An Romain Rolland


VIII. Kochgasse 8


Wien, 10.10.1914


Ich schreibe deutsch, weil Briefe ins Ausland einem eventuellen Einblick unterliegen.


Ich danke Ihnen vielmals, lieber verehrter Freund, für Ihren Gruß in dieser Zeit. Nie habe ich öfter und herzlicher an Sie gedacht als in diesen Tagen, nie mehr gefühlt, daß nur die Gerechtigkeit, die letzte Aufrichtigkeit uns einander wichtig machen kann. Und wie seltsam: wir haben beide fast zur gleichen Zeit von uns gesagt, wie wir gegen unsern Willen in die wilde Leidenschaftlichkeit geraten sind und ich finde in Ihren Worten (und Sie hoffentlich in den meinen nicht) nie das Wort Haß oder dessen Schatten nur. Als ich gestern las, Charles Peguy sei gefallen, hatte ich nur Trauer, nur Bestürzung in mir, nirgendwo stand in meinem Herzen seinem Namen das Wort beigemengt: Feind. Wie schade um den edlen reinen Menschen. Und wie viele hat die Welt in diesen Tagen verloren in denen der große Künstler, ein Beethoven vielleicht, ein Balzac, noch ganz eingefaltet war in der Frühe seines Todes. Nie wird Europa wissen, was es in diesen Schlachten verloren hat, die Totenlisten sind ja nur Namen.


Das ist ja hüben und drüben gleich: wie Sie so schön sagen, wir wollen unsern Schmerz nicht vergleichen. Ich will auch nicht mit Ihnen, lieber teurer Freund, öffentlich sprechen wie es so manche taten, als Ihr erster Brief erschien, den ich so ganz edel in seiner Absicht fand wie ich es von Ihnen erhoffte und – meiner Meinung nach – nur irrig in der Voraussetzung. Löwen ist nicht zerstört, seine Kunstdenkmäler, vor allen das Rathaus mit unsäglicher Mühe von den Offizieren mitten im Feuer gerettet worden, bis auf die Bibliothek: Ich habe darüber direkten Bericht, habe einen Plan gesehen, der die zerstörten Teile und die erhaltenen, aufzeigt. Wie viel Schuld die französische Presse hat, die in Friedenszeit in ihrer Gehässigkeit und Unwahrhaftigkeit schon keine Grenzen kannte und zweifellos meldete, man habe aus bloßer Rachsucht ein wenig zum Scherze Löwen in Brand gesetzt, kann ich nicht ermessen: jedenfalls weiß ich bestimmt, daß in Löwen außer jenem einen Gebäude kein Schade geschehen ist, auch die Bilder sind alle gerettet. Ich weiß dies von einem Freunde, der selbst bei dem (übrigens grauenhaften) Überfall dabei war und mir alle Details schrieb: aber ich hatte es auch unsern Zeitungen geglaubt. Ich weiß nicht, ob Sie jetzt deutsche Blätter sehen, aber ich finde sie von außerordentlicher Würde. Nirgends Tartarennachrichten, nirgends der Versuch die französische Nation zu verhöhnen oder deren Armee als eine sadistische Bande hinzustellen. Tut es Ihnen – aufrichtigst – nicht weh, Romain Rolland, in französischen Blättern lange Diskussionen über die Frage zu sehen, ob man deutsche Verwundete auch pflegen solle? Sind wir wirklich in Europa und in dem 20. Jahrhundert, wenn Clemenceau öffentlich ihre Vernachlässigung fordert? Das Blut friert mir in den Adern, wenn ich an die Hilflosen denke, die mit eiternden Wunden und zerrissenen Gliedern ohne Hilfe in Gehässigkeit verfaulen sollen. Ich glaube garnicht daran, daß ein Franzose diese Ratschläge befolgt, aber daß dies überhaupt diskutiert wird, Romain Rolland, öffentlich diskutiert, welche Schmach. Wo es Krieg gibt, müssen wir – ich schrieb es ja auch – meiner Meinung nach schweigen, aber die Verwundeten, die Kranken, die Gefangenen, das ist nicht Krieg mehr, das ist nur das Elend, das unendlich tragische menschliche Elend, das der Dichter zu verteidigen hat. Für die Verwundeten, für die Kranken erwarte ich ein Wort von Ihnen, denn wenn wir den anderen nicht helfen können, die töten und sich töten lassen müssen, wenn wir das Ungeheure der Tat nicht um eine kleine Stunde zurückhalten konnten, so sollten wir doch den Opfern beistehen und für die Hilflosen um Liebe werben. Ich habe hier in den Spitälern verwundete Russen mit einer Dame besucht, die ihre Sprache spricht, und gesehen wie beglückt die Armen sind, nur ihre Sprache zu hören und wie die Liebe gerade denen doppelt not tut, die in Feindesland liegen. Sie sind, Romain Rolland, selbst krank gewesen und wissen, daß Güte und Zartheit in solchen Stunden, da die Seele viel wacher ist durch ihres Körpers Leiden, ein unendliches Labsal ist, daß Feindlichkeit, selbst eine des Blickes bloß oder des Wortes, die Wunden heißer macht und die Qual verhundertfacht. Ich rufe Sie deshalb auf, nicht weil Sie mir Freund sind, sondern Sie, den Dichter, den Menschen: helfen Sie den Hilflosen. Mahnen Sie zur Güte gegen die Kranken und schlagen Sie jene elende Diskussion nieder, die Frankreich schändet. Sie werden mich genau so bereit wissen, in Deutschland für irgend etwas zu wirken, das der Menschlichkeit gilt – sprechen Sie zu den Frauen, wenn Sie wie ich der Meinung sind, daß im Kriege dem Nichtkämpfer das Schweigen ziemt, aber sprechen Sie, Romain Rolland, sprechen Sie.


