gefühl. Ja, das war es, nur das – darum teilte man ja Soldaten die doppelte Branntweinration zu vor dem Sturm – ich wollte mich dumpf machen und stumpf, um das Bedenkliche und vielleicht Gefährliche, dem ich entgegenging, nicht so deutlich zu empfinden. Jedoch die erste Wirkung dieser drei Gläser äußerte sich einzig darin, daß mir die Füße schwer wurden und im Kopf etwas surrte und bohrte wie die Maschine eines Zahnarzts, ehe sie ansetzt zum eigentlichen schmerzhaften Stoß. Es war kein sicherer, kein klarer und am allerwenigsten ein freudiger Mensch, der da die lange Chaussee – oder schien sie mir nur diesmal so endlos? – mit hämmerndem Herzen hinauszögerte zu dem gefürchteten Haus.


Alles aber fügte sich leichter, als ich gedacht. Eine andere, eine bessere Betäubung erwartete mich, eine feinere, eine reinere Trunkenheit, als ich sie im groben Fusel gesucht. Denn auch Eitelkeit betört, auch Dankbarkeit betäubt, auch Zärtlichkeit kann beseligend verwirren. An der Tür schrak der alte brave Josef ganz beglückt auf – »Oh, der Herr Leutnant!« – er schluckte, trat vor Erregung von einem Fuß auf den andern und sah zwischendurch verstohlen empor – ich kann es nicht anders sagen – wie man aufblickt in der Kirche zu einem Heiligenbild. »Bitte kommen Herr Leutnant gleich hinüber in den Salon! Fräulein Edith erwarten Herrn Leutnant schon die ganze Zeit«, flüsterte er im aufgeregten Ton einer verschämten Begeisterung.


Ich fragte und staunte: warum sieht dieser fremde Mensch, dieser alte Lakai mich so ekstatisch an? Warum liebt er mich so? Macht es wirklich die Menschen schon gut und glücklich, wenn sie bei andern Güte und Mitleid sehen? Ja, dann behielte Condor recht, dann hätte wirklich, wer auch nur einem einzigen Menschen hilft, den Sinn seines Lebens erfüllt, dann lohnte es wahrhaftig, andern sich hinzugeben bis ans Ende seiner Kraft und sogar über seine Kraft. Dann wäre jedes Opfer gerecht und selbst eine Lüge, die andere glücklich macht, wichtiger als alle Wahrheit. Mit einmal spürte ich meinen Fuß sicher bis zur Sohle hinab; anders schreitet der Mensch, wenn er weiß, daß er Freude mit sich bringt.


Aber da kam schon Ilona mir entgegen, strahlend auch sie; gleichsam mit dunkel-zärtlichen Armen umfing mich ihr Blick. Noch nie hatte sie mir so warm, so innig die Hand gedrückt. »Ich danke Ihnen«, sagte sie, und es klang, als spräche sie durch einen warmen feuchten Sommerregen. »Sie wissen ja selbst nicht, was Sie für das Kind getan haben. Sie haben sie gerettet, bei Gott, wirklich gerettet! Kommen Sie nur rasch, ich kann Ihnen gar nicht schildern, wie sehr sie auf Sie wartet.«


Unterdessen rührte sich leise die andere Tür. Ich hatte das Gefühl, jemand habe lauschend hinter ihr gestanden. Der alte Mann kam herein, und nicht wie gestern war mehr der Tod und das Grauen in seinen Augen, sondern ein zärtliches Strahlen. »Wie gut, daß Sie da sind. Sie werden staunen, wie sie verwandelt ist. Nie habe ich sie in all den Jahren seit dem Unglück so heiter, so glücklich gesehen. Es ist ein Wunder, ein wirkliches Wunder! O Gott, was haben Sie für sie, was haben Sie für uns getan!«


Es übermannte ihn mitten im Wort. Er schluckte und schluchzte und schämte sich zugleich seiner Rührung, die mich allmählich selber ergriff. Denn wer könnte fühllos solcher Dankbarkeit widerstehen? Ich hoffe, nie ein eitler Mensch gewesen zu sein, nie einer, der sich selbst bewunderte oder überschätzte, und glaube auch heute weder an meine Güte noch an meine Kraft. Aber von dieser wilden und dankbaren Begeisterung der andern strömte eine heiße Welle von Zuversicht unwiderstehlich in mich über. Weggetragen wie von goldenem Wind war mit einmal alle Furcht, alle Feigheit. Warum sollte ich mich nicht sorglos lieben lassen, wenn es die andern so glücklich machte? Geradezu ungeduldig wurde ich schon, hinüberzugehen in den Raum, den ich vorgestern so verzweifelt verlassen.


