Kapitel 4
Ich konnte nicht gleich schlafen gehen an jenem Abend, ich war zu erregt. So winzig der Anlaß sich auch, von außen gesehen, darstellen mochte – es war doch schließlich nichts Weiteres geschehen, als daß ein alter Mann mir zärtlich den Ärmel gestreichelt hatte – diese eine verhaltene Geste inbrünstigen Danks hatte schon ausgereicht, um ein Innerlichstes in mir zum Fluten und Überfluten zu bringen. Ich hatte in dieser überwältigenden Berührung eine Zärtlichkeit von so keuscher und doch leidenschaftlicher Innigkeit erfahren, wie nicht einmal von einer Frau. Zum erstenmal in meinem Leben war mir jungem Menschen Gewißheit geworden, irgend jemandem auf Erden geholfen zu haben, und maßlos war mein Staunen, daß ich kleiner, mittelmäßiger, unsicherer Offizier wirklich Macht haben sollte, jemanden derart glücklich zu machen. Vielleicht muß ich, um das Berauschende, das für mich in dieser jähen Entdeckung lag, zu erklären, mich selbst erst wieder erinnern, daß nichts seit meiner Kindheit mir dermaßen auf der Seele gelastet hatte wie die Überzeugung, ich sei ein völlig überflüssiger Mensch, allen andern uninteressant und bestenfalls gleichgültig. In der Kadettenschule, in der Militärakademie hatte ich immer nur zu den mittleren, völlig unauffälligen Schülern gehört, nie zu den beliebten oder besonders bevorzugten, und nicht besser ging’s mir beim Regiment. So war ich im tiefsten überzeugt, daß wenn ich plötzlich verschwinden würde, etwa vom Pferd fallen und mir das Genick brechen, die Kameraden vielleicht sagen würden »Schad um ihn« oder »Der arme Hofmiller«, aber nach einem Monat würde ich niemandem wirklich fehlen. An meine Stelle, auf mein Pferd würde ein anderer gesetzt, und dieser andere würde genau so gut oder schlecht meinen Dienst machen. Genau wie bei den Kameraden war es mir bei den paar Mädeln ergangen, mit denen ich in meinen zwei Garnisonen Verhältnisse gehabt hatte; in Jaroslau mit der Assistentin eines Zahnarztes, in Wiener Neustadt mit einer kleinen Näherin; wir waren zusammen ausgegangen, ich hatte Annerl an ihrem freien Tag ins Zimmer genommen, ihr zum Geburtstag ein kleines Halsband aus Korallen geschenkt; man hatte sich die üblichen zärtlichen Worte gesagt, wahrscheinlich sie auch wirklich ehrlich gemeint. Doch als ich dann abkommandiert wurde, hatten wir beide uns rasch getröstet; die ersten drei Monate schrieben wir uns noch ab und zu die obligaten Briefe, dann freundeten wir uns jeder mit anderen an; der ganze Unterschied blieb, daß sie in zärtlicher Aufwallung nun dem andern Ferdl sagte statt Toni. Vorüber, vergessen. Nirgends aber hatte bisher ein starkes, ein leidenschaftliches Gefühl mich, den Fünfundzwanzigjährigen, zum Anlaß genommen, und ich selbst erwartete und forderte im Grunde vom Leben gar nicht mehr, als sauber und korrekt meinen Dienst zu tun und in keiner Weise unangenehm aufzufallen.
Nun aber war das Unerwartete geschehen, und staunend blickte ich mit aufgeschreckter Neugier mich selber an. Wie? Auch ich mittelmäßiger junger Mensch hatte Macht über andere Menschen? Ich, der keine fünfzig Kronen ehrlich meinen Besitz nennen konnte, vermochte einem reichen Manne mehr Glück zu schenken als alle seine Freunde? Ich, Leutnant Hofmiller, konnte jemandem helfen, ich konnte jemanden trösten? Wenn ich mich einen Abend, zwei Abende zu einem lahmen, verstörten Mädchen setzte und mit ihr plauderte, wurden ihre Augen hell, ihre Wangen atmeten Leben, und ein ganzes verdüstertes Haus ward licht durch meine Gegenwart?