Sie werden sich in Jahren fragen, wenn wir dieses Kriegs gedenken: was habe ich damals vollbracht? Und wenn Sie nur dies taten, daß ein Kranker in Feindesland ein Sandkorn Güte empfing, dürfen Sie von sich sagen: ich war nicht ganz nutzlos in jener Zeit! Walt Whitman ging als Soldat in den Krieg und wurde dort Krankenpfleger: nichts ist größer in seinem Leben als diese Wandlung, nichts schöner als seine Briefe aus jener Zeit. Mögen die andern Kriegslieder dichten, Sie, Romain Rolland, sollten zur Güte aufrufen, die Frauen vor allem, Sie sollten die deutschen Verwundeten schützen vor bösem Blick und hartem Wort! Erinnern Sie daran, daß Wunden ohnehin mehr schmerzen, wenn man verlassen in fremdem Land liegt statt auf heimischer Erde und daß der Kranke keinen Krieg mehr führt! Sparen Sie den Leidenden Qual und Ihrer Heimat eine Schande!


Von mir selbst will ich nichts schreiben: ich bin wie verstört von den Geschehnissen! Alles was ich mir an Arbeit vornahm ist unterbrochen, meine Nerven gehorchen mir nicht mehr. Ich habe viele Freunde im Feld, hüben und drüben – ob wohl Bazalgette, Mercereau, Guilbeaux nicht auch in Gefahr sind? – von meinen liebsten Menschen wie Verhaeren weiß ich kein Wort!!! Ihre Karte war mir eine Freude über alle Maßen, es lag etwas von Ferne darin ohne Feindlichkeit und für die Deutschen ist doch heute alles außer ihren eigenen Grenzen sonst Feind, die ganze Welt! Es ist eine furchtbare Zeit und sie fordert den ganzen Menschen von uns, um ihrer nicht unwürdig zu sein!


Leben Sie wohl, teurer verehrter Freund, ich bleibe immer in Treue


Ihr Stefan Zweig


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An Romain Rolland


Baden bei Wien, 19. Oktober 1914


Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, teurer, verehrter Freund, für Ihre guten Worte. Es gibt Wenige, die so sehr unter dem Gegenwärtigen leiden, nur um der ungeheuren Gehässigkeit willen, die jetzt die Welt erfüllt. Ich bitte Sie mir unbedingtes Vertrauen zu schenken, daß ich alles tun werde, um mein Teil an einer wenigstens geistigen Versöhnung beizutragen. Schweigen und Gleichgültigkeit ist heute ein Verbrechen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen noch oftmals werde schreiben können. Im nächsten Monat werde ich – obwohl längst militärfrei – noch einmal auf meine Tauglichkeit überprüft. Es wäre für mich ein Glück, ginge mein Wunsch in Erfüllung, dem Spitaldienst zugeteilt zu werden. Wunden zu heilen wäre mir tausendmal lieber als Wunden zu schlagen. Ich fühle daß ich da viel, im Felde wenig leisten könnte, weil man doch nur dort vollwertig ist, wo die Anstrengung auf der inneren Linie des Charakters liegt. Aber solange ich noch daheim bin, will ich mit meiner ganzen Energie wirken, diesen Kampf linder und ohne Bitterkeit zu machen. Und ich glaube, Ihre Anregung, es möchten nach Genf die Besten der Nationen zu einer Art moralischem Parlament sich versammeln, ist das Edelste und Notwendigste, was getan werden kann. Nur müssen es entscheidende Persönlichkeiten sein. (Ich selbst habe z.B., das Werk noch nicht getan, das mich berechtigt, für Deutschland oder Österreich zu sprechen). Gerhart Hauptmann für Deutschland, Bahr für uns, Eeden für Holland, Ellen Key für Schweden, Gorki für Rußland, Benedetto Croce für Italien, Verhaeren für Belgien, Carl Spitteler für die Schweiz, Sienkiewicz für Polen, Shaw oder Wells für England – es sind dies ja nur Vorschläge, aber ich glaube, es wäre zu erreichen. Nun meine Frage: möchten Sie nicht den Aufruf an die Dichter richten, ich bin bereit, Sie in Deutschland zu vertreten. Oder soll ich es als Ihre Anregung zuerst in Deutschland publizieren? Ich bin gewiß, Hauptmann folgt dem Rufe! Und wie vieles wäre zu tun? Ich denke an eine Art Zeitschrift, die dort von dem Comité allwöchentlich herausgegeben würde, die Lügen dementierte, bewiesene Grausamkeiten der Welt mitteilte, die alle Anregungen zur Humanität im Kriege, zur Linderung der unnötigen Not veröffentlichte. Wäre es nicht möglich z.B., daß man wie in den viel barbarischeren Kriegen von einst Offiziere und Soldaten gegen Ehrenwort austauschte? Daß man Civilpersonen nach neutralen Ländern reisen läßt und sie dort unter Verantwortung jener Regierungen bleiben? Ich habe es selbst gesehen: das Leiden der Soldaten ist gering gegen jenes der Angehörigen, die sich in fruchtlosen Worten verzehren, gegen das Entsetzen der Flüchtlinge, denen Haus und Heim zerstört ist. Auch wir haben hier Heimatlose aus Galizien, Frauen, die ihre Kinder auf der Flucht verloren haben, in Ostpreußen sind Tausende geflüchtet, als die Russen kamen, und ihre Erzählungen nach der Heimkehr sind entsetzlich. Wer sind wir, Romain Rolland, und wozu sind wir, wenn wir das Wort und die Macht, die uns durch das Wort gegeben ist, jetzt nicht gebrauchen? Ihr Vorschlag ist so edel und so schön: nun erfüllen Sie ihn auch. Vielleicht wird es nicht gelingen. Aber es muß gezeigt werden, daß nicht nur Nationalismus in der Welt ist. Wir alle haben zwar gebüßt, daß wir so an die Reife der Menschheit glaubten, ich wie Sie haben doch alle geglaubt, dieser Krieg werde verhindert werden können und nur darum haben wir ihn nicht genug bekämpft, als es noch Zeit war. Ich sehe manchmal die gute Bertha von Suttner vor mir, wie sie mir sagte: »Ich weiß, Ihr haltet mich alle für eine lächerliche Närrin. Gebe Gott, daß Ihr Recht behalten möget«.


