An Emil Ludwig


Rüschlikon bei Zürich, Hotel Belvoir


Lieber Herr Ludwig,


28. IV. 1918


alle Freunde brachten mir Botschaft vom Regen im Tessin – so schob ich die beabsichtigte Reise auf. Nächste Woche gehe ich zu Freunden auf ein Gut in die Nähe Luzerns und, kann ich dann noch in der Schweiz bleiben, so komme ich gerne einmal hinüber, so schlecht die Verbindungen jetzt auch sind. Ich schätze neuerdings Ihre künstlerische Lebenskunst wieder: daß Sie Zürich und Bern, diese Schlangennester der Intrige, wo Propaganda, Revolutionsgelüste und Spionage sich schwisterlich verstricken, so sorgfältig meiden, zeigt klare Erkenntnis der Zeit. Ich selbst habe mich hierher gerettet, ganz abseits hin, fahre einmal in der Woche nach Zürich, nur Bücher zu holen, sonst lebe ich abgeschlossen und fühle mich erst frei, seit ich nicht mehr die Leute hier sehe, die, selbst verwirrt, in allen andern Verwirrung schaffen wollen.


In Wien liest dieser Tage Wüllner Ihre »Atalanta«. Schade, daß Sie, schade, daß ich es nicht höre! Aber freuen wir uns unseres Friedens! Viele Grüße Ihrer verehrten Frau und Ihnen von Ihrem getreu ergebenen


Stefan Zweig


Sollten Sie einmal nach Z. kommen, so wohnen Sie doch bei mir, 15 Minuten Bahn oder Schiff von der Stadt und ganz abseits von den Leuten!


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An Emil Ludwig


Montreux, Hotel Breuer


21. /IX 1918


Lieber Freund, Ihr Brief, den Ihr Aufsatz in der N.N.Z. ergänzte, war mir sehr interessant. Aber wie gesagt, es ist Schicksal in diesem Zuspätkommen aller Ratschläge, so wie Schicksal in Grouchy’s Verspätung von Waterloo war: für alle Generationen müßte erwiesen sein, was seit Napoleon eine Welt wieder vergessen, daß Hybris jedem Erfolge der Macht entwächst und ihren Schöpfer, die Macht, tötet. Die letzten Jahre Napoleons, die letzten Monate Ludendorffs sind das gleiche: Königsmacherei von Verwandten, Aufteilung von Ländern mit dem Lineal, Zertretung der öffentlichen Meinung, Verachtung der Psychologie aus Machtrausch. Das war es, was Napoleon, was Deutschland brach, diese Gleichgiltigkeit gegen jede Meinung im Erfolg, und wenn Sie den Vergleich ziehen, fällt er noch zu Napoleons Gunsten, denn sein Erfolg war gehärteter schon als der Ludendorffs, der in seinen besten Stunden noch immer Hoffnung war.


Was jetzt kommt, wird entsetzlich sein. In Deutschland kommt die Democratisierung zu spät: man stellt jetzt eilig die Socialisten vor die Kronen, was diese gehorsamst tun werden (oh, warum jappen die Menschen alle so nach Macht, nach fugitiver, freudloser Macht!?), und prompt werden alle Bedingungen erfüllt, die – gestern noch galten. Heute sind meinem Empfinden nach die Hohenzollern nicht zu retten mehr, nie werden die übermütig gewordenen Republikaner mit W[ilhelm] oder F[riedrich Wilhelm] verhandeln – aber man wird sie erst abtun, wenn die Entente schon die Faust um den Hals hält. Denn daß jetzt der Anfang vom Ende da ist, darüber gibt es für mich keinen Zweifel: die Erfolge sind überall zu einhellig, und in Deutschland hat man die Kraft so oft auf Siegfrieden gepeitscht, daß für den Verteidigungskampf kein neuer Elan mehr möglich ist. Immer hatten die Alldeutschen gerufen: der Wolf! der Wolf! Jetzt ist der Wolf wirklich da, nur man glaubt es drüben nicht mehr. Jetzt geht es auf Vernichtung, Beugung, Zerschmetterung. Und für mein Empfinden müßte man dem am ehesten jetzt ein Opfer hinwerfen, der am wenigsten von Volk und Land will: Amerika. Das begehrt Sturz des Königtums, Anerkennung der Schuld, Rückstellung Belgiens – habeat! Aber Sie werden sehen, daß die Hohenzollern lieber Elsaß und 6 Rheinprovinzen opfern werden wollen als ihren Thron. Und dazu hat Deutschland noch nicht die Entschlossenheit. Paris hat zwei Tage nach Sedan die Bonapartes expediert: Deutschland konnte in vier Jahren nicht das preußische Wahlrecht erzwingen, es wird keine Energie aufbringen als die der Verzweiflung. Ach, und das ist Alles schon geschrieben, göttlich prophetisch in des verlachten und verachteten Heinrich Heines Prosaschriften: sie zu lesen ist heute magisch. Wie hat er dies Volk gekannt und die andern und wie sie alle geliebt, dieser prachtvolle jüdische Europäer, trotz allem und allem unser Vater und Vorbild im Geiste! Warum haben wir ihn mißachtet, den »Journalisten«, warum ihn nicht genug gläubig gelesen? Er wußte uns mehr zu sagen als all die Wissenden von heute.