Und siehe, da saß ein Mädchen im Lehnstuhl, das ich kaum erkannte, so heiter blickte sie und solche Helligkeit ging von ihr aus. Sie trug ein zartblaues seidenes Kleid, das sie noch mädchenhafter, noch kindlicher erscheinen ließ. Im rötlichen Haar glänzten – waren es Myrten? – weiße Blüten, und um den Lehnstuhl gereiht standen – wer hatte sie ihr geschenkt? – Blumenkörbe, ein bunter Hain. Sie mußte längst gewußt haben, daß ich im Hause war; zweifellos hatte die Wartende das heitere Begrüßen vernommen und meinen nahenden Schritt. Aber vollkommen fehlte diesmal jener nervös prüfende, überwachende Blick, der sich sonst immer bei meinem Eintreten aus halb gedeckten Lidern mißtrauisch auf mich richtete. Leicht und aufrecht saß sie in ihrem Lehnstuhl; völlig vergaß ich diesmal, daß die Decke ein Gebrest verhüllte und der tiefe Fauteuil eigentlich ihr Kerker war, denn ich staunte nur über dies neue Mädchenwesen, das kindlicher in seiner Freude, fraulicher in seiner Schönheit schien. Sie bemerkte mein leises Überraschtsein und nahm es wie eine Gabe dar. Der alte Ton unserer unbesorgt-kameradschaftlichen Tage klang sofort auf, als sie mich einlud:


»Endlich! Endlich! Bitte, setzen Sie sich da gleich neben mich. Und, bitte, sprechen Sie nicht. Ich habe Ihnen etwas Entscheidendes zu sagen.«


Ich setzte mich, völlig unbefangen. Denn wie kann man verwirrt, wie verlegen bleiben, wenn jemand einem so hell, so freundlich zuspricht?


»Nur eine Minute hören Sie mich an. Und nicht wahr, Sie unterbrechen mich nicht?« Ich spürte, sie hatte diesmal jedes Wort überlegt. »Ich weiß alles, was Sie meinem Vater mitgeteilt haben. Ich weiß, was Sie für mich tun wollen. Und nun glauben Sie mir, bitte, Wort für Wort, was ich Ihnen verspreche: ich werde Sie nie – hören Sie, nie! – fragen, warum Sie das getan haben, ob bloß meinem Vater zuliebe oder wirklich für mich. Ob es bei Ihnen nur Mitleid war oder … nein, unterbrechen Sie mich nicht, ich will es nicht wissen, ich will nicht … ich will nicht mehr nachdenken und mich quälen und andere quälen. Genug, daß ich durch Sie wieder lebe und weiterlebe … daß ich seit gestern erst begonnen habe, zu leben. Wenn ich geheilt werde, habe ich es nur einem zu danken, nur Ihnen. Nur Ihnen allein!«


Sie zögerte einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Und jetzt hören Sie, was ich meinerseits verspreche. Ich habe heute nacht alles durchdacht. Zum erstenmal habe ich alles klar wie ein Gesunder überlegt, nicht wie früher, da ich noch unsicher war, in Erregtheit und Ungeduld. Es ist wunderbar, jetzt begreif ich’s erst, ohne Angst zu denken, wunderbar, ich kann nun zum erstenmal vorausfühlen, wie das ist, als normaler Mensch zu empfinden, und Ihnen, Ihnen allein verdanke ich dieses Vorgefühl. Ich will darum alles auf mich nehmen, was die Ärzte von mir verlangen, alles, alles, um ein Mensch zu werden aus dem Unding, das ich jetzt bin. Ich werde nicht nachgeben und nicht nachlassen, nun da ich weiß, was es gilt. Mit jeder Faser, mit jedem Nerv meines Leibes und jedem Tropfen meines Bluts werde ich mich mühen, und ich glaube, was einer so unbändig will, kann er von Gott erzwingen. Alles das tue ich für Sie, das heißt, um kein Opfer von Ihnen zu nehmen. Aber wenn es nicht gelingen sollte … bitte nicht unterbrechen! … oder auch, wenn es nicht ganz gelingt, wenn ich nicht ganz so gesund, so beweglich werde wie die andern – dann fürchten Sie nichts! Dann trage ich alles mit mir selber aus. Ich weiß, es gibt Opfer, die man nicht annehmen darf und am wenigsten von einem Menschen, den man liebt. Falls also diese Kur versagen sollte, auf die ich alles setze – alles! – dann werden Sie nie mehr von mir hören, nie mich wiedersehen. Nie werde ich Ihnen dann zur Last sein, das schwöre ich Ihnen, denn ich will überhaupt niemanden mehr mit mir belasten und Sie am wenigsten. So – das war alles. Und nun kein Wort mehr! Uns bleiben bloß ein paar gemeinsame Stunden in den nächsten Tagen; die möchte ich versuchen ganz glücklich zu sein.«


Es war eine andere Stimme, mit der sie sprach, eine gleichsam erwachsene Stimme. Es waren andere Augen, nicht die unruhigen des Kindes mehr und nicht die zehrenden und begehrenden der Kranken. Es war, ich fühlte es, eine andere Liebe, mit der sie mich liebte, nicht die verspielte des Anfangs und nicht die gierig verquälte mehr. Und mit anderen Blicken sah auch ich sie an; nicht das Mitleid mit ihrem Mißgeschick bedrückte mich wie vordem, nicht ängstlich, nicht vorsichtig brauchte ich nunmehr zu sein, nur herzlich und klar. Ohne es selbst recht zu wissen, fühlte ich zum erstenmal wirkliche Zärtlichkeit zu diesem zarten, vom Vorglanz eines erträumten Glücks erhellten Mädchen. Ohne es zu spüren, ohne es bewußt zu wollen, rückte ich nahe zu ihr hin, um ihre Hand zu fassen, und nicht wie damals erbebte sie sinnlich bei dieser Berührung. Still und gewährend fügte sich das kühle schmale Gelenk in meine Umfassung, und ich fühlte beglückt, wie friedsam der kleine Hammer des Pulses pochte.