Ja, Romain Rolland, es ist an der Zeit, zu wirken gegen die Gehässigkeit. Es geht nicht an, daß müßige Zeitungsschreiber Soldaten höhnen, die wochenlang auf nasser Erde liegen, täglich ihr Leben einsetzend, daß diese Schreibseelen dann noch die Armen verleumden. Ich glaube fest, daß noch viel zu tun ist, denn in Deutschland – glauben Sie es mir! – ist noch heute keine Gehässigkeit gegen Frankreich. Frankreich hat einen ungeheuern moralischen Triumph in diesem Kriege erlebt: die Sympathien der ganzen Welt sind ihm entgegengeströmt und was das Wunderbarste ist, Deutschland selbst hat eine Neigung zu seinem Gegner. Wir fühlen, daß hier gleich gegen gleich steht, Land gegen Land; jedes hat seine besten Menschen herausgestellt, seine heiligste Glut. Der ganze deutsche Haß geht gegen England, das Völker kauft wie Schlachtvieh, gegen das England, dessen Volk bei der Pfeife, am warmen Ofen sitzt und aus den Zeitungen den Krieg erfährt, den seine Söldner, die Hindus und Sikhs – im Namen des Rechts und der Menschenwürde natürlich! – führen. Gegen Frankreich ist nur die Waffe, nicht das Herz; es ist noch immer der deutsche Traum, ein Bündnis mit Frankreich zu haben, ihm Freund zu sein. Ich weiß ja, daß diese Liebe nur eine einseitige ist, aber man sollte sie deshalb nicht ableugnen. Und ich glaube, daß in den geistigen Dingen, die wir meinen, die Verständigung immer zwischen Frankreich und Deutschland am ehesten möglich ist. Wir sind doch das Herz Europas, Frankreich und Deutschland und es muß einmal geschehen, daß diese beiden Länder sich verstehen! Darum ist alles was die Beziehungen – bei Euch und bei uns – vergiftet, ein Verbrechen. Niemand weiß, wie dieser Krieg enden wird, aber ich weiß, es wird darnach ein Friede sein und diesen Frieden schon vorzubereiten ist die Aufgabe Aller, die jetzt nicht kämpfen…


Das Bureau zur Ausforschung von Civilpersonen hat auf Österreich glücklicherweise keinen Bezug. Bei uns gibt es keine Concentrationslager, es ist, abgesehen von einzelnen Verdächtigen, niemand interniert. Zwischen Rußland und uns sind Austauschverhandlungen über weibliche Staatsbürger und Männer gewissen Alters im Zuge oder schon vollendet. In dieser Beziehung ist Österreich ungemein correct vorgegangen und ich kann Sie versichern, daß außer gegen einige Serben – von Ausländern niemand eingefordert ( polizeilich) wurde. Ich werde aber jedenfalls die Bildung eines Comités anregen, das Auskünfte jeder Art erteilt: was immer Sie, Romain Rolland, nur vorschlagen, wird eingeleitet werden. Ich bin glücklich, irgendwie in dieser Zeit tätig sein zu können: ich habe einiges hier in Wien mit Glück versucht. Aber unser großes, unser wahrhaftes Werk in dieser Stunde ist sicher nur das, diesen Krieg wenigstens im Geistigen weniger grausam zu machen und eine Versöhnung anzubahnen, die unbedingt nötig sein wird. Mir graut vor den kleinen Gehässigkeiten nach dem Kriege fast mehr, als vor seiner jetzigen Wildheit, denn da ist Schönheit beigemengt, das andere aber nur häßliche kleinliche Gefühle. Ich schrieb es ja in meinem Abschied: »nie wird unsere Freundschaft, das Vertrauen in uns notwendiger sein als nach dem Kriege.« Leider strich man mir dort einen wichtigen Satz, ich schrieb, »ob wir siegen oder verlieren, haben wir gleiche Gefahr vor uns, Haß oder Hochmut und dann müssen wir auf beiden Seiten kämpfen gegen Beides.«


Ich grüße Sie innigst, verehrter Freund. Ich habe Sie nie meinem Leben und uns allen so notwendig empfunden als jetzt. Alle meine Wünsche gehen zu Ihnen hinüber und zu der großen leidenden Welt Europas, der wir gemeinsam und brüderlich gehören – trotz allem und allem!


