Kapitel 32
Von den Hunderttausenden, die in jenen Augusttagen der Krieg aufrief, sind, ich bin dessen gewiß, nur wenige so gleichmütig und sogar ungeduldig an die Front abgegangen wie ich. Nicht daß ich kriegswütig gewesen wäre. Es war nur ein Ausweg, eine Rettung für mich; ich flüchtete in den Krieg wie ein Verbrecher ins Dunkel. Die vier Wochen bis zur Entscheidung hatte ich in einem Zustand der Selbstverachtung, der Verwirrung, der Verzweiflung verbracht, an den ich mich noch heute mit mehr Grauen erinnere als an die fürchterlichsten Stunden auf den Schlachtfeldern. Denn ich war überzeugt, durch meine Schwäche, durch mein erst lockendes und dann flüchtendes Mitleid einen Menschen und dazu den einzigen Menschen, der mich leidenschaftlich liebte, ermordet zu haben. Ich wagte nicht mehr, auf die Gasse zu gehen, ich meldete mich krank, ich verkroch mich in meinem Zimmer. Ich hatte Kekesfalva geschrieben, um ihm meine Anteilnahme (ach, es war wirklich mein Anteil) auszudrücken: er antwortete nicht. Ich überhäufte Condor mit Erklärungen, um mich zu rechtfertigen: er antwortete nicht. Von den Kameraden kam keine Zeile, von meinem Vater nicht – in Wirklichkeit wohl darum, weil er in seinem Ministerium während jener kritischen Wochen überbeschäftigt war. Ich aber erblickte in diesem einhelligen Schweigen eine verabredete Verurteilung. Immer tiefer verstrickte ich mich in den Wahn, alle hätten mich verurteilt, so wie ich mich selber verurteilte, alle hielten mich für einen Mörder, weil ich mich selber so nannte. Während das ganze Reich vor Erregung bebte, während rings im verstörten Europa alle Drähte wie glühend zitterten von Schreckensnachrichten, während die Börsen wankten, die Armeen mobilisierten und die Vorsichtigen bereits ihre Koffer packten, dachte ich nur an meinen feigen Verrat, an meine Schuld. Weggerufen zu werden von mir selbst, bedeutete darum Befreiung für mich; der Krieg, der Millionen Unschuldige hinabgerissen, hat mich, den Schuldigen, vor Verzweiflung gerettet (aber ich rühme ihn darum nicht).
Mich ekeln pathetische Worte. So sage ich nicht etwa: ich habe damals den Tod gesucht. Ich sage nur: ich habe ihn nicht gefürchtet, zum mindesten weniger gefürchtet als die meisten, denn in manchen Augenblicken schien mir eine Rückkehr in das Hinterland, wo ich die Mitwisser meiner Schuld wußte, furchtbarer als alles Grauen der Front – und wohin auch hätte ich zurück sollen, wer brauchte mich, wer liebte mich noch, für wen, wofür sollte ich leben? Sofern tapfer sein nichts Anderes, nichts Höheres bedeutet, als sich nicht fürchten, darf ich getrost und ehrlich behaupten, im Felde tatsächlich tapfer gewesen zu sein, denn selbst was den männlichsten meiner Kameraden schlimmer schien als Sterben – selbst die Möglichkeit des Verkrüppelt-, des Verstümmeltwerdens, schreckte mich nicht. Als Strafe, als gerechte Rache hätte ich es wahrscheinlich empfunden, selber hilflos, ein Krüppel zu werden, Beute jedes fremden Mitleids, weil das meine damals zu feige, zu schwächlich gewesen war. Wenn der Tod mir nicht begegnete, lag das Versäumnis also nicht an mir; ich bin ihm mit dem kalten Blick des Gleichgültigen Dutzende Male entgegengegangen. Wo etwas besonders Schweres zu tun war, wo man Freiwillige forderte, meldete ich mich. Wo es scharf auf scharf ging, fühlte ich mich wohl. Nach meiner ersten Verwundung ließ ich mich zur Maschinengewehrkompagnie und später zu den Fliegern transferieren; anscheinend ist mir dort wirklich auf unseren elenden Apparaten allerhand gelungen. Aber immer, wenn ich in einem Erlaß das Wort »Tapferkeit« im Zusammenhang mit meinem Namen gedruckt fand, hatte ich das Gefühl eines Betrügers. Und wenn jemand zu scharf auf meine Auszeichnungen blickte, bog ich rasch zur Seite.
