Kapitel 6


Ich bleibe also am nächsten Tage aus. Gleich nach Beendigung des Dienstes bummle ich mit Ferencz und Jozsi hinüber ins Café, wir lesen die Zeitung und beginnen dann den unvermeidlichen Tarock. Aber ich spiele verdammt schlecht, denn gerade mir gegenüber ist in der getäfelten Wand eine runde Uhr eingelassen: vier Uhr zwanzig, vier Uhr dreißig, vier Uhr vierzig, vier Uhr fünfzig, anstatt die Tarocke richtig mitzuzählen, zähle ich die Zeit. Halb fünf, da rücke ich gewöhnlich an zum Tee, alles steht gedeckt und bereit, und wenn ich mich einmal um eine Viertelstunde verspäte, so sagen und fragen sie schon: »Was war denn heute los?« So selbstverständlich ist mein pünktliches Kommen bereits geworden, daß sie damit wie mit einer Verpflichtung rechnen; seit zweieinhalb Wochen habe ich keinen Nachmittag versäumt, und wahrscheinlich blicken sie jetzt genau so unruhig wie ich selbst auf die Uhr und warten und warten. Ob sich’s nicht doch gehören würde, daß ich wenigstens hinaustelephonierte, um abzusagen? Oder vielleicht noch besser, ich schicke meinen Burschen …


»Aber Toni, das ist doch ein Skandal, was du heut zusamm’patzt. Paß doch anständig auf«, ärgerte sich der Jozsi und sieht mich ganz fuchtig an. Meine Zerstreutheit hat ihn ein Rekontra gekostet. Ich raffe mich zusammen.


»Sag, kann ich mit dir Platz tauschen?«


»Natürlich, aber warum denn?«


»Ich weiß nicht«, lüge ich, »ich glaube, der Lärm in der Bude hier macht mich so nervös.«


In Wirklichkeit ist es die Uhr, die ich nicht ansehen will, und ihr unerbittliches Vorrücken Minute um Minute. Ein kribbeliges Gefühl sitzt mir in den Nerven, immer wieder flattern mir die Gedanken weg, immer wieder bedrückt’s mich, ob ich nicht doch ans Telephon gehen und mich entschuldigen sollte. Zum erstenmal beginne ich zu ahnen, daß wirkliche Teilnahme sich nicht einschalten und abschalten läßt wie ein elektrischer Kontakt, und jedwedem, der teilnimmt an fremdem Schicksal, etwas genommen wird an Freiheit des eigenen.


Aber Kreuzteufel, fahre ich mich selber an, ich bin doch nicht verpflichtet, täglich die halbe Stunde weit hinauszustiefeln. Und gemäß dem geheimen Gesetz der Gefühlsverschränkung, demzufolge ein Geärgerter seinen Ärger unbewußt gegen ganz Unbeteiligte weitergibt wie eine Billardkugel den empfangenen Stoß, wendet sich meine Verstimmung statt gegen Jozsi und Ferencz gegen die Kekesfalvas. Sie sollen nur einmal auf mich warten! Sollen sehen, daß ich mit Geschenken und Liebenswürdigkeiten nicht zu kaufen bin, daß ich nicht auf die Stunde antrete wie der Masseur oder Turnlehrer. Nur kein Präjudiz schaffen, Gewohnheit verpflichtet, und ich will mich nicht festlegen. So versitze ich in meinem dummen Trotz dreieinhalb Stunden bis halb acht im Kaffeehaus, einzig um mir einzureden und zu beweisen, daß ich vollkommen frei bin, zu kommen und zu gehen, wann ich will, und daß mir das gute Essen und die noblen Zigarren der Kekesfalvas total gleichgültig sind.


Um halb acht Uhr machen wir uns zusammen auf. Ferencz hat einen kleinen Bummel über den Korso vorgeschlagen. Aber kaum daß ich hinter den beiden Freunden aus dem Kaffeehaus trete, streift mich ein bekannter Blick im raschen Vorübergehen an. Ist das nicht Ilona gewesen? Natürlich – selbst wenn ich das weinrote Kleid und den breiten bebänderten Panamahut nicht gerade vorgestern bewundert hätte, würde ich sie von rückwärts erkannt haben an dem weichen, wiegenden Hüftgang. Aber wohin eilt sie denn so hitzig? Das ist doch kein Promenierschritt, sondern eher Sturmlauf – jedenfalls dem hübschen Vogel nach, so geschwind er auch flattern mag!