Treulichst
Ihr Stefan Zweig


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Bazalgette ist wohl auch bei der Armee! Wie oft denke ich an ihn und wie innig! Wenn sie ihm schreiben, sagen Sie ihm meinen Gruß! Mein Trost, wenn ich in den Kampf gestellt werde, ist, daß es wenigstens nicht gegen die Menschen geht, die mir seit einem Jahrzehnt lieb und vertraut sind! Und ich weiß viele, die jetzt gegen Brüder und Verwandte fechten müssen. Von Verhaeren weiß ich nichts, aber ich habe jetzt nach Brüssel geschrieben.


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An Romain Rolland


23.10.1914


Sehr verehrter lieber Romain Rolland!


Ich habe bereits die ersten Schritte eingeleitet. In Deutschland habe ich mich an Walther Rathenau, den tüchtigsten und einflußreichsten Menschen gewandt, er wird mir bald antworten, ob die deutschen Listen übermittelt werden können. In Wien habe ich mit dem Roten Kreuz und andererseits mit den officiellen Stellen Fühlung genommen. Ein Freund von mir, der im Roten Kreuz tätig ist und vielfache Beziehungen hat, wird sich der Sache annehmen. Nötig wäre dazu: ein Brief vom Roten Kreuz in Genf, der officiell um die Listen der Civilgefangenen bittet und dafür die Gegenlisten verspricht. Dieser Brief müßte ganz officiell sein und nicht von Ihnen – denn, ich bin ganz aufrichtig, die nationale Reizbarkeit sieht in Ihnen seit dem Wort von »Attilas Söhnen« einen Gegner. Sie verstehen wohl selbst, daß in einer Zeit der Hypertrophie des nationalen Empfindens von einem Bekenntnis oft nur ein Wort zurückbleibt und gerade dieses Wort ist bei uns ein wenig geflügelt geworden. Ich werde sicher Gelegenheit nehmen, das aufzuklären, ich verstand Ihren Brief so wie er gemeint war, in seiner ganzen Schönheit. Aber an den officiellen Stellen sind Sie ein »Gegner« und es ist besser, die Action geht ganz ohne Ihren Namen, nur officiell vom Croix Rouge in Genf. Lassen Sie diesen officiellen Brief an Dr. Paul Zifferer Wien III Marokkanergasse 11 gehen, sagen Sie darin, daß ich ihn genannt hätte und entwickeln Sie darin ganz formell den Wunsch. Ich unterstütze selbstverständlich die Absicht an den geeigneten Stellen.


Die Frage ist nur, ob es solche Civilpersonen überhaupt noch gibt. Alle, die nicht Männer im militärischen Alter sind, durften bereits aus Österreich ungehindert auf neutrales Gebiet zurück. Vielleicht sind einige Personen als verdächtig interniert, ich glaube es aber nicht, zumindest keine Franzosen. Man hat hier in Österreich sehr milde die Ausländer behandelt, ungehindert setzen zum Beispiel manche Französinnen ihren Sprachunterricht fort. Es gibt also nur mehr Militärgefangene und für die ist, glaube ich, die Convention bereits in Kraft. Jedenfalls werde ich in einigen Tagen Präcises wissen und bei meinem Freunde ist die Action in guten Händen.


Verhaerens Schicksal geht mir natürlich sehr nahe. Ich habe nach Belgien um Auskunft geschrieben und falls ich von dort keine Nachricht bekomme, so werde ich öffentlich durch das Berliner Tageblatt nachfragen lassen. Ich vermute, daß er in Belgien geblieben ist: seine Art ist es nicht zu flüchten, wenn es das Schicksal seines Volkes gilt.


Ich denke noch immer an Ihren schönen Vorschlag, die besten Menschen der einzelnen Nationen in Genf zu versammeln, und habe heute durch Rathenau Hauptmann fragen lassen, wie er sich zum Gedanken verhielte. Es ist eine ganz unverbindliche Anfrage und ich bin beinahe sicher, daß Hauptmann den Sinn und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Action erfaßt. Wie schön wäre eine Zeitschrift, die dort von Woche zu Woche die gemeinsame Meinung der Besten Europas der Welt übermittelte: es wäre ein Denkmal der Humanität für alle Zeiten, eine Insel des Friedens in diesem aufgewühlten Meere der Gehässigkeit. Auch von Ihnen wünschte ich jetzt schon, daß Sie eine Art öffentliches Tagebuch wie Dostojewski in dieser schweren Zeit führten und in billiger Broschürenform weiteren Kreisen zugänglich machten. Diese Zeit bedarf der Gerechtigkeit wie keine: jeder, der ihr dienen will, muß alle Zurückhaltung fallen lassen und seinem Wort möglichste Verbreitung zu sichern suchen. Wir alle, die wir den Frieden wollten, sind heute bestraft dafür, daß wir ihn nicht so laut forderten wie die andern den Krieg. Das sollte uns ein Zeichen sein!