Ich gehe so rasch in meiner Erregung durch die dunkeln Gassen, daß mir ganz warm wird. Am liebsten möchte ich den Rock aufreißen, so dehnt sich mir das Herz. Denn in dieser Überraschung drängt und enthüllt sich unvermutet eine neue, eine zweite, die noch berauschender wirkt – nämlich, daß es so leicht war, so rasend leicht, diese fremden Menschen zu Freunden zu gewinnen. Was hatte ich denn viel geleistet? Ich hatte ein bißchen Mitleid gezeigt, ich hatte zwei Abende und zwar fröhliche, heitere, beschwingte Abende in dem Hause verbracht, und schon das war genug gewesen? Wie dumm dann, seine ganze freie Zeit tagtäglich im Kaffee zu verdösen, mit langweiligen Kameraden stumpfsinnig Karten zu spielen oder den Korso hinauf und hinunter zu promenieren. Nein, von nun ab nicht mehr diesen Stumpfsinn, diesen ludrigen Leerlauf! Mit wirklicher Leidenschaft nehme ich junger, plötzlich aufgeweckter Mensch mir vor, während ich immer hastiger hinschreite durch die weiche Nacht: Ich will von nun ab mein Leben ändern. Ich werde weniger ins Kaffeehaus gehen, werde aufhören mit dem dummen Tarockieren und Billardspiel, werde energisch Schluß machen mit allen diesen Zeittotschlägereien, die niemandem nützen und mich selber verdummen. Ich werde lieber dieser Kranken öfters Besuch machen, mich sogar jedesmal besonders vorbereiten, damit ich den beiden Mädchen immer etwas Nettes und Lustiges erzählen kann, wir werden zusammen Schach spielen oder sonst die Zeit behaglich verbringen; schon dieser bloße Vorsatz, zu helfen, und von nun ab andern nützlich zu sein, erregt in mir eine Art Begeisterung. Ich möchte am liebsten singen, ich möchte etwas Unsinniges tun aus diesem Gefühl der Beschwingtheit; immer erst, sobald man weiß, daß man auch andern etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz.
So kam es und nur so, daß ich in den nächsten Wochen die Spätnachmittage und meist auch die Abende bei den Kekesfalvas verbrachte; bald wurden diese freundschaftlichen Plauderstunden schon Gewöhnung und eine nicht ungefährliche Verwöhnung dazu. Aber welche Verlockung auch für einen seit den Knabenjahren von einer Militäranstalt in die andere herumgestoßenen jungen Menschen, unverhofft ein Zuhause zu finden, eine Heimat des Herzens statt kalter Kasernenräume und rauchiger Kameradschaftsstuben! Wenn ich nach erledigtem Dienst, halb fünf oder fünf, hinauswanderte, schlug meine Hand noch nicht recht auf den Klopfer, und schon riß der Diener freudigst die Tür auf, als hätte er durch ein magisches Guckloch mein Kommen beobachtet. Alles deutete mir liebevoll-sichtbar an, wie selbstverständlich man mich als zur Familie gehörig rechnete; jeder meiner kleinen Schwächen und Vorlieben war vertraulicher Vorschub geleistet. Von Zigaretten lag immer just meine Lieblingssorte bereit, ein beliebiges Buch, von dem ich das letzte Mal zufällig erwähnt hatte, ich würde es gerne einmal lesen, fand sich wie durch Zufall neu und doch schon vorsorglich aufgeschnitten auf dem kleinen Taburett, ein bestimmter Fauteuil gegenüber Ediths Chaiselongue galt unumstößlich als »mein« Platz – Kleinigkeiten, Nichtigkeiten dies alles, gewiß, aber doch solche, die einen fremden Raum wohltuend mit Heimischkeit durchwärmen und den Sinn unmerklich erheitern und erleichtern. Da saß ich dann, sicherer als je im Kreis meiner Kameraden, plauderte und spaßte, wie es mir vom Herzen kam, zum erstenmal wahrnehmend, daß jede Form der Gebundenheit die eigentlichen Kräfte der Seele bindet und das wahre Maß eines Menschen erst in seiner Unbefangenheit zutage tritt.