Lieber Freund, bereiten wir uns innerlich auf harte Zeit. Jetzt kommt der letzte Akt der Tragödie. Ich habe in meinem »Jeremias« das alles vor drei Jahren geschrieben und weiß es seit fünf Jahren, und doch, weiß ich, wird es an mir rütteln. Niemand kann jetzt helfen als das Volk! Als Zorn oder Wut, irgendein Elan. Die Vernunft ist tot. Graben wir uns ein in Arbeit, bis sie erwacht oder bis wir im Lebendigen wirken können. Ich bin Ihnen untreu geworden mit Locarno. Ich hatte doch Angst vor den vielen Literaten (ich kenne zuviel von früher!). Und hier in Montreux ist es herrlich, ich bin allein in meinem hohen Zimmer über dem See, habe manchmal ernste und ergriffene Gespräche mit Rolland und denke schon mit Grauen wieder nach Zürich zurückzukehren. Wann sehen wir uns? Bleiben Sie wirklich festgemauert in M.? Es ist vielleicht das Klügste! Herzlichst


Ihr Stefan Zweig


Mein neues Stück wird noch nächsten Monat in Hamburg oder Dresden uraufgeführt.


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An Emil Ludwig


Salzburg, Kapuzinerberg 5


10. Mai 1925


Lieber Emil Ludwig, vielen Dank für Ihren Brief. Aber Sie sollten die Schuld an jenem Mißverständnis nicht ganz auf sich nehmen: ich war damals, aus dem Instinct, Sie gegen sich zu verteidigen, vielleicht zu weit gegangen. Aber ist das nicht unsere eigenste Pflicht, uns zum Wesentlichen bestärken? Wir sind aus einer Generation, wir sind über vierzig Jahre: da heißt es, sich nicht verzetteln, Alles in sich zum Entscheidenden zusammenfassen.


Und wie recht haben Sie: Wir sind so Wenige. Manchmal bedrückt mich das Gefühl, wir encyclopädische, die Bildung leidenschaftlich erweiternde Menschen seien schon etwas Fossiles in unserer hastig sich vereinzelnden Welt. Wie wenige wissen um die Werte, wie wenige von denen, die sie noch ahnen, haben noch dann die Leidenschaft!


Denken Sie: gestern kam hier unvermutet Georg Brandes für zehn Tage Stille an. Mir war es ganz gespenstig zu Mute, mir von ihm über Turgenjew, Flaubert, Sainte Beuve erzählen zu lassen: der Mann umspannt ein geistiges Jahrhundert mit seinem Leben! Ich möchte diese Stunden mit ihm nicht hergeben!


Mein neues Buch sende ich Ihnen heute zu, möge es Sie erfreuen! Und bitte beauftragen Sie Ihren Verleger, mir Ihre 20 männlichen Bildnisse zu schicken, ich kenne viel daraus und hätte es gerne als gegenwärtigen Besitz in meiner Abgeschiedenheit, die Sie hoffentlich einmal zu gutem Beisammensein aufmuntern wollen. Jetzt fahre ich nach Leipzig zum Händel-Fest: meine Fahrten gelten fast nur mehr Landschaften und Musik.


Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus


Ihr Stefan Zweig


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An Emil Ludwig


Salzburg, Kapuzinerberg 5


2. Mai 1928


Lieber Emil Ludwig!


Ich bin nicht so höflich wie Sie und schreibe nicht mit eigener Hand, was Sie mir verzeihen mögen!


Ich habe mich sehr gefreut, mein Buch in Ihre Hand legen zu können, und füge übrigens noch ein zweites kleines bei, das ich Ihnen in Berlin damals noch in die Tasche stecken wollte.