»Pardon«, empfehle ich mich etwas brüsk von meinen verblüfften Kameraden und eile dem schon über die Straße wehenden Rock nach. Denn wirklich, ich freue mich unbändig über den Zufall, die Kekesfalvanichte einmal in meiner Garnisonswelt zu erwischen.


»Ilona, Ilona, stopp, stopp!« rufe ich ihr nach, die merkwürdig rasch geht; schließlich bleibt sie doch stehen, ohne dann im geringsten überrascht zu tun. Natürlich hat sie mich bei dem Vorüberstreifen längst bemerkt.


»Das ist famos, Ilona, daß ich Sie einmal in der Stadt erwische. Das hab ich mir schon lang gewünscht, einmal mit Ihnen spazierenzugehen in unserer Residenz. Oder wollen wir lieber noch auf einen Sprung hinein in die wohlbekannte Konditorei?«


»Nein, nein«, murmelt sie etwas verlegen. »Ich habe Eile, man erwartet mich zu Hause.«


»Nun, dann wird man eben fünf Minuten länger warten. Im ärgsten Fall, nur damit man Sie nicht ins Winkerl stellt, gebe ich Ihnen sogar einen Entschuldigungsbrief mit. Kommen Sie und blicken Sie nicht so bitter streng.«


Am liebsten würde ich sie unter dem Arm fassen. Denn ich freue mich ehrlich, gerade ihr, der Repräsentablen von den beiden, in meiner andern Welt zu begegnen, und wenn die andern, die Kameraden, mich mit ihr, der Bildhübschen, ertappen, um so besser! Aber Ilona bleibt nervös.


»Nein, ich muß wirklich nach Hause«, sagt sie hastig, »dort drüben wartet schon das Auto.« Und in der Tat, vom Rathausplatz her grüßt bereits respektvoll der Chauffeur.


»Aber wenigstens zum Auto darf ich Sie doch begleiten?«


»Natürlich«, murmelte sie merkwürdig fahrig. »Natürlich … übrigens … warum sind Sie denn heute nachmittag nicht gekommen?«


»Heute nachmittag?« frage ich mit Absicht langsam, als ob ich mich erinnern müsse. »Heute nachmittag? Ach ja, das war eine dumme Geschichte heute nachmittag. Der Oberst wollte sich ein neues Pferd kaufen und da mußten wir alle mitgehen, es anschauen und zureiten.« (In Wirklichkeit hatte sich das schon vor einem Monat abgespielt. Ich lüge wirklich schlecht.)


Sie zögerte und will etwas erwidern. Aber warum zerrt sie am Handschuh, warum wippt sie so nervös mit dem Fuß? Dann sagt sie plötzlich hastig: »Wollen Sie nicht wenigstens jetzt mit mir hinaus zum Abendessen?«


Durchhalten, sage ich mir innerlich rasch. Nicht nachgeben! Wenigstens einmal einen einzigen Tag! So seufze ich bedauernd. »Wie schade, ich käme ja furchtbar gerne. Aber der heutige Tag ist schon ganz verknackst, wir haben abends eine gesellige Veranstaltung, und da darf ich nicht fehlen.«


Sie sah mich scharf an – merkwürdig, daß sich jetzt dieselbe ungeduldige Falte zwischen ihren Brauen spannt wie bei Edith – und sagt kein Wort, ich weiß nicht, ob aus bewußter Unhöflichkeit oder Geniertheit. Der Chauffeur öffnet ihr die Tür, sie schlägt sie krachend zu und fragt durch die Scheibe: »Aber morgen kommen Sie?«


»Ja, morgen bestimmt.« Und schon fährt das Auto los.


Ich bin nicht sehr zufrieden mit mir. Warum diese merkwürdige Eile Ilonas, diese Geniertheit, als fürchte sie sich, mit mir gesehen zu werden, und wozu dieses hitzige Losfahren? Und dann: wenigstens einen Gruß hätte ich höflicherweise mitschicken sollen an den Vater, irgendein nettes Wort an Edith, sie haben mir doch nichts getan! Aber anderseits bin ich auch zufrieden mit meiner reservierten Haltung. Ich habe standgehalten. Jetzt können sie wenigstens von mir nicht denken, daß ich mich ihnen aufdrängen will.