Aber noch ein anderes, viel Geheimnisvolleres hatte unbewußt Anteil daran, daß mich das tägliche Beisammensein mit den beiden Mädchen so sehr beschwingte. Seit meiner frühzeitigen Auslieferung an die Militäranstalt, seit zehn, seit fünfzehn Jahren also, lebte ich unausgesetzt in männlicher, in männischer Umgebung. Von morgens bis nachts, von nachts bis früh, im Schlafraum der Militärakademie, in den Zelten der Manöver, in den Stuben, bei Tisch und unterwegs, in der Reitschule und im Lehrzimmer, immer und immer atmete ich im Luftraum nur Dunst des Männlichen um mich, erst Knaben, dann erwachsene Burschen, aber immer Männer, Männer, schon gewöhnt an ihre energischen Gebärden, ihren festen, lauten Gang, ihre gutturalen Stimmen, ihren knastrigen Geruch, ihre Ungeniertheit und manchmal sogar Ordinärheit. Gewiß, ich hatte die meisten meiner Kameraden herzlich gern und durfte wahrhaftig nicht klagen, daß sie es nicht ebenso herzlich meinten. Aber eine letzte Beschwingtheit fehlte dieser Atmosphäre, sie enthielt gleichsam nicht genug Ozon, nicht genug spannende, prickelnde, elektrisierende Kräfte. Und wie unsere prächtige Militärkapelle trotz ihres vorbildlich rhythmischen Schwungs doch immer nur kalte Blechmusik blieb, also hart, körnig und einzig auf Takt eingestellt, weil ihr der zärtlich-sinnliche Streicherton der Violinen fehlte, so entbehrten sogar die famosesten Stunden unserer Kameraderie jenes sordinierenden Fluidums, das immer die Gegenwart oder auch nur Atemnähe von Frauen jeder Geselligkeit beimischt. Schon damals, als wir Vierzehnjährigen je zwei und zwei in unseren verschnürten kleidsamen Kadettenmonturen durch die Stadt promenierten, hatten wir, wenn wir andern jungen Burschen mit Mädchen flirtend oder nachlässig plaudernd begegneten, wirr sehnsüchtig empfunden, daß durch die seminaristische Einkasernierung etwas unserer Jugend gewalttätig entzogen wurde, was unseren Altersgenossen tagtäglich auf Straße, Korso, Eisbahn und im Tanzsaal ganz selbstverständlich zugeteilt war: der unbefangene Umgang mit jungen Mädchen, indessen wir, die Abgesonderten, die Eingegitterten, diesen kurzröckigen Elfen wie zauberischen Wesen nachstarrten, von einem einmaligen Gespräch mit einem Mädchen schon wie von einer Unerreichbarkeit träumend. Solche Entbehrung vergißt sich nicht. Daß späterhin rasche und meist billige Abenteuer mit allerhand gefälligen Weibspersonen sich einstellten, bot keinerlei Ersatz für diese sentimentalen Knabenträume, und ich spürte an der Ungelenkigkeit und Blödigkeit, mit der ich jedesmal (obwohl ich schon mit einem Dutzend Frauen geschlafen) in der Gesellschaft herumstotterte, sobald ich zufällig an ein junges Mädchen geriet, daß mir jene naive und natürliche Unbefangenheit durch allzulange Entbehrungen für allezeit versagt und verdorben war.