Von Ihren ungeheuren Erfolgen in Amerika habe ich mit Freude gehört. Sie wissen genauso wie ich selbst, daß Sie diesen Erfolg mit einem Widerstand daheim zu bezahlen haben werden, ja, daß man Ihnen die Verantwortlichkeit für die widerliche Flut der Biographies romancées zuzuschreiben beginnt. Sie haben zwar zur Zeit in der Welt die verdiente Aufnahme und Erfolg, aber ich habe eigens in einem Interview, das ich in Paris hatte, darauf hingewiesen, wie man Sie jetzt in Deutschland mit einer gewissen Ironie abtun wollte. Die Menschen verstehen nicht, daß Sie diesen Erfolg nicht gesucht haben, sondern er zu Ihnen gekommen ist. Biographien dieser Art zu verfassen, galt vor zehn Jahren als das absolut Aussichtsloseste, und ein Buch über Napoleon schien das Überflüssigste, es sei denn eines über Goethe. Lassen Sie sich deshalb nicht verwirren, so wenig als ich es tue, daß ich meine Reihe langsam und geduldig ausbaue. Nebenbei werde ich vielleicht ein kleines Lebensbild von Fouché veröffentlichen – Biographie eines Menschen, den ich nicht mag –, um ein Bildnis des reinen Politikers zu geben, der jeder Überzeugung dient, jeden Posten annimmt, in allen Sätteln sitzt und nie eine eigene Idee hat und die gewaltigsten Menschen seiner Zeit eben durch diese Flexibilität überdauert. Es soll ein Hinweis und eine Warnung für die Politiker von heute und allezeit sein und das Gefährliche in bildnerischer Form andeuten, das der »brauchbare«, der geriebene Politiker für alle Nationen und Europa bedeutet.


Ihr neues Buch war mir nicht neu – ich hatte es sorgsam und sehr teilnehmend schon in der »Neuen Rundschau« gelesen. Der Versuch, den Sie unternommen haben, ist gefährlich und darum sehr groß, und jeder, auch ich, wird ihn unwillkürlich mit einer innen schon vorliegenden Vision konfrontieren, denn hier dichten Sie eine Legende in Tatsache um und schreiten aus dem Historischen in’s Imaginäre hinüber, die geheimnisvollste Sphäre berührend, die es im Irdischen gibt: das Religiöse. Als Vorzug empfand ich dabei, als eminenten und gar nicht zu schätzenden, vor allem das Negative, daß es niemals das Vernunftgefühl des Ungläubigen wie das schon eingeschworene des Gläubigen verletzt, daß es nicht lyristisch und hymnisch wird, sondern eine Einfachheit des Lebensganges in vorbildlicher Weise wiedergibt. Freilich versagt das ungeheure Thema Ihnen dabei, in eben demselben Maße endgiltig zu sein wie im Napoleon. Es wird, wie Papini richtig voraussagte, diese Gestalt immer wieder gestaltet werden (begann es doch mit einer Vierzahl von Evangelisten, um mit einer Vielzahl zu enden oder vielmehr nicht zu enden). Aber innerhalb dieser Gestaltungen wird es als eines der gerechtesten und plastischsten meinem Gefühl nach dauerhaft bleiben. So wenig Rembrandt, Dürer vermochten, einen vollkommen einheitlichen und allgültigen Typus aufzufangen, kann dies dem beschreibenden Worte gegeben sein, aber in dieser ungeheueren Bilderreihe beharrt es als Bild und Gestalt.


Wenn ich selbst nicht öffentlich diesmal dazu Stellung nehme, so geschieht es nur, weil ich mich dem Gegenstand nicht bildungsmäßig gewachsen fühle, gerade jene Zeitgeschichte nur ungenau kenne.


Aber Sie wissen ja, daß sonst jeder Anlaß, mich mit Ihren Büchern zu beschäftigen, mir immer selbst produktiv wird. Nur wer selbst an Gestalten gearbeitet hat, weiß um die Widerstände, die überwunden werden müssen. Und gerade jetzt weiß ich es, denn gegen Tolstoi gerecht zu sein, war eine unheimliche Aufgabe.


Ich bin sehr neugierig auf das nächste Problem, das Sie gestalten wollen. Sollte es Sie nicht einmal reizen können, ein Werk der großen sozialen Bewegung zu schreiben, quasi eine Geschichte der sozialen Revolutionäre. Je mehr ich lese, desto mehr wird mir klar, daß Jean-Jacques Rousseau und Marx ein Typus sind und sich alle Varianten von Thomas Münzer bis Marat (Der Revolutionär als Phantast) ebenso wiederholen als der Revolutionär als Dogmatiker.


Es wäre herrlich, das einmal der Welt darzustellen, als eine Monographie des revolutionären und sozialen Geistes in Gestalten. Ich habe nur eine zu schwere Hand dazu.