Obwohl ich Ilona zugesagt hatte, am nächsten Nachmittag zur gewohnten Stunde zu kommen, melde ich vorsichtigerweise meinen Besuch noch vorher telephonisch an. Besser strenge Formen einhalten, Formen sind Sicherungen. Ich will damit klarmachen, daß ich niemandem unerwünscht ins Haus falle, ich will von nun ab jedesmal anfragen, ob mein Besuch erwartet und gern erwartet ist. Das allerdings brauche ich diesmal nicht zu bezweifeln, denn der Diener wartet bereits vor der geöffneten Tür, und gleich beim Eintreten vertraut er mir mit dringlicher Beflissenheit an: »Das gnädige Fräulein sind auf der Turmterrasse und lassen Herrn Leutnant bitten, gleich hinaufzukommen.« Und er fügt hinzu: »Ich glaube, Herr Leutnant sind noch niemals oben gewesen. Herr Leutnant werden staunen, wie schön es dort ist.«


Er hat recht, der wackere alte Josef. Ich hatte wirklich noch nie jene Turmterrasse betreten, wiewohl dies merkwürdige und abstruse Gebäude mich oftmals interessiert hatte. Ursprünglich – ich sagte es bereits früher – der Eckturm eines längst zerfallenen oder abgerissenen Schlosses (selbst die Mädchen kannten die Vorgeschichte nicht genau), hatte dieser wuchtige vierkantige Turm durch Jahre hindurch leer gestanden und als Speicher gedient; während ihrer Kindheit war Edith zum Schrecken ihrer Eltern oftmals auf den ziemlich defekten Leitern emporgeklettert bis in den Dachraum, wo zwischen altem Gerümpel Fledermäuse schlaftrunken schwirrten und bei jedem Schritt über die alten vermorschten Balken Staub und Moder in dicker Wolke aufquoll. Aber das phantastisch veranlagte Kind hatte dieses unnütze Gemach, das von den verschmutzten Fenstern unbeschränkten Blick in die Ferne gab, gerade wegen seiner geheimnisvoll nutzlosen Art sich als eigenste Spielwelt und Versteck gewählt; und als dann das Unglück kam und sie nicht mehr hoffen durfte, jemals wieder mit ihren damals noch völlig unbeweglichen Beinen jene hochgelegenen romantischen Rumpelkammern zu erklimmen, fühlte sie sich wie beraubt; oft beobachtete der Vater, wie sie mit bitterem Blick hinaufsah zu diesem geliebten und plötzlich verlorenen Paradies ihrer Kinderjahre.


Um sie zu überraschen, nützte nun Kekesfalva die drei Monate, die Edith in einem deutschen Sanatorium verbrachte, um einen Wiener Architekten zu beauftragen, den alten Turm umzubauen und oben eine bequeme Aussichtsterrasse anzulegen; als Edith im Herbst nach kaum merkbarer Besserung ihres Zustandes zurückgebracht wurde, war der aufgestockte Turm bereits mit einem Lift versehen, breit wie der eines Sanatoriums, und der Kranken damit Gelegenheit gegeben, zu jeder Stunde im Rollstuhl zu dem geliebten Ausblick hinaufzufahren; die Welt ihrer Kindheit war ihr damit unvermutet zurückgewonnen.


Auf Stilreinheit war freilich der etwas eilige Architekt weniger bedacht gewesen als auf technische Bequemlichkeit; der nackte Kubus, welchen er dem schroffen, vierkantigen Turm aufgestülpt hatte, hätte mit seinen geometrisch geraden Formen viel eher in ein Hafendock oder zu einem Elektrizitätswerk als zu den behaglichen schnörkeligen Barockformen des wohl auf die Maria-Theresianische Zeit zurückreichenden Schlößchens gepaßt. Aber der wesentliche Wunsch des Vaters erwies sich als geglückt; Edith zeigte sich völlig begeistert von dieser Terrasse, die sie in unverhoffter Weise von der Enge und Einförmigkeit ihrer Krankenstube erlöste. Von diesem ihrem eigensten Aussichtsturm aus konnte sie mit Ferngläsern die weite tellerflache Landschaft überschauen, alles was im Umkreis geschah, Saat und Mahd, Geschäft und Geselligkeit. Nach endloser Abgeschiedenheit wieder mit der Welt verbunden, blickte sie stundenlang von dieser Warte auf das muntere Spielzeug der Eisenbahn, die mit ihrem kleinen Rauchkringel die Landschaft durchquerte, kein Wagen auf der Chaussee entging ihrer müßigen Neugier, und wie ich später erfuhr, hatte sie auch viele unserer Ausritte, Übungen und Paraden mit ihrem Teleskop begleitet. Aus einer merkwürdigen Eifersucht heraus hielt sie aber diesen ihren abseitigen Ausflugsplatz vor allen Hausgästen als ihre Privatwelt verborgen; erst an der impulsiven Begeisterung des treuen Josef merkte ich, daß die Einladung, diese sonst unzugängliche Warte zu betreten, als eine besondere Auszeichnung gewertet werden sollte.