Und nun hatte sich plötzlich dies uneingestandene knabenhafte Verlangen, eine Freundschaft statt mit bärtigen, männischen, ungehobelten Kameraden einmal mit jungen Frauen zu erleben, auf die vollkommenste Weise erfüllt. Jeden Nachmittag saß ich, Hahn im Korbe, zwischen den beiden Mädchen; das Helle, das Weibliche ihrer Stimmen tat mir (ich kann es nicht anders ausdrücken) geradezu körperlich wohl, und mit einem kaum zu beschreibenden Glücksgefühl genoß ich zum erstenmal mein eigenes Nichtscheusein mit jungen Mädchen. Denn es steigerte nur das besonders Glückhafte in unserer Beziehung, daß durch eigenartige Umstände jener elektrisch knisternde Kontakt abgeschaltet war, der sich sonst unaufhaltsam bei jedem längeren Zuzweitsein von jungen Leuten verschiedenen Geschlechts ergibt. Völlig fehlte unseren ausdauernden Plauderstunden alles Schwülende, das sonst ein tête-à-tête im Halbdunkel so gefährlich macht. Zuerst freilich – ich gestehe es willig ein – hatten die küßlich vollen Lippen, die fülligen Arme Ilonas, die magyarische Sinnlichkeit, die sich in ihren weichen, schwingenden Bewegungen verriet, mich jungen Menschen auf die angenehmste Art irritiert. Ich mußte einigemal meine Hände in straffer Dressur halten gegen das Verlangen, einmal dies warme, weiche Ding mit den schwarzen, lachenden Augen an mich heranzureißen und ausgiebigst abzuküssen. Aber erstlich vertraute mir Ilona gleich in den Anfangstagen unserer Bekanntschaft an, daß sie seit zwei Jahren einem Notariatskandidaten in Becskeret verlobt sei und nur die Wiederherstellung oder Besserung im Befinden Ediths abwarte, um ihn zu heiraten – ich erriet, daß Kekesfalva der armen Verwandten eine Mitgift zugesagt hatte, falls sie bishin ausharre. Und überdies, welcher Roheit, welcher Perfidie hätten wir uns schuldig gemacht, im Rücken dieser rührenden, ohnmächtig an den Rollstuhl gefesselten Gefährtin kleine Küßlichkeiten oder Handgreiflichkeiten ohne rechte Verliebtheit zu versuchen. Sehr rasch also versickerte der anfängliche sinnlich flirrende Reiz, und was ich an Zuneigung zu empfinden imstande war, wandte sich auf immer innigere Weise der Hilflosen, der Zurückgesetzten zu, denn zwanghaft bindet sich in der geheimnisvollen Chemie der Gefühle Mitleid für einen Kranken unmerklich mit Zärtlichkeit. Neben der Gelähmten zu sitzen, sie im Gespräch zu erheitern, ihren schmalen unruhigen Mund durch ein Lächeln beschwichtigt zu sehen oder manchmal, wenn sie, einer heftigen Laune nachgebend, ungeduldig aufzuckte, schon durch das bloße Auflegen der Hand beschämte Nachgiebigkeit zu erzielen und dafür noch einen dankbaren grauen Blick zu empfangen – solche kleinen Vertraulichkeiten einer seelischen Freundschaft beglückten mich bei dieser Wehrlosen, dieser Kraftlosen mehr, als es die leidenschaftlichsten Abenteuer mit ihrer Freundin vermocht hätten. Und dank dieser leisen Erschütterungen entdeckte ich – wie viele Erkenntnisse verdankte ich schon diesen wenigen Tagen! – mir völlig unbekannte und ungeahnt zartere Zonen des Gefühls.
Unbekannte und zartere Zonen des Gefühls – aber freilich gefährlichere auch! Denn vergeblich die schonendste Bemühung: nie vermag die Beziehung zwischen einem Gesunden und einer Kranken, einem Freien und einer Gefangenen auf die Dauer völlig in reiner Schwebe zu bleiben. Unglück macht verletzbar und unablässiges Leiden ungerecht. Genau wie zwischen Gläubiger und Schuldner unausrottbar ein Peinliches beharrt, weil eben dem einen unabänderlich die Rolle des Gebenden und dem andern die des Empfangenden zugeteilt ist, so bleibt in dem Kranken eine heimliche Gereiztheit gegen jede sichtbare Besorgtheit ständig im Ansprung. Unablässig mußte man auf der Hut sein, nicht die kaum merkliche Grenze zu überschreiten, wo Anteilnahme, statt zu beschwichtigen, die leicht Verwundbare noch mehr verletzte; einerseits verlangte sie, verwöhnt wie sie war, daß alles sie bediente wie eine Prinzessin und verhätschelte wie ein Kind, aber schon im nächsten Augenblick konnte diese Rücksicht sie erbittern, weil sie ihr die eigene Hilflosigkeit deutlicher zum Bewußtsein brachte. Rückte man etwa das Taburett gefällig heran, um ihr den anstrengenden Handgriff nach Buch und Tasse möglichst zu ersparen, so herrschte sie einen blitzenden Auges an: »Glauben Sie, daß ich mir nicht selbst nehmen kann, was ich will?« Und wie ein eingegittertes Tier sich manchmal ohne jeden Anlaß gegen den sonst so umschmeichelten Wärter wirft, kam ab und zu eine boshafte Lust über die Gelähmte, unsere unbefangene Stimmung mit einem plötzlichen Prankenschlag zu zerfleischen, indem sie ganz unvermittelt von sich selbst als »einem elenden Krüppel« sprach. In solchen gespannten Augenblicken mußte man wirklich alle Kraft in sich zusammennehmen, um nicht ungerecht gegen ihren aggressiven Unmut zu werden.
