An Maxim Gorki


Salzburg, Kapuzinerberg 5


29. Aug. 1923


Verehrter Herr Gorki,


selten hat mir die Post so gute Nachricht ins Haus gebracht als die Nachricht, Sie wollten meine Novelle »Der Brief einer Unbekannten« in Ihrer Sammlung bringen. Selbstverständlich bin ich freudig einverstanden: aber das Freudigste ist für mich Ihre Zustimmung. Ich liebe Ihr Werk unendlich: seit Jahren hat mich nichts dermaßen erschüttert wie die Schilderung Ihrer ersten Ehe in den »Erinnerungen«. Wir haben niemanden in der deutschen Literatur, der diese Unmittelbarkeit der Wahrheit hätte – ich weiß, man kann sie auch durch Kunst, vielleicht sogar durch Künste erreichen. Aber Ihre Unmittelbarkeit ist für mich einzig: selbst Tolstoi hatte nicht diese Natürlichkeit des Erzählens. Wie liebe ich Ihre Bücher! Wie ehre ich Ihre menschliche Haltung in all diesen verbrecherischen Jahren!


Mir ist nun innig wohl, daß ich Ihnen meine Liebe und Verehrung sagen durfte. Und fassen Sie es nicht als aufdringlich auf, wenn ich Ihnen zwei Bücher sende, einen Novellenband »Amok« und ein Buch über den Roman »Drei Meister«, das einen Dostojewski-Aufsatz enthält. Sie müssen sie nicht lesen, Sie brauchen mir nicht zu danken. Sie können sie auch ungelesen weiterschenken. Ich habe nur eben das Bedürfnis, Ihnen etwas zu schicken.


Wollen Sie mir aber einmal eine große Freude machen, so schicken Sie mir ein paar Manuskriptblätter aus einem Ihrer Werke. Ich sammle (nicht wie die kleinen Mädchen Autographe) solche Manuskripte erstlich aus Liebe zu den Dichtern, dann um in ihre Arbeit tiefer einzudringen. Von Dostojewski habe ich zwei Kapitel aus den »Erniedrigten und Beleidigten«, von Tolstoi zwei Kapitel aus der Urschrift der »Kreutzersonate« – beides hatte ich vor dem Kriege mit viel Geld und Mühe erworben. Wie glücklich wäre ich, ergänzten Sie diese beiden Dioscuren mit ein paar Blättern Ihrer Hand.


Noch eines: wenn Sie jemals irgend etwas in literarischen Dingen in Deutschland brauchen, bin ich glücklich, wenn ich Ihnen dienen kann.


In Verehrung Ihr


Stefan Zweig


Versäumen Sie nicht, Rolland zu besuchen!!! Es ist ein Erlebnis, ihn zu kennen. Seine Güte, seine Gerechtigkeit sind einzig auf dieser armen Erde, und er ringt diese Leidenschaft einem hinfälligen Körper ab.


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An Maxim Gorki


(Als Vortrag verlesen)


März 1928


Als Ihr Name berühmt wurde, Maxim Gorki, drückte ich noch die Schulbank, und wir Knaben wußten von Rußland nur ein Geringes. Auf den Landkarten, die wir lernten, lag es weitab von unsern Städten und Flüssen, breit und mächtig, eine riesige dunkle Gewitterwolke, herüberziehend vom Pazifischen Ozean und unser winziges Europa fast erdrückend. Und die Lehrer erzählten dazu: ein gewaltiges Reich, aber – leider! – kulturell arg rückständig, noch sehr verwahrlost und barbarisch, mit bedauerlich viel Analphabeten. Aber meinen Sie nicht, es sei politischer Haß gewesen, der sie so hochmütig reden ließ! Es war nichts als der gutmütig dumme Stolz auf unsere herrlich vorgeschrittene Schulbildung und Zivilisation, in der Europa schon eine Gewähr höherer Menschlichkeit erblickte. Wir haben lange selbst an diese Zivilisationsüberlegenheit dank Seife und Büchern geglaubt, wir Europäer, und nicht auf der Schulbank bloß. Erst 1914, als beim ersten Ruck dieser dünne Überwurf zerriß und die Muskeln des Schlächters in unserer Menschheit nackt hervortraten, wußten wir um ihre ganze Armseligkeit.