Der Diener wollte mich mit dem eingebauten Lift hinaufführen; man sah ihm den Stolz an, daß dieses kostspielige Vehikel ihm zu alleiniger Führung anvertraut war. Aber ich lehnte ab, sobald er mir berichtete, daß außerdem noch eine kleine, von seitlichen Loggiendurchbrüchen in jedem Stockwerk erhellte Wendeltreppe zur Dachterrasse emporführe; ich malte mir gleich aus, wie anziehend es sein müßte, von Treppenabsatz zu Treppenabsatz die Landschaft sich immer weiter ins Ferne auffalten zu sehen; tatsächlich bot jede dieser schmalen unverglasten Luken ein neues bezauberndes Bild. Über dem sommerlichen Lande lag wie ein goldenes Gespinst ein windstiller, durchsichtig heißer Tag. In fast reglosen Ringen schnörkelte sich der Rauch über den Schornsteinen der verstreuten Häuser und Höfe, man sah – jede Kontur wie mit einem scharfen Messer aus dem stahlblauen Himmel geschnitten – die strohgedeckten Hütten mit ihrem unvermeidlichen Storchennest auf dem Giebel, und die Ententeiche vor den Scheunen blitzten wie geschliffenes Metall. Dazwischen in den wachsfarbenen Feldern liliputanisch winzige Figuren, weidende Kühe in gesprenkelten Farben, jätende und waschende Frauen, ochsengezogene schwere Gespanne und behend hinflitzende Wägelchen inmitten der sorgfältig rastrierten Felderkarrees. Als ich die etwa neunzig Stufen emporgestiegen war, umfaßte der Blick gesättigt die ganze Runde des ungarischen Flachlands bis an den leicht dunstigen Horizont, wo in der Ferne ein erhobener Streifen blaute, vielleicht die Karpathen, und zur Linken leuchtete zierlich zusammengedrängt unser Städtchen mit seinem zwiebligen Turm. Freien Auges erkannte ich unsere Kaserne, das Rathaus, das Schulhaus, den Exerzierplatz, zum erstenmal seit meiner Transferierung in diese Garnison empfand ich die anspruchslose Anmut dieser abseitigen Welt.


Aber mich gelassen dieser freundlichen Schau hinzugeben, ging nicht an, denn, bereits an die flache Terrasse emporgelangt, mußte ich mich bereitmachen, die Kranke zu begrüßen. Zunächst entdeckte ich Edith überhaupt nicht; der weiche Strohfauteuil, in dem sie ruhte, wandte mir seine breite Rücklehne zu, die wie eine bunte wölbige Muschel ihren schmalen Körper völlig verdeckte. Nur an dem danebenstehenden Tisch mit Büchern und dem offenen Grammophon gewahrte ich ihre Gegenwart. Ich zögerte, zu unvermittelt gegen sie vorzutreten; das konnte die Ruhende oder Träumende vielleicht erschrecken. So wanderte ich das Viereck der Terrasse entlang, um ihr lieber Auge in Auge entgegenzukommen. Aber da ich behutsam nach vorne schleiche, merke ich, daß sie schläft. Man hat den schmalen Körper sorgfältig eingebettet, eine weiche Decke um die Füße geschlagen, und auf einem weißen Kissen ruht, ein wenig zur Seite geneigt, das ovale, von rötlichblondem Haar umrahmte Kindergesicht, dem die schon sinkende Sonne einen bernsteingoldenen Schein von Gesundheit leiht.