Aber zu meinem eigenen Erstaunen fand ich immer wieder diese Kraft. Immer wachsen einer ersten Erkenntnis im Menschlichen andere geheimnisvoll zu, und wem nur einmal die Fähigkeit zuteil ward, eine einzige Form irdischen Leidens wahrhaft mitzufühlen, der versteht durch diese magische Belehrung alle Formen, auch die fremdartigsten und scheinbar widersinnigen. So ließ ich mich nicht beirren durch Ediths gelegentliche Revolten; im Gegenteil, je ungerechter und schmerzlicher ihre Ausbrüche waren, umsomehr erschütterten sie mich; allmählich verstand ich auch, warum mein Kommen dem Vater und Ilona, warum mein Mitdabeisein dem ganzen Hause so willkommen war. Ein lang dauerndes Leiden ermüdet im allgemeinen nicht nur den Kranken, sondern auch das Mitleid der andern; starke Gefühle lassen sich nicht ins Ungemessene verlängern. Nun litten sicherlich der Vater und die Freundin bis in den Grund ihrer Seele mit dieser armen Ungeduldigen, aber sie litten schon in einer erschöpften und resignierten Art. Sie nahmen die Kranke als Kranke, die Tatsache der Lähmung als Tatsache, sie warteten jedesmal gesenkten Blicks, bis diese kurzen Nervengewitter sich ausgetobt. Aber sie erschraken nicht mehr so, wie ich jedesmal von neuem erschrak. Ich dagegen, der einzige, dem ihr Leiden eine immer erneute Erschütterung bedeutete, wurde bald der einzige, vor dem sie sich ihrer Maßlosigkeit schämte. Ich brauchte nur, wenn sie unbeherrscht auffuhr, ein kleines mahnendes Wort wie »Aber liebes Fräulein Edith« zu sagen, und schon duckte sich gehorsam der ganze Blick. Sie errötete, und man sah, am liebsten wäre sie, wenn ihre Füße sie nicht gefesselt hätten, vor sich selber geflüchtet. Und nie konnte ich von ihr Abschied nehmen, ohne daß sie mit einer gewissen flehenden Art, die mir durch und durch ging, gesagt hätte: »Aber Sie kommen doch morgen wieder? Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse wegen all der Dummheiten, die ich heute gesagt habe?« In solchen Minuten fühlte ich eine Art rätselhaften Staunens, daß ich, der ich doch nichts zu geben hatte als mein ehrliches Mitleid, soviel Macht besaß über andere Menschen.