Dann kam die Universität, und Rußland trat abermals an mich heran in den Gestalten Tolstois und Dostojewskis; dies unerwartet Neue warf mich in leidenschaftlichen Seelenrausch. Ungeheure Menschlichkeit tat sich auf, eine niegeahnte Tiefe des Gefühls, verführerisch wie ein Abgrund. Mit welch erschreckter Bewunderung lebten wir sie nach, diese großartig über sich selbst hinaus, über alles Mittlere der Menschlichkeit zu ihren äußersten Polen, zum Verbrecher und zum Heiligen getriebenen Gestalten! Wir liebten sie und erschauerten vor ihnen, wir waren ihnen verbunden in einem sehr verwirrten und fast angstvollem Gefühl. Wir liebten sie und erschauerten vor ihnen, denn etwas von Fremdheit war zwischen ihnen und uns, etwas Maßloses und Selbstfeindliches, vor dem wir erschraken. Leidenschaftlich liebte ich diese Gestalten mit der Seele und hatte doch deutlich das Gefühl, ich könnte mit ihnen nicht leben, mit diesen ewig fiebernden, ewig sich selbst gewaltsam ausdenkenden, wider sich selbst exzedierenden Riesengestalten. Damals erkannte ich erstmalig Rußlands Genie; aber noch wußte ich nichts von seinem Volk, von seiner wirklichen Kraft.


Und dann kamen Ihre Bücher an mich heran, Maxim Gorki; an ihnen erkannte ich abermals ein Neues: die russische Kraft, die russische Gesundheit, Herz und Form dieser großen Nation.


Hatten jene uns den außerordentlichen Menschen gezeigt, gleichsam das Extrem des russischen Menschen, übergeistigt und überleidenschaftlich, ahnte ich dank jener die zerstörenden Kräfte dieses Volksgeistes, so gewahrte ich dank Ihnen die erhaltenden, die still und verborgen gestaltenden. Ich fühlte beglückt, daß das eigentliche Volk hüben und drüben und allerorts, in allen Ländern, unter allen Himmeln dasselbe ist so wie die Urkräfte der Erde selbst, wie Weizen und Gerste, der von gleichem Erdreich genährte, von der gleichen Sonne gekelterte heilige Urstoff. Das Brot wird anders gebacken und geformt, heller oder dunkler, süßer oder herber bei den verschiedenen Nationen und Völkern, die schöpferische Substanz aber, das Korn ist dasselbe. Und diesen Urstoff Volk haben Sie wie keiner unserer Zeit dichterisch sichtbar gemacht. Sie haben ihn künstlich in Gärung versetzt und zum Gott aufgeschwellt wie Dostojewski und Tolstoi, nicht auch versüßlicht und verzuckert wie die meisten Volksschriftsteller: Sie haben das Volk aufgezeigt mit einer hinreißenden Sachlichkeit, einer ungezwungenen Ehrlichkeit, mit der einzigartigen Unbestechlichkeit Ihres geraden und menschlichen Blicks. Sie übertreiben nicht, und Sie unterdrücken nicht. Sie sehen alles und sehen alles klar und wahr. Darum bedeutet Ihr Blick, Ihr Auge für mich eines der Wunder der gegenwärtigen Welt. Tolstoi und Dostojewski hatten die Gnade, alles groß und übergroß zu schauen, was ihr Blick berührte – Ihr Genie dagegen, Maxim Gorki, ist: gerecht zu sehen und im allerwahrhaftigsten Maße. Wenn Sie einen Menschen schildern, bin ich bereit zu beschwören: so war er, wie Sie ihn sehen, nicht größer und nicht geringer. Denn Ihr Maß irrt niemals, es fälscht und verändert nicht, es ist das genaueste und präziseste optische Instrument der Seele, das wir heute in der Literatur besitzen. Ich kenne kein Bild Tolstois unter seinen zehntausend Photographien und zehntausend biographischen Berichten, das diesen Menschen so atmend wahr der Nachwelt erhält, als die sechzig Seiten, in denen Sie ihn gefaßt und durchlichtet. Und genau wie diesen Größten haben Sie mit gleicher Gerechtigkeit den ärmsten Vagabunden, den verlorensten Zigeuner der russischen Straße gesehen. Durch Sie ist die russische Welt uns dokumentarisch geworden, der russische Mensch nicht nur in seiner weiten Seele, sondern auch in seinem täglichen Dasein, in seiner sinnlichen Irdischkeit uns nah und erschließbar.