Unwillkürlich bleibe ich stehen und nutze dies zögernde Warten, um die Schlafende wie ein Bild zu betrachten. Denn eigentlich habe ich bei unserem oftmaligen Beisammensein noch nie wirklich Gelegenheit gehabt, sie geradewegs anzuschauen, denn wie alle Empfindlichen und Überempfindlichen leistet sie einen unbewußten Widerstand, sich betrachten zu lassen. Auch wenn man sie nur zufällig im Gespräch anblickt, spannt sich sofort die kleine ärgerliche Falte zwischen den Brauen, die Augen werden fahrig, die Lippen nervös, nicht einen Augenblick gibt sich unbewegt ihr Profil. Nun erst, da sie mit geschlossenen Augen liegt, widerstandlos und reglos, kann ich (und ich habe das Gefühl eines Ungehörigen, eines Diebstahls dabei) das ein wenig eckige und gleichsam noch unfertige Antlitz betrachten, in dem sich Kindliches mit Fraulichem und Kränklichem auf die anziehendste Weise mischt. Die Lippen, leicht wie die eines Dürstenden aufgetan, atmen sacht, aber schon diese winzige Anstrengung hügelt und hebt ihre kindlich karge Brust, und wie erschöpft davon, wie ausgeblutet lehnt das blasse Gesicht, eingebettet in das rötliche Haar, in den Kissen. Ich trete vorsichtig näher. Die Schatten unter den Augen, die blauen Adern an den Schläfen, der rosige Durchschein der Nasenflügel verraten, mit wie dünner und farbloser Hülle die alabasterblasse Haut dem äußeren Andrang wehrt. Wie empfindlich muß man sein, denke ich mir, wenn so nah, so unbeschirmt die Nerven unter der Oberfläche pochen, wie unermeßlich leiden mit solch einem flaumleichten elfischen Leibe, der wie zum leichten Lauf geschaffen scheint, zu Tanz und Schweben, und dabei grausam der harten schweren Erde verkettet bleibt! Armes gefesseltes Geschöpf – abermals fühle ich das heiße Quellen von innen, jenen schmerzhaft erschöpfenden und gleichzeitig wild erregenden Aufschwall des Mitleids, der mich jedesmal übermannt, wenn ich an ihr Unglück denke; mir zittert die Hand vor Verlangen, ihr zart über den Arm zu streichen, mich hinzubeugen über sie und das Lächeln gleichsam wegzupflücken von ihren Lippen, falls sie aufwacht und mich erkennt. Ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, das sich bei mir dem Mitleid jedesmal beimengt, wenn ich an sie denke oder sie betrachte, drängt mich näher heran. Aber nicht diesen Schlaf stören, der sie weghält von sich selbst, von ihrer körperlichen Wirklichkeit! Gerade dies ist ja so wunderbar, Kranken während ihres Schlafes innig nahe zu sein, wenn alle Angstgedanken in ihnen gefangen sind, wenn sie so restlos ihr Gebrest vergessen, daß sich manchmal auf ihre halboffenen Lippen ein Lächeln niederläßt wie ein Schmetterling auf ein schwankes Blatt, ein fremdes, gar nicht ihnen selbst gehöriges Lächeln, das auch sofort wegschrickt beim ersten Erwachen. Welches Glück von Gott, denke ich mir, daß die Verkrüppelten, die Verstümmelten, die vom Schicksal Beraubten wenigstens im Schlaf nicht um Form oder Unform ihres Leibes wissen, daß der milde Betrüger Traum wenigstens dort ihnen ihre Gestalt in Schönheit und Ebenmaß vortäuscht, daß der Leidende zumindest in dieser einen, dunkel umrandeten Welt des Schlummers dem Fluch zu entfliehen vermag, in den er leiblich verkettet ist. Das Ergreifendste aber für mich sind die Hände, die über der Decke verkreuzt liegen, matt durchäderte, langgestreckte Hände mit zerbrechlich schmalen Gelenken und spitz zugeformten, etwas bläulichen Nägeln – zarte, ausgeblutete, machtlose Hände, gerade vielleicht noch stark genug, kleine Tiere zu streicheln, Tauben und Kaninchen, aber zu schwach, etwas festzuhalten, etwas zu fassen. Wie kann man, denke ich mir erschüttert, mit solch ohnmächtigen Händen sich gegen wirkliches Leiden wehren? Wie irgend etwas erkämpfen und fassen und halten? Und es widert mich fast, wenn ich an meine eigenen Hände denke, diese festen, schweren, muskulösen, starken Hände, die mit einem Zügelriß das unbotmäßigste Pferd bändigen können. Gegen meinen Willen muß mein Blick nun auch auf die Decke hinabstarren, die zottig und schwer, viel zu schwer für dies vogelleichte Wesen, auf ihren spitzen Knien lastet. Unter dieser undurchsichtigen Hülle liegen tot – ich weiß nicht, ob zerschmettert, gelähmt oder bloß geschwächt, ich habe nie den Mut gehabt, zu fragen – die ohnmächtigen Beine in jene stählerne oder lederne Maschinerie gespannt. Bei jeder Bewegung, erinnere ich mich, hängt sich schwer wie Kettenkugeln diese grausame Apparatur an die versagenden Gelenke, unablässig hat sie dies Widrige klirrend und knirschend mit sich zu schleppen, sie, die Zarte, die Schwächliche, gerade sie, von der man fühlt, daß ihr Schweben und Laufen und Sichaufschwingen natürlicher wäre als Gehen!