Aber es ist der Sinn der Jugend, daß jede neue Erkenntnis ihr zu Exaltation wird und sie, einmal angeschwungen von einem Gefühl, davon nicht genug zu bekommen vermag. Eine sonderbare Verwandlung begann in mir, sobald ich entdeckte, daß dies mein Mitfühlen eine Kraft war, die nicht nur mich selbst geradezu lustvoll erregte, sondern auch über mich hinaus wohltätig wirkte: seit ich zum erstenmal dieser neuen Fähigkeit des Mitleidens Einlaß in mich gegeben, schien es mir, als sei ein Toxin in mein Blut eingedrungen und hätte es wärmer, röter, geschwinder, pulsender, vehementer gemacht. Mit einem Schlage verstand ich die Stumpfheit nicht mehr, in der ich bislang so schlendrig dahingelebt wie in einer grauen gleichgültigen Dämmerung. Hundert Dinge beginnen mich zu erregen, zu beschäftigen, an denen ich früher achtlos vorübergegangen. Überall gewahre ich, als wäre mit jenem ersten Blick in ein fremdes Leiden ein schärferes, wissenderes Auge in mir erwacht, Einzelheiten, die mich beschäftigen, begeistern, erschüttern. Und da doch unsere ganze Welt voll ist, Straße um Straße und Zimmer um Zimmer, mit fühlbarem Schicksal und durchflutet von brennender Not bis zum untersten Grund, so ist mein Tag jetzt ununterbrochen von Aufmerksamkeit und Spannung erfüllt. Ich ertappe mich zum Beispiel beim Remontenreiten, daß ich auf einmal nicht mehr wie früher einem stützigen Pferd mit voller Wucht einen Hieb über die Kruppe schlagen kann, denn ich spüre schuldbewußt den von mir verursachten Schmerz, und die Strieme brennt mir auf der eigenen Haut. Oder unwillkürlich krampfen sich mir die Finger zusammen, wenn unser cholerischer Rittmeister einem armen ruthenischen Ulanen, der den Sattel schlecht aufgezäumt hat, die geballte Faust ins Gesicht knallt, und der Bursche steht stramm, die Hand an der Hosennaht. Ringsum starren oder lachen blöd die andern Soldaten, ich aber, ich allein sehe, wie unter den beschämt gesenkten Augenlidern des dumpfen Burschen die Wimpern sich feuchten. Mit einmal kann ich in unserer Offiziersmesse die Witze über ungeschickte oder unbeholfene Kameraden nicht mehr ertragen; seit ich an diesem wehrlosen, machtlosen Mädchen die Qual der Unkraft begriffen habe, erregt mich haßvoll jede Brutalität und anteilfordernd jede Wehrlosigkeit. Unzählige Kleinigkeiten, die mir bisher entgangen sind, bemerke ich, seit mir der Zufall diesen einen heißen Tropfen Mitleid ins Auge geträufelt, einfältige, simple Dinge, aber von jedem einzelnen geht für mich Spannung und Erschütterung aus. Es fällt mir zum Beispiel auf, daß die Tabaktrafikantin, bei der ich immer meine Zigaretten kaufe, die hingereichten Geldstücke auffällig nah an die rundgeschliffene Brille hält, und sofort beunruhigt mich der Verdacht, daß sie den Star bekommen könne. Morgen will ich sie vorsichtig ausfragen und vielleicht auch den Regimentsarzt Goldbaum bitten, daß er sie einmal untersucht. Oder es fällt mir auf, daß die Freiwilligen den kleinen rothaarigen K. in der letzten Zeit so sichtlich schneiden, und ich erinnere mich, daß in der Zeitung gestanden hat (was kann er dafür, der arme Junge?), sein Onkel sei wegen betrügerischer Malversationen eingesperrt worden; mit Absicht setze ich mich bei der Menage zu ihm hin und fange ein langes Gespräch an, an seinem dankbaren Blick sofort spürend, daß er versteht, ich tu’s nur, um den andern zu zeigen, wie ungerecht und ordinär sie ihn behandeln. Oder ich bettle einen von meinem Zug heraus, dem der Oberst sonst unbarmherzig vier Stunden Spangen aufgebrummt hätte; immer neu und an täglich anderen Proben genieße ich diese plötzlich in mich gefahrene Lust. Und ich sage mir: von jetzt ab helfen, soviel du kannst, jedem und jedem! Nie mehr träge, nie mehr gleichgültig sein! Sich steigern, indem man sich hingibt, sich bereichern, indem man jedem Schicksal sich verbrüdert, jedes Leiden durch Mitleiden versteht und besteht. Und mein über sich selbst erstauntes Herz zittert vor Dankbarkeit für die Kranke, die ich unwissend gekränkt, und die durch ihr Leiden mich diese schöpferische Magie des Mitleids gelehrt.
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.