Eine solche grandiose Gerechtigkeit des Blicks kann bei einem Künstler nie bloße Augenfunktion sein, Geheimnis und Technik der Pupille, sie muß organisch aus der Redlichkeit eines Herzens stammen, aus einem angeborenen urtümlichen Gerechtigkeitsgefühl, das den ganzen Menschen umfaßt. Ich habe nie das Glück gehabt, Ihnen persönlich zu begegnen, aber ich weiß aus jeder Zeile Ihres Werkes um die sieghafte Wahrhaftigkeit Ihres Wesens. Denn man kann die Wahrheit von tausend und tausend Gestalten nicht so bilden, ohne wahrhaftige Gestalt zu sein. Es ist, als hätte Sie ein ganzes Volk aus seiner ungeheuren anonymen Masse als Zeugen vorgesandt, daß Sie sein Wesen zur Anschauung, seine geheimsten Gedanken und Wünsche zum Worte erheben, und Sie haben diese gewaltige Botschaft treu und großartig übermittelt. Wenn wir heute viel von dem russischen Volke wissen, wenn wir es lieben und seiner Seelenkraft vertrauen, so danken wir zum großen und größten Teile dies Ihnen, Maxim Gorki, und indem wir heute ergriffen und dankbar Ihre Hand fassen, fühlen wir in ihr das Fleisch und das warm rollende Blut der ganzen russischen Welt. In Liebe und Verehrung


Stefan Zweig


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An Maxim Gorki


Salzburg, Kapuzinerberg 5


4. März 1930


Teurer und verehrter Maxim Gorki!


Ich habe gezögert, Ihnen zu schreiben, weil ich ausführlich schreiben wollte und allerhand Dinge mich ständig in Atem hielten. Nun weiß ich durch den glücklichen Zufall der leider zu kurzen Begegnung in München, daß Baronin Budberg bei Ihnen ist, und sie wird so gütig sein, Ihnen meine Worte zu übermitteln.


Zunächst muß ich Ihnen von Rolland sagen, daß ihn wie mich die Affäre Istrati sehr erregt hat. Er ist persönlich noch mehr davon getroffen, weil in der Öffentlichkeit die Meinung besteht, Istrati sei ihm treu ergeben und hätte gewiß nicht ohne seine Zustimmung die große Attacke unternommen. In Wirklichkeit hat er das Buch geschrieben, trotz der dringenden Warnungen Rollands, und weiß auch heute selbst genau, welchen Unsinn er angerichtet. Für die ganze Unaufrichtigkeit oder vielmehr Sorglosigkeit dieses Menschen spricht ja die Tatsache, daß er mit einem widerlichen Aufwand an Pathos der Welt verkündet, nun werde er, endlich einmal er, in diesen 3 Bänden die Wahrheit verkünden. Dabei ist aber das Peinliche, daß nur der erste Band von ihm ist, der zweite ist von Viktor Serge geschrieben, der dritte von Boris Suwarin, die sich hinter seinem Namen verstecken – ein Vorgang, für mein Empfinden so unehrenhaft als möglich, denn zumindest hätte Istrati andeuten müssen, daß er Mitarbeiter bei seinem Buche gehabt hat, wenn ihm schon die Courage fehlte zuzugeben, daß er sein buchhändlerisches Renommée für fremde Arbeit ausnütze. Uns allen, die wir Istrati kennen, war es von vornherein klar, daß ihm vollkommen die Fähigkeit fehlt, sachliche und nationalökonomische Darstellungen zu geben – sein Talent besteht einzig nur in der Impulsivität und einer angeborenen orientalischen Phantasiefähigkeit. Ich halte ihn nicht bewußt schlechter Handlungen fähig, er ist ein Opfer seiner Leichtgläubigkeit und glaubt jede Lüge, auch jene, die er selber erfindet. Sie haben in einer Ihrer Novellen einmal selbst eine solche Gestalt geschildert, der Mensch, der einfach nicht in der Wirklichkeit lebt, sondern in seiner eigenen Erfindung, ein geborener Phantast und Fabulierer. Dies kann eine Tugend im Erzählen sein, obwohl ich gerade in der Epik den Wahrheitsmenschen unendlich mehr liebe – aber in die Politik ist dieser Phantast jetzt hineingefahren wie der Elefant in den Porzellanladen. Rolland legt großes, ja größtes Gewicht darauf zu betonen, daß er dem Buche nicht nur fern steht, sondern es vollkommen mißbilligt. Er ist der einzige, der sich nicht einen Zoll von seiner profunden Einstellung zu den Geschehnissen Ihrer Heimat abbringen läßt.