Unwillkürlich schauere ich zusammen bei dem Gedanken, und so stark rinnt und rieselt der Riß bis zu den Sohlen, daß die Sporen klingelnd aufzittern. Es kann nur ein ganz minimales, ein kaum hörbares Geräusch gewesen sein, dies silberne Klirren und Klingeln, aber es scheint ihren dünnen Schlaf durchdrungen zu haben. Noch öffnet die beunruhigt Aufatmende nicht die Lider, aber die Hände beginnen bereits aufzuwachen: lose falten sie sich auseinander, dehnen sich, spannen sich; als ob die Finger im Aufwachen gähnten. Dann blinzeln versucherisch die Lider, und befremdet tasten die Augen um sich.


Plötzlich entdeckt mich ihr Blick und wird sofort starr; noch hat der Kontakt vom bloß optischen Schauen nicht hinübergezündet zum gewußten Denken und Erinnern. Aber dann ein Ruck, und sie ist völlig erwacht, sie hat mich erkannt; mit purpurnem Guß stürzt ihr das Blut in die Wangen, vom Herzen mit einem Stoß hochgepumpt. Wieder ist es, als schüttete man in ein kristallenes Glas plötzlich roten Wein.


»Wie dumm«, sagt sie mit scharf zusammengezogenen Brauen und rafft mit einem nervösen Griff die abgesunkene Decke näher an sich, als hätte ich sie nackt überrascht. »Wie dumm von mir! Ich muß einen Augenblick eingeschlafen sein.« Und schon beginnen – ich kenne das Wetterzeichen – die Nasenflügel leise zu zucken. Herausfordernd sieht sie mich an.


»Warum haben Sie mich nicht sofort aufgeweckt? Man beobachtet einen nicht im Schlaf! Das gehört sich nicht. Jeder Mensch sieht lächerlich aus, wenn er schläft.«


Peinlich berührt, sie mit meiner Rücksicht verärgert zu haben, versuche ich, mich in einen dummen Scherz hinüberzuretten. »Besser lächerlich, während man schläft«, sage ich, »als lächerlich, wenn man wach ist.«


Aber schon hat sie sich mit beiden Armen höher die Lehne emporgestemmt, die Falte zwischen den Brauen schneidet tiefer, jetzt beginnt auch um die Lippen das wetterleuchtende Flattern und Flackern. Scharf springt ihr Blick mich an.


»Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«


Der Stoß ist zu unerwartet losgefahren, als daß ich gleich antworten könnte. Aber schon wiederholt sie inquisitorisch:


»Nun, Sie werden doch eine besondere Ursache gehabt haben, uns einfach sitzen und warten zu lassen. Sonst hätten Sie wenigstens abtelephoniert.«


Dummkopf, der ich bin! Gerade diese Frage hätte ich doch voraussehen und im voraus mir eine Antwort zurechtlegen sollen! Statt dessen trete ich verlegen von einem Fuß auf den andern und kaue an der altbackenen Ausrede herum, wir hätten plötzlich Remonteninspektion bekommen. Noch um fünf Uhr hätte ich gehofft, wegpaschen zu können, aber der Oberst hätte uns allen dann noch ein neues Pferd vorführen wollen, und so weiter und so weiter.


Ihr Blick, grau, streng und scharf, weicht nicht von mir. Je umständlicher ich schwätze, um so argwöhnischer spitzt er sich zu. Ich sehe, wie die Finger an der Lehne auf und nieder zucken.


»So«, antwortet sie schließlich ganz kalt und hart. »Und wie endet diese rührende Geschichte von der Remonteninspektion? Hat es der Herr Oberst schließlich gekauft, das funkelnagelneue Pferd?«


Ich spüre bereits, daß ich mich gefährlich verrannt habe. Ein-, zwei-, dreimal schlägt sie mit ihrem losen Handschuh auf den Tisch, als wollte sie eine Unruhe in den Gelenken loswerden. Dann blickt sie drohend auf.


»Schluß jetzt mit dieser dummen Lügerei! Kein einziges Wort von all dem ist wahr. Wie können Sie wagen, mir solchen Unsinn aufzutischen?«


Heftig und heftiger klatscht der lose Handschuh gegen die Tischplatte. Dann schleudert sie ihn entschlossen im Bogen weg.