Dann sprachen wir ganz unbefangen von der Reise und kleinen alltäglichen Dingen, wir plauderten über das, was in der Stadt, was in der Kaserne geschehen. Ich begriff nicht mehr, daß ich mich hatte quälen können, wo doch alles so einfach war: man saß bei einem Menschen und hielt seine Hand. Man verkrampfte sich nicht und versteckte sich nicht, man zeigte, daß man es herzlich miteinander meinte, man wehrte sich nicht gegen die zärtliche Empfindung, man nahm das Gefühl einer Neigung ohne Scham und mit reinem Dank.


Und dann saßen wir bei Tisch. Die silbernen Girandolen leuchteten im Kerzenschein, und die Blumen entstiegen den Vasen wie farbige Flammen. Von Spiegel zu Spiegel grüßte sich das Licht des kristallenen Lüsters, rings schwieg, wie eine Muschel dunkel gewölbt um ihre leuchtende Perle, das Haus. Manchmal meinte ich zu hören, wie draußen die Bäume still atmeten und der Wind warm und wollüstig über die Gräser strich, denn Duft wehte herein durch die geöffneten Fenster. Alles war schöner und besser als je; wie ein Priester saß der alte Mann, aufrecht und feierlich, nie hatte ich Edith, nie Ilona so heiter und jung gesehen, nie hatte so weiß die Hemdbrust des Dieners geglänzt, nie die glatte Haut der Früchte so bunt geglüht. Und wir saßen und aßen und tranken und sprachen und freuten uns der wiedergewonnenen Eintracht. Unbekümmert wie ein zwitschernder Vogel flog Lachen von einem zum andern, in spielender Welle flutete und ebbte die Heiterkeit auf und nieder. Nur als der Diener die Gläser mit Champagner füllte und ich als erster Edith das Glas entgegenhob: »Auf Ihre Gesundheit!« wurden plötzlich alle still.


»Ja, gesund werden«, atmete sie und sah mich gläubig an, als hätte mein Wunsch Macht über Leben und Tod. »Gesund für dich.«


»Gott gebe es!« Der Vater war aufgestanden, er konnte nicht an sich halten. Die Tränen feuchteten ihm die Brille, er nahm sie ab und putzte umständlich daran herum. Ich spürte, daß seine Hände sich kaum zähmen konnten, mich zu berühren, und ich weigerte mich nicht. Auch ich fühlte das Bedürfnis, ihm dankbar zu sein, ich trat an ihn heran und umarmte ihn, daß sein Bart meine Wange streifte. Als er sich von mir löste, merkte ich, daß Edith auf mich blickte. Ihre Lippen bebten leicht; ich ahnte, wie sehr die halb aufgetanen Lippen sich nach gleich inniger Berührung sehnten. So beugte ich mich rasch zu ihr nieder und küßte ihren Mund.


Das war das Verlöbnis. Ich hatte die Liebende nicht nach bewußter Überlegung geküßt – eine reine Ergriffenheit hatte es für mich getan. Es war mir geschehen ohne Wissen und Wollen; aber ich bereute die kleine, die reine Zärtlichkeit nicht. Denn nicht drängte sie mir wild wie damals die pochende Brust entgegen, nicht hielt die vor Glück Erglühende mich fest. Demütig, wie ein großes Geschenk, nahmen ihre Lippen die meinen. Die andern schwiegen. Da kam aus der Ecke ein schüchternes Geräusch. Ein verlegenes Räuspern schien es zuerst, aber als wir aufblickten, war es der Diener, der in der Ecke leise schluchzte. Er hatte die Flasche hingestellt und sich abgewandt; wir sollten seine ungehörige Ergriffenheit nicht merken, aber jeder von uns fühlte diese fremden unbeholfenen Tränen warm im eigenen Auge. Auf einmal spürte ich Ediths Hand an der meinen. »Laß sie mir einen Augenblick.«


Ich wußte nicht, was sie beabsichtigte. Da schob sich etwas Kühles und Glattes an meinen vierten Finger. Es war ein Ring. »Damit du an mich denkst, wenn ich fort bin«, entschuldigte sie sich. Ich blickte den Ring nicht an; ich nahm nur ihre Hand und küßte sie.

vorheriges Kapitel

Kapitel 25

nachfolgendes Kapitel

Kapitel 27

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.