Freilich weiß er so wie ich um die Fehler, die im einzelnen begangen werden, und hat speziell in einem Fall um Ihre Hilfe gebeten. Ich betrachte es als einen der wenigen sympathischen Züge unserer Menschheit von heute, daß sie besonders sensibel ist, wenn irgendwo ein Künstler oder ein geistiger Mensch getroffen wird. So wie beim Kampf es mehr Eindruck macht, wenn ein 7jähriges Kind getötet wird, als wenn 200 Erwachsene fallen, so erregt ein geistiger Mensch, dem Unrecht geschieht, mehr Aufsehen als tausend Anonyme. Hier wird eine Solidarität jenseits des Nationalen herausgefordert, die Solidarität der geistig Passionierten und Intellektuellen, und dies ist glücklicherweise noch immer eine Macht auf Erden.


Ich kann da nicht in alle Details eingehen, und Sie denken sich, weshalb – ich wollte nur vermeiden, daß Sie in der Haltung Rollands irgendein Ändern oder Nachlassen erblicken, und ihm liegt viel daran, daß Sie es wissen. Er gehört zu den wenigen Menschen, die sich durch Zeitungsnachrichten nicht irremachen lassen. Wir haben während des Krieges gelernt, daß nach einem und demselben jahrhundert alten System gearbeitet wird, wenn es gilt, eine bestimmte, öffentlich natürlich nicht verlautbare Absicht vorzubereiten und durchzusetzen. Auch jenes Buch gehört in diese Kategorie, wobei das Peinliche ist, daß Istrati, dieser unmündige Geist, gar nicht wußte, für wen und gegen wen er sein Eisen schmiedete.


Nun, teurer Maxim Gorki, muß ich Ihnen noch vielmals danken für Ihren Roman, den ich langsam und aufmerksam gelesen habe, abermals überrascht von der Fülle und Präzision der einzelnen Figuren und von dem Glanz der entscheidenden Szenen. Ich bin ungeheuer gespannt auf die nächsten Bände, denn – daß ich es offen sage – dieses Buch spielt im Schatten, es schwebt gleichsam dunkel eine Wolke darüber, und ich denke mir, daß die nächsten Bände das Gewitter und seine Entladung bringen. Durch Bücher wie dieses wird man eigentlich erst gewahr, wieviel Unruhe, wieviel geheimniserregte Unruhe in jenen Jahren vor dem Kriege in der ganzen Generation mächtig war. Wir von heute verstehen diese Unruhe und wissen, daß sie eigentlich nicht von innen aus in die Menschen kam, sondern aus der atmosphärischen Spannung der Zeit. Es waren gleichsam die Übligkeiten und die irritierten Zustände einer schwangeren Frau, die selbst noch nicht weiß, daß sie schwanger ist. Wenn man die literarischen Dokumente der ganzen Generation zusammenhält, so wird man dieses einheitliche und einmütige Vorempfinden einmal gleichsam meteorologisch feststellen können.


Von mir kann ich Ihnen nur erzählen, daß ich nach sehr angenehmen Tagen in Rom plötzlich heim mußte, weil mit meinem Stück durch einen Kontraktbruch eines Schauspielers plötzliche Umschaltungen nötig waren, ich mußte ein paarmal hin und her und reise jetzt nach Deutschland, wo einige Aufführungen stattfinden, um selbst einen Eindruck zu gewinnen, ehe wir dann in Wien und Berlin die eigentliche Uraufführung versuchen. Aber ich habe gelernt, wie wesentlich es ist, jedes Jahr längere Zeit außerhalb des gewohnten Lebenskreises zu verbringen, und wie sehr dies die Arbeit fördert; so hoffe ich, auch im nächsten Jahr einmal länger in Italien oder Spanien zu bleiben. Die Erinnerung an die Herzlichkeit, die wir bei Ihnen fanden, läßt uns schon heute sehr an Italien denken, um solche Stunden wieder zu erneuern – sie sind selten wie alles Gute im Leben.


Mögen Sie gut arbeiten und sich voller Gesundheit erfreuen!


Und grüßen Sie, bitte, innigst Ihre Familie, Ihre Freunde, von Ihrem dankbar ergebenen


Stefan Zweig


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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.