»Kein Wort ist wahr von Ihrer ganzen Faselei! Kein Wort! Sie sind nicht in der Reitschule gewesen, Sie haben keine Remonteninspektion gehabt. Schon um halb fünf sind Sie im Kaffeehaus gesessen, und dort reitet man meines Wissens keine Pferde zu. Machen Sie mir nichts vor! Unser Chauffeur hat Sie ganz zufällig noch um sechs beim Kartenspiel gesehen.«


Mir stockt noch immer das Wort. Aber sie unterbricht sich brüsk:


»Übrigens, wozu brauch ich mich vor Ihnen zu genieren? Soll ich, weil Sie die Unwahrheit sagen, vor Ihnen Verstecken spielen? Ich fürchte mich ja nicht, die Wahrheit zu sagen. Also, damit Sie es wissen – nein, nicht durch Zufall hat Sie unser Chauffeur im Kaffeehaus gesehen. Sondern ich hab ihn eigens hineingeschickt, um nachzufragen, was mit Ihnen los ist. Ich dachte, Sie seien am Ende krank oder es sei Ihnen was zugestoßen, weil Sie nicht einmal telephoniert haben, und … nun, bilden Sie sich meinetwegen ein, daß ich nervös bin … ich vertrag es eben nicht, daß man mich warten läßt … ich vertrag’s einfach nicht … so hab ich den Chauffeur hineingeschickt. Aber in der Kaserne hat er gehört, Herr Leutnant tarockierten wohlbehalten im Kaffeehaus, und da hab ich dann noch Ilona gebeten, sich zu erkundigen, warum Sie uns derart brüskieren … ob ich Sie vielleicht vorgestern mit etwas beleidigt habe … ich bin ja manchmal wirklich unverantwortlich in meiner blöden Hemmungslosigkeit … So – damit Sie’s sehen – ich schäme mich nicht, Ihnen das alles einzugestehen … Und Sie kramen solche einfältigen Ausreden aus – spüren Sie nicht selbst, wie schäbig das ist, unter Freunden so miserabel zu lügen?«


Ich wollte antworten – ich glaube, ich hatte sogar den Mut, ihr die ganze dumme Geschichte von Ferencz und Jozsi zu erzählen. Aber ungestüm befiehlt sie:


»Keine neuen Erfindungen jetzt … nur keine neuen Unwahrheiten, ich ertrag keine mehr! Mit Lügen bin ich überfüttert bis zum Erbrechen. Von früh bis abends löffelt man sie mir ein: ›Wie gut du heute aussiehst, wie famos du heute marschierst … großartig, es geht schon viel, viel besser‹ – immer dieselben Beruhigungspillen von früh bis abends, und keiner merkt, daß ich daran ersticke. Warum sagen Sie nicht kerzengrad: Ich habe gestern keine Zeit, keine Lust gehabt. Wir haben doch kein Abonnement auf Sie und nichts hätt mich mehr gefreut, als wenn Sie mir durchs Telephon hätten sagen lassen: ›Ich komm heut nicht hinaus, wir bummeln lieber in der Stadt lustig herum.‹ Halten Sie mich für so albern, daß ich’s nicht verstehen sollte, wie Ihnen das manchmal über sein muß, hier tagtäglich den barmherzigen Samariter zu spielen, und daß ein erwachsener Mann lieber herumreitet oder seine gesunden Beine spazierenführt, statt an einem fremden Lehnstuhl herumzuhocken? Nur eins ist mir widerlich und eins ertrag ich nicht: Ausreden und Schwindel und Lügereien – damit bin ich eingedeckt bis an den Hals. Ich bin nicht so dumm, wie ihr alle meint, und kann schon einen guten Brocken Aufrichtigkeit vertragen. Sehen Sie, vor ein paar Tagen kriegten wir eine neue böhmische Aufwaschfrau ins Haus, die alte war gestorben, und am ersten Tag – sie hatte noch mit niemandem gesprochen – merkt sie, wie man mir mit meinen Krücken hinüberhilft in den Fauteuil. Im Schreck läßt sie die Schrubbürste fallen und schreit laut: ›Jeschusch, so ein Unglück, so ein Unglück! Ein so reiches, so vornehmes Fräulein … und ein Krüppel!‹ Wie eine Wilde ist Ilona auf die ehrliche Person losgefahren; gleich wollten sie die Arme entlassen und wegjagen. Aber mich, mich hat das gefreut, mir hat ihr Schrecken wohlgetan, weil es eben ehrlich, weil es menschlich ist, zu erschrecken, wenn man unvorbereitet so was sieht. Ich hab ihr auch sofort zehn Kronen geschenkt, und gleich ist sie in die Kirche gelaufen, um für mich zu beten … Den ganzen Tag hat’s mich noch gefreut, ja, faktisch gefreut, endlich einmal zu wissen, was ein fremder Mensch wirklich empfindet, wenn er mich zum erstenmal sieht … Aber ihr, ihr meint immer, mit eurer falschen Feinheit mich ›schonen‹ zu müssen, und bildet euch ein, daß ihr mir am End’ noch wohltut mit eurer verfluchten Rücksicht … Aber meint ihr, ich hab keine Augen im Kopf? Meint ihr, ich spür nicht hinter eurem Geschwätz und Gestammel das gleiche Grausen und Unbehagen heraus wie bei jener braven, jener einzig ehrlichen Person? Glaubt ihr, ich merk’s nicht, wie es euch mitten in den Atem fährt, wenn ich die Krücken anfaß, und wie ihr hastig Konversation forciert, nur daß ich nichts merke – als ob ich euch nicht durch und durch kennte mit eurem Baldrian und Zucker, Zucker und Baldrian, diesem ganzen ekelhaften Geschleim … Oh, ich weiß haargenau, daß ihr jedesmal aufatmet, wenn ihr die Tür wieder hinter euch habt und mich liegen laßt wie einen Kadaver … genau weiß ich’s, wie ihr dann augenverdreherisch seufzt ›Das arme Kind‹, und gleichzeitig doch höchst zufrieden seid mit euch selbst, da ihr so schonungsvoll eine Stunde, zwei Stunden dem ›armen kranken Kind‹ geopfert habt. Aber ich will keine Opfer! Ich will nicht, daß ihr euch verpflichtet glaubt, mir die tägliche Portion Mitleid zu servieren – ich pfeif auf allergnädigstes Mitgefühl – ein für allemal – ich verzichte auf Mitleid! Wenn Sie kommen wollen, dann kommen Sie, und wenn Sie nicht wollen, dann eben nicht! Aber ehrlich dann und keine Geschichten von Remonten und Pferdeausprobiererei! Ich kann … ich kann die Lügerei und euer ekelhaftes Geschone nicht mehr ertragen!«