In herzlicher Liebe und Verehrung Ihr getreuer


Stefan Zweig


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Ich wäre gern persönlich nach Genf gekommen, wie gerne: aber ich bin militärpflichtig und habe deshalb die Pflicht, im Lande zu bleiben.


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An Romain Rolland


21. 11. 1914


Mein lieber und verehrter Freund, ich danke Ihnen so sehr ich danken kann für Ihren wundervollen Brief. Wäre, als ich ihn empfing, noch Bitterkeit in mir gewesen, sie wäre entschwunden. Aber wunderbarer Weise hat eine Tatsache mich über Verhaerens Verse getröstet: die Gehässigkeit mancher Antworten in Deutschland. Erst beim Zurückschlagen wurde ich gewahr, wie unzerstörbar meine Liebe zu diesem herrlichen Menschen ist, der jetzt seit Jahren dem Schmerz entwöhnt war und schon ganz oben angelangt in den reinern Regionen der Gefühle, die nicht mehr den Schwankungen des Blutes unterliegen. Und nun mußte er noch einmal hinab ins Inferno des Hasses, er der sich längst schon entsühnt wähnte. Oh, ich ahne, was es ihn gekostet haben mag, gehässig zu sein. Nur die Form tat mir weh, die niedere Form der Schmähung! Könnte ich ihn sprechen, so würde ich ihm sagen, er möge darauf achten, wer ihm jetzt Beifall zollt: in der Literatur seine Feinde, die lachten, wenn man ihn Dichter nannte und seine Sprache schmähten, und auslands die Engländer, die nie seinen Namen, geschweige sein Werk gekannt. Sie kennen dies und jeder von uns, das heimliche Erschrecken, wenn mit einemmal Leute uns Beifall geben, die innerlich nicht ein Wort unserer seelischen Sprache verstehn: ich mustere mich dann immer mißtrauisch und mir ist, ich hätte etwas falsch getan. Vielleicht wählt ihn heute die Academie, die er bisher innerlich verspottete, vielleicht entdecken die Franzosen, daß er gar kein so übles Französisch schrieb und überhaupt von je ein großer europäischer Dichter war. Nur gedenken soll er, wo man ihn bisher haßte und liebte, für wen er schrieb und für wen er jetzt schreibt: und ich bin zufrieden. Nichts fürchte ich für ihn mehr als den Beifall der Boulevards: der ist heute billig und jeder Lügner heimst ihn ein.


Verstehen Sie nur dies, Sie Mitfühlender, wie sehr Verleumdung aus einem solchen Munde schmerzt. In Deutschland litten wir nur an dreier Menschen Wort: zuerst an Ihrem, an dem Maeterlincks und Verhaerens (auch Hodlers natürlich). Nur wenn jene sprachen, tat es weh, denn diese kannten Deutschland, die andern sprachen nur blinden Haß. Und verleumdet ist Deutschland in diesen Tagen worden. Sie haben mich, mein lieber teurer Freund, gewarnt, nur nach einer Seite zu hören und ich schwöre Ihnen, daß nichts meine Seele so erfüllt als gerecht zu sein und nur das zu bezeugen, was man selbst gesehn. Und ich bezeuge: in einer amerikanischen Tageszeitung ist im Oktober ein Essay erschienen, der in Riesenlettern die Aufschrift trug Vienna in Despair und als Beleg anführte Stefan Zweig writes und dann einen Artikel brachte, der das Infamste an Fälschung und Mystifikation war. Ich bezeuge dies und frage Sie, ob wir ganz Narren sind, wenn wir schreien, man verleumde uns. Nun habe ich es selbst erfahren. Und Manches, wie die »abgeschnittenen Kinderfüße« die man »oft« in deutschen Tornistern finde oder die Diebstähle des deutschen Kronprinzen – das darf ich stolz sagen, solche Niedertracht ist unsern Feinden in Deutschland nie angedichtet worden. Und diese Lügen springen mit den Telegrafenfunken rund um die Welt, eine elektrische Atmosphäre von Verleumdung umhaucht die ganze Erde. Wer kann ihnen nach, diesen Lügen? Selbst die Geschichte holt sie nicht mehr ein.


Ich sage Ihnen dies nur, um zu erklären, warum selbst ich, der ich meine innere Kraft zusammenraffe, um klar und gerecht zu bleiben, in manchen Sekunden vielleicht auch reizbar bin. Es ist die Bitterkeit der Vielen, die auch den Einzelnen faßt: Sie selbst werden in Paris ihr nicht ganz entgehen können oder schwerer zumindest als in der Schweiz. Meinen ganzen innern seelischen Besitz, – Begeisterungsfreude, Menschheitsliebe und Aufopferungsfähigkeit – diese Dreieinigkeit werde ich aber, ich weiß es, unversehrt in die neue Zeit hinüberretten. Auch ich werde Europa treu sein, allen Ländern und allen Menschen. Oh, ich bin schon so ungeduldig, an jedem Tage mehr, da irgend etwas in Trümmern stürzt, es wieder aufbauen zu helfen. Und wir müssen früh beginnen, Romain Rolland! In der ersten Stunde des Krieges war der Haß da und drängte alles fort: in der ersten Stunde des Friedens muß unsere Liebe werktätig zur Stelle sein.