Als dann die vier endlosen Jahre vorüber waren, entdeckte ich zu meiner eigenen Überraschung, daß ich in jener früheren Welt trotzdem wieder zu leben vermochte. Denn wir vom Hades Heimkehrenden wogen alle Dinge mit einem neuen Gewicht. Den Tod eines Menschen auf dem Gewissen zu haben, galt einem Weltkriegssoldaten nicht mehr das gleiche wie dem Menschen der Friedenswelt; meine eigene private Schuld, sie hatte sich in dem riesigen Blutsumpf völlig aufgelöst in die allgemeine; denn dasselbe Ich, dieselben Augen, dieselben Hände, hatten doch auch das Maschinengewehr eingestellt, das bei Limanova die erste Welle der russischen Infanterie vor unserem Graben hinmähte, selbst hatte ich mit dem Feldstecher nachher die grassen Augen der durch mich Getöteten, der durch mich Verwundeten gesehen, die im Stacheldraht stundenlang noch stöhnten, ehe sie elend verreckten. Ich hatte vor Görz ein Flugzeug heruntergeholt; dreimal überschlug es sich in der Luft, ehe es mit aufzuckender Stichflamme am Karstgestein zerschellte, und mit eigener Hand hatten wir dann die verkohlten und noch grausig schwelenden Leichen nach der Erkennungsmarke abgesucht. Abertausende, die neben mir in Reih und Glied marschierten, hatten das gleiche getan, mit dem Karabiner, dem Bajonett, dem Flammenwerfer, dem Maschinengewehr und der nackten Faust, Hunderttausende und Millionen meiner Generation in Frankreich, in Rußland und Deutschland – was galt da ein einzelner Mord noch viel, was eine private, persönliche Schuld innerhalb der tausendfältigen und kosmischen, dieser fulminantesten Massenzerstörung und Massenvernichtung menschlichen Lebens, die bisher die Geschichte gekannt?
Und dann – erneute Entlastung – in dieser Rückwärtswelt stand kein Zeuge mehr wider mich. Niemand konnte den für besondere Tapferkeit Ausgezeichneten seiner einstigen Feigheit bezichtigen, niemand mehr mir meine verhängnisvolle Schwachheit vorwerfen. Kekesfalva hatte den Tod seiner Tochter nur um wenige Tage überlebt, Ilona wohnte als kleine Notarsgattin in einem jugoslawischen Dorf, der Oberst Bubencic hatte sich an der Save erschossen, meine Kameraden waren gefallen oder hatten längst die nichtige Episode vergessen – alles »zuvor« war doch so nichtig und ungültig geworden in diesen vier apokalyptischen Jahren wie das frühere Geld. Niemand konnte mich anklagen, niemand mich richten; mir war wie einem Mörder, der die Leiche seines Opfers im Gehölz vergraben hat und der Schnee beginnt zu fallen, dicht, weiß, schwer; Monate noch, weiß er, wird die schützende Decke über seiner Untat liegen und dann jede Spur für immer verloren sein. So faßte ich Mut und begann wieder zu leben. Da niemand mich erinnerte, vergaß ich schon selbst meine Schuld. Denn tief und gut vermag das Herz zu vergessen, wo es dringlich vergessen will.
Nur einmal kam das Erinnern vom andern Ufer zurück. Ich saß im Parterre der Wiener Oper auf einem Ecksitz der letzten Reihe, um wieder einmal den Gluck’schen »Orpheus« zu hören, dessen reine und verhaltene Schwermut mich mehr als jede andere Musik ergreift. Eben endete die Ouvertüre, man erhellte in der knappen Pause nicht den verdunkelten Saal, ließ aber einigen Nachzüglern noch Gelegenheit, sich im Dunkel auf ihre Plätze zu begeben. Auch zu meiner Reihe schatteten zwei dieser Spätkömmlinge, ein Herr und eine Dame.
»Darf ich bitten«, neigte sich höflich der Herr mir zu. Ohne ihn zu beachten oder zu betrachten, stand ich auf, um den Durchlaß freizugeben. Aber statt sich sogleich auf den leeren Platz neben mich zu setzen, schob er zuerst behutsam mit führenden, zärtlich lenkenden Händen die Dame voran; er zeigte, er ebnete ihr gleichsam den Weg und klappte ihr überdies fürsorglich den Sitz auf, ehe er sie in den Fauteuil niedersenkte. Diese Art der Obhut war zu ungewöhnlich, um mir nicht aufzufallen. Ach, eine Blinde, dachte ich und blickte unwillkürlich mitfühlend zu ihr hin. Aber da nahm neben mir der etwas dickliche Herr Platz, und mit einem Riß im Herzen erkannte ich ihn: Condor! Der einzige Mensch, der alles wußte, der mich kannte bis in die tiefsten Tiefen meiner Schuld, saß atemnah neben mir. Er, dessen Mitleid nicht eine mörderische Schwäche gewesen wie das meine, sondern aufopfernde, sich selbst aufopfernde Kraft, er, der einzige, der mich richten konnte, der einzige, vor dem ich mich zu schämen hatte! Wenn im Zwischenakt die Lüster aufflammten, mußte er mich sofort erkennen.
Ich begann zu zittern und schob hastig die Hand vor mein Gesicht, um wenigstens im Dunkel geschützt zu sein. Nicht eine Schwingung hörte ich mehr von der geliebten Musik, mein Herz hämmerte zu heftig. Die Nähe dieses Menschen, des einzigen auf Erden, der wahrhaft um mich wußte, erdrückte mich. Als säße ich splitternackt im Dunkel unter all den wohlgekleideten und wohlanständigen Menschen, schauerte ich jetzt schon vor dem Augenblick, da die aufflammende Beleuchtung mich offenbaren mußte. Und so drückte ich in dem kurzen Intervall zwischen dunkel und hell, während über den ersten Akt der Vorhang zu sinken begann, rasch den Kopf nieder und flüchtete durch den Mittelgang – ich glaube, rasch genug, daß er mich nicht sehen, nicht erkennen konnte. Aber seit jener Stunde weiß ich neuerdings: keine Schuld ist vergessen, solange noch das Gewissen um sie weiß.
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Marceline Desbordes-Valmore – Das Lebensbild einer Dichterin
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.