Ganz unbeherrscht hat sie die letzten Worte herausgestoßen, brennend die Augen, fahl das Gesicht. Dann löst sich mit einemmal der Krampf. Wie erschöpft fällt der Kopf an die Lehne, und erst allmählich füllt wieder Blut die von der Erregung noch zitternden Lippen.


»So«, atmet sie ganz leise und wie beschämt. »Das mußte einmal gesagt sein! Und jetzt erledigt! Reden wir nicht weiter davon. Geben Sie mir … geben Sie mir eine Zigarette.«


Nun geschieht mir etwas Sonderbares. Ich bin doch sonst leidlich beherrscht und habe feste, sichere Hände. Aber dieser unvermutete Ausbruch hat mich derart erschüttert, daß ich alle Glieder wie gelähmt fühle; nie hat mich irgend etwas in meinem Leben so bestürzt gemacht. Mühsam hole ich eine Zigarette aus der Dose, reiche sie hinüber und zünde ein Streichholz an. Aber beim Hinüberreichen zittern mir die Finger dermaßen, daß ich das brennende Zündhölzchen nicht gerade zu halten vermag und die Flamme im Leeren zuckt und verlischt. Ich muß ein zweites Streichholz anzünden; auch dieses schwankt unsicher in meiner zitternden Hand, ehe es ihre Zigarette entflammt. Sie aber muß unverkennbar an der augenfälligen Ungeschicklichkeit meine Erschütterung wahrgenommen haben, denn es ist eine ganz andere, eine staunend beunruhigte Stimme, mit der sie mich leise fragt:


»Aber was haben Sie denn? Sie zittern ja … Was … was erregt Sie denn so? … Was geht Sie denn das alles an?«


Die kleine Flamme des Streichhölzchens ist erloschen. Ich habe mich stumm gesetzt, und sie murmelt ganz betroffen: »Wie können Sie sich denn so aufregen über mein dummes Geschwätz? … Papa hat recht: Sie sind wirklich ein … ein sehr merkwürdiger Mensch.«


In diesem Augenblick flirrt hinter uns ein leises Surren. Es ist der Lift, der zu unserer Terrasse herauffährt. Johann öffnet den Verschlag, und heraus tritt Kekesfalva mit jener schuldbewußten, scheuen Art, die ihm unsinnigerweise immer die Schultern niederdrückt, sobald er sich der Kranken nähert.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.