Sie haben mir, Sie Gütiger, immer Liebe erzeigt. Nur weiß ich nicht, ob sie mir persönlich so galt wie sie überhaupt unbewußt aus Ihnen jedem entgegenströmt. Denn ich möchte Ihr Vertrauen zu mir auf eine Probe stellen, Ihnen einen Vorschlag unterbreiten, der der Gesinnung nach Ihnen nahe sein müßte. Ich weiß nur nicht, ob ich Ihnen genug vertrauenswürdig dazu bin. Ich glaube, wir müßten – und ich denke an Sie und mich – sofort nach dem Frieden, wem immer der Sieg zufällt, für zwei oder drei Jahre, aber nur die ersten Jahre, eine Zeitschrift gemeinsam in beiden Sprachen herausgeben, die »Versöhnung«, »Réconciliation« heißen sollte. Was mir von meinem Vermögen bleibt, will ich gerne dafür opfern und meine ganze Arbeitskraft. Es muß alles, was an Haß noch zwischen den Völkern ist, durch das Beispiel ihrer Besten sofort gesänftigt werden. Ich glaube im allgemeinen nicht an die Notwendigkeit von Zeitschriften, ich möchte auch nicht, daß diese einen Tag länger lebte, als sie nötig ist, nicht einen Tag! Aber ich weiß, daß sie nötig wäre in den ersten Monaten, hüben und drüben. Auf die Besten in Deutschland könnte ich zählen, daß sie mir helfen würden und Ihnen ist die Unterstützung aller Gerechten in Frankreich und in der Welt sicher.


Ich habe das Gefühl, daß in allen starkfühlenden Menschen unserer Zeit jetzt unendlich viel Niedergehaltenes ist. Und es wird vielleicht auch nachher keine Tribüne sein für das notwendigste Wort. Heute, nur heute, da der Kampf noch unentschieden ist, läßt sich die Grundlage zu einem solchen Werk legen. Ich wäre glücklich, meine Zeit, meine Fähigkeiten, mein Vermögen einem solchen heiligen Dienst opfern zu können: aber er müßte so gebaut sein, dieser Tempel der Versöhnung, daß sein First sichtbar sei in der ganzen Welt. Ich denke die Zeitschrift in beiden Sprachen mit Gastbeiträgen in englischer, italienischer und holländischer, denke mir die Schweiz als Erscheinungsort, zwischen den Staaten und inmitten der Freiheit. Ich fühle und fühle, nur Enthusiasmus und Selbstaufopferung kann wieder nahebringen, was jetzt die vielfache Gehässigkeit auseinandergestoßen hat: jetzt oder nie muß der europäische Gedanke hochgehalten werden. Vieles, das gesprochen sein will, findet nicht die Stelle und nur in Rede und Widerrede kann die ganze heilige Not aller derer sichtbar werden, die an der Entzweiung leiden. Ich fürchte keine Angriffe mehr, ich weiß, daß mein sicherstes Werk nicht das Eigene ist, sondern eine Fähigkeit zur Vereinung, eine Leidenschaft zur Güte und zur Versöhnung. Ich kann selbst in diesen Tagen niemals jemanden ganz hassen, wo die Welt in Flammen steht und im geheimsten ist mir, als könnte mir einmal die Macht noch werden, den Haß der andern zu mindern. Ich fühle so ganz, was Sie von den Forderungen der Hingabe und des Beispiels sagen und ich bin froh bereit, alle eigene Pläne auf Jahre wegzustellen für dieses Werk (so wie ich schon einmal zwei Jahre für die Tat hingegeben habe, die deutsche Welt für Verhaeren zu gewinnen – und ich habe sie gewonnen). Ich bin heute in dem Alter jener Entschlossenheit, wo man im Moralischen das kann, was man will, und fühle mich auch dieser Aufgabe, die ich Ihnen entwickelte, voll gewachsen. Ihre Hilfe wäre freilich unumgänglich, weil sie so erlauchte Bürgschaft Frankreich gegenüber ist, für die heilige und ernste Absicht dieser Tat. Die tatsächliche Arbeit will ich gerne auf mich nehmen – Ihr Werk ist wichtiger als das meine – aber Ihre Hilfe könnte ich nicht entbehren.


Die Stunde ist da und der Wille auch. Ich fühle den Ruf einer Tat. Mögen die andern nach dem Krieg jeder wieder eigensüchtig zu seiner Arbeit zurückkehren, ich fühle, daß erst dann die Arbeit für das Gemeinsame beginnt. Für lange ist dann noch keine Ruhe, denn ich fürchte, der Haß überlebt den Krieg, er wird nicht geringer, nur gemeiner nach seinem Ende. Ihn dann zu bekämpfen, wird dann unsere Kriegestat sein und zu ihr fühle ich den Mut so stark wie jene, die sich gegen die Kanonen werfen und unter hundert Entbehrungen vorwärtsgehen.