Mit vielen Grüßen


Ihr Stefan Zweig


P.S. Ihr »Tom und Sylvester« ist meines Gefühls nicht recht eingeschätzt worden, und wenn ich eine Stelle finde, möchte ich es gerne nachholen.


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An Emil Ludwig


Salzburg, Kapuzinerberg 5


am 16. Juni 1933


Sehr verehrter Emil Ludwig!


Gerade heute schreibe ich in einem andern Briefe, daß nichts notwendiger wäre, als wenn wir uns an einem bestimmten Tage, etwa zehn oder zwölf gemeinsamen Schicksals, an einer Stelle in der Schweiz treffen würden, um gemeinsam uns auszusprechen und gewisse einheitliche Grundlagen unseres Handelns festzulegen. Dazu gehört auch der Verlag. Die verschiedenen Angebote wollen mir gleichfalls nicht sonderlich gefallen, was not täte wäre ein Konzern, bestehend aus den englischen, holländischen, italienischen etc. Verlagen, der die deutschen Bücher herausgibt und gleichzeitig alle diese Bücher für das betreffende Übersetzungsland erwirbt. Damit allein wäre jene Machtgruppe geschaffen, die wir brauchen und die auch stark genug wäre, eine unabhängige Zeitschrift herauszugeben und sie zu tragen. De facto wäre ein solcher Verlag gegründet, wenn es uns gelänge, für vierundzwanzig Stunden an einer neutralen Stelle zusammenzukommen, und das müßte bei einigem guten Willen möglich sein, wobei ja allenfalls Autoren, die selbst nicht kommen können, irgendeinen von uns als bevollmächtigten Vertreter bestimmen könnten.


Ich bin zu einer solchen Reise immer bereit, obwohl ich ja reichlich in Österreich mit Spannungen gesegnet bin und nicht weiß, ob ich in Salzburg werde bleiben können oder nicht. Aber die Sache ist von so eminenter Wichtigkeit, nicht nur im Persönlichen, sondern auch im kulturhistorischen Sinne, daß man alle Bedenken fortstoßen sollte. Nichts fürchte ich mehr als eine Zersplitterung der besten geistigen Kräfte durch Voreiligkeit. Querido in Holland ist recht anständig, aber Sie wissen wohl schon, daß auch Allert de Lange einen deutschen Verlag macht. Schon steht da Konkurrenz gegen Konkurrenz.


Herzlich würden wir uns natürlich freuen, Sie hier im Sommer begrüßen zu können, aber Bruno Walter möge sein herrliches Vertrauen erhalten bleiben – mir scheint die tatsächliche Durchführung der Festspiele noch gar nicht gesichert, zur Zeit ist die Situation durch deutsche Sperre hier katastrophal, und die Nationalsozialisten werden von drüben herüber, wenn es zu keiner Einigung kommt, kein Mittel scheuen, durch Terrorismus das ausländische Publikum zu verstören. Die Luft schmeckt ja reichlich nach Pulver.


Von Herzen an Ihre verehrte Frau und Sie herzliche Grüße,


Ihr Stefan Zweig


Gerne würde ich mir für den Winter in Locarno oder Lugano eine kleine Wohnung mieten oder kleine möblierte Villa, 4 Zimmer etwa. Wenn Sie jemand wissen, der derlei vermittelt, eine agency oder jemand Privaten, wäre ich Ihnen dankbar. Salzburg wird durch die Grenznähe immer unangenehmer, zumindest im Winter. Auch drückt die Angst der andern einem die Seele: ich selbst bin Gott seis gedankt, ein Fürchtenichts und mag weder Verbitterung noch Hochmut.


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An Emil Ludwig


»Rosemount« Lyncombe Hill Bath


(undatiert; vermutlich Juni 1940)


Lieber Emil Ludwig, ich lese, daß Sie in London sind auf dem Weg nach America, ich bin auch nach Südamerica geladen, aber zögere – Wolfensteins Gedicht ist wie von mir geschrieben – nicht aus Reisefurcht, sondern aus dem Gefühl nicht zum zweitenmal wie in der Schweiz damals die Dinge nur von außen gesehen zu haben.


Ich konnte Ihnen für Ihre Bücher nicht danken, weil ich unter Censur überhaupt keine Briefe mehr schreibe. Aber ich möchte Sie sehr gerne sehen und will es versuchen, wenn ich diese Woche nach London muß. Noch schöner wäre, Sie sähen sich eine der wenigen wirklich charmanten Städte an, die England hat – ein lohnender Ausflug für sie und für mich eine Freude.


Ihr Stefan Zweig


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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.