Ich wünsche Ihnen Kraft für die Abwehr jetzt in Paris: möge sich’s nur nicht Ihnen mit Ekel vermengen, feindselig sein zu müssen gegen niedere Gesinnung und vergiftete Worte. Ich danke Ihnen mit mehr Liebe für jede Ihrer Taten als jene alle Haß haben. Und vielleicht ist dies Ihnen schon ein Geringes!


Treulichst ergeben
Ihr Stefan Zweig


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An Romain Rolland


Wien, 23. III. 1915


Mein lieber und verehrter Freund, Ihren Brief vom 20. (Antwort auf meinen eiligen vom 17.) habe ich erhalten. Lassen Sie mich nun aus meinem Brief vom 12. März Eines noch wiederholen: den Dank. Sie haben mir viel geholfen in dieser Zeit. Nicht, daß ich umgefallen wäre und aufgerichtet werden müßte, aber gerade das Gleiche, was Sie sagten, habe ich empfunden, Einsamkeit und Widerstand, die eigene Wachheit schmerzlich im Taumel der andern. Ein Wort, ein einziges, kann da erlösen in dem Sinn wie ein Ton, ein einziger, eine Dissonanz auflöst; nichts als dies, das Bewußtsein, daß man in einer hohem Harmonie mit den teuersten Menschen ist, kann den beseligenden Umschwung des ganzen Gefühles bringen. Diese Zeit bindet ja enger, die Lauten schreien zusammen, die Leisen schweigen zusammen, aber es ist Bindung und Bruderschaft allen nötig, den Weisen wie den Toren. Jetzt einsam zu sein, wäre ärger wie jemals. Drum Dank, Dank für jedes Ihrer Worte!


Ich las Verhaerens Worte im »Temps« und den »Annales«, unsere Zeitungen haben sie reproduziert. Ich las die Stelle, wo er mich öffentlich verleugnet (»ich habe dort Freunde gehabt, jetzt sage ich mich von allen los«) und las sie ohne Schmerz. Wenn er wahrhaft so fühlt, daß er jeden einzelnen Menschen, der deutsche Sprache spricht, als seinen Feind empfindet, dann war die Beziehung zwischen ihm und mir ja gelöst nicht nur aus nationaler sondern auch aus menschlicher Dissonanz. Sie wissen, wie sehr ich ihn geliebt habe, – wie einen Vater, wie einen Meister – und doch kann ich jetzt nicht trauern, weil ich überhaupt nicht fähig bin, persönliches eigenes Leiden jetzt so stark zu empfinden in dieser Zeit des Mitleidens für Alle und mit Allen. Ich sage mir es immer wieder: Tausende Mütter verlieren ihre Kinder, tausende Kinder ihren Vater, darf ich da klagen, wenn dieser Krieg mir einen Freund nimmt? Ich habe innerlich redlich das Bewußtsein, nichts mit einem Wort, nichts mit einem Gedanken gegen ihn verschuldet zu haben und fühle mich darum frei in diesem Abschied und ohne jede Bitterkeit. Das Schicksal, persönlich für eine Rasse gehaßt zu werden, hat mich mein jüdisches Blut seit Jahren lächelnd ertragen gelehrt, ich werde es nun auch mit dem andern Sinn meines Wesens, als Deutscher, geruhig tragen. Und seltsam, gerade in der Vehemenz seiner Äußerungen – die jene der ärgsten Boulevardschreier an Unverstand übertrifft – spüre ich einen tiefen Schmerz, eine Verzweiflung, die ich ehre und achte, so sehr ich die Äußerungen selbst verächtlich finde (es kostet mich viel, bei meiner Ehrfurcht für ihn, das Wort niederzuschreiben). Ich sage Ihnen dies alles, mein lieber und verehrter Freund, aus innerem Bedürfnis und nicht etwa mit der geheimen Absicht, Sie möchten zwischen ihm und mir eine Verständigung suchen. Vielleicht wäre er geneigt, mir eine Ausnahmestellung zu bewilligen, aber ich lehne das ab, so wie ich als Jude immer Begnadigungen und Vergünstigungen ablehnte. Ich weiß nur, wenn er ehrlich bleibt (denn auch seine Leidenschaft jetzt ist ehrlich) so wird er später sich im Unrecht fühlen müssen: ich sicherlich nicht, weil ich geschwiegen habe. (So sehr man mich auch hier zur Antwort drängte. Aber ich lasse mich nicht drängen.


Sonst geht mein Leben hier ruhigen, ernsten Gang. Ich habe viel Arbeit zu tun, das ist gut. Ich sehe wenige Menschen und das ist auch gut. Nächstens sende ich Ihnen einen Artikel, den ich veröffentlichen will, er gilt dem Leiden der Polen und Juden: ich lasse ihn am Ostertage wahrscheinlich erscheinen. Pläne habe ich viele und viel Drang zur Arbeit, all das werde ich nachher tun und ich fühle mein Blut schon erregt im Vorgefühl all des Vielen, das zu tun sein wird. Ich zähle sehr auf Ihre Hilfe und Sie können auf mich zählen, was immer mir Ihr Wunsch auferlegen wird. Wie denken Sie über jenes Buch der menschlichen Documente aus dem Krieg? Es müßte auch geschaffen sein. Aber all das ist ja noch weit, jetzt müssen wir nur im Feuer der Tage die Seele ganz rein glühen lassen und ihr die Wärme geben, die dann Liebe schafft. Immer muß ich an den armen toten Van der Stappen denken, wie er mir Jahr um Jahr von dem großen Monument erzählt »La bonté éternelle« das er schaffen wollte als sein Lebenswerk und wie er mir klagte, er sei doch schon zu alt. In der Jugend schon müsse man beginnen, an diesem Denkmal zu bauen und Tag und Tag nur daran denken. Er ist gestorben, ohne es zu vollenden: das war mir immer eine Mahnung, keinen Tag zu verlieren. Auch wir sind Arbeiter an diesem ewigen Denkmal. Ich grüße Sie in Liebe und Treue!


Ihr Stefan Zweig


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An Romain Rolland


23. VI. 15.


Mein lieber und verehrter Freund, ich will Ihnen heute ausführlich schreiben und aufrichtigst. Die Liebe, die ich für Sie und Ihr Werk fühle, darf nicht schweigen, wenn sie einmal sich wehren will. Ich glaube, auch der Geringste hat ein Recht, dem Besten entgegenzusprechen, wenn er diesen Besten im Irrtum sieht. Wenn wir beide uns schreiben, so ist es nicht um Politik zu treiben, nicht um einer den andern zu seinen Überzeugungen zu bekehren, sondern aufzuklären und gegenseitig uns falsche Leidenschaftlichkeit zu nehmen. Wir haben ja beide nur einen Willen, den zur Gerechtigkeit.


Ich habe Ihren Aufsatz »Le meurtre de l’élite« gelesen und finde: er ist ein Rückfall. Ich verstehe ganz Ihre edle, tiefe Absicht. Sie wollten den Franzosen den Haß gegen den einzelnen Deutschen nehmen, aber um überhaupt ihnen Zutrauen zu Ihrem Wort zu geben, haben Sie Concessionen gemacht, Sie haben den allgemeinen menschlichen Standpunkt, den Sie (wie herrlich!) sich erobert hatten, wieder aufgegeben und parteiisch gesprochen. Ihr Artikel ist nicht für die Welt geschrieben sondern für Franzosen, Sie haben die Wahrheit, die Sie ihnen vermitteln wollten – die edle schöne zwingende Wahrheit des Allmenschlichen unter allen Fahnen und Standarten – in ein buntes grelles Papier mit den Farben der Tricolore eingewickelt. Sie wissen, mein ganzer Wille geht nach Objektivität und, so wie ich jedem dankbar bin, der mir zeigt, wo ich mich vom Gefühl hinreißen ließ, so fordere ich es von jedem, der gleiches will, daß er die Gegenstimme willig hört.


Sie sagen zwei Dinge, Romain Rolland, dem Leser oder besser: dem Franzosen, die er gerne hört und die Sie nie erweisen können. Das erste: die deutsche Regierung habe den Krieg gewollt. Ich will nicht in Einzelheiten eingehen, sondern nur Sie an die Vernunftfrage erinnern: will ein Volk einen Krieg gegen die drei größten Staaten der Welt, kann eine Regierung in solchem Augenblick einen Krieg wollen? Und war Frankreich ganz friedliebend? Was lag in den Buchhandlungen seit Jahrzehnten? Schriften der Revanche und des Krieges! Ich glaube, Schuld auf einen Staat zu wälzen, ist einem Objektiven nicht gestattet und Sie dementieren sich selbst. Ihre eignen Worte in einem früheren Essay, wo Sie allen die Schuld gaben und keinem. Ich kann nur bezeugen, was ich erlebte. Wir in Österreich haben die panrussische Agitation gesehen, mit Augen gesehen und ich selbst habe in Paris dutzendemal (auch in der Kammer) die Revanche predigen gehört. Dennoch würde ich nie ein ganzes Volk, eine Regierung allein anschuldigen. – und das haben Sie, Romain Rolland, diesmal getan.


Und zweitens: Sie haben den Mut, die Begeisterung für die gerechte Sache in Frankreich der Disciplin in Deutschland gegenübergestellt. Auch das ist unrichtig. Das Hüben und Drüben ist nicht in Begriffe zu fassen und ein Volk, das zwei Millionen Kriegsfreiwillige gestellt hat, hat seine Begeisterung damit (und nicht zuletzt durch seine gigantische Leistung) gezeigt. Ich zweifle nicht an dem Elan in Frankreich, obwohl die fortgesetzten Parlamentsdebatten über Maßregeln gegen die »embusqués« ebenso ausgenutzt werden könnten wie ein Brief oder ein Gedicht eines Einzelnen, ich glaube, daß kein Volk auf Kosten eines andern gelobt werden solle. Es hat jedes ein Anrecht auf Ruhm schon allein durch sein Leiden, durch seine Toten.


Wozu also, Romain Rolland, dies Gegenüberstellen? Ist es nicht genug schon, daß die Völker sich in Waffen gegenüberstehen, müssen sie noch von den Besten in ihrem geistigen Sein gegeneinander gemessen werden? Ich wiederhole Ihnen, lieber verehrter Freund, daß ich den vornehmen Sinn, in dem der Essay geschrieben war, verstehe, aber Sie erzielen vielleicht eine Gegenwirkung, wenn Sie die Einzelnen gegen das ganze Deutschland stellen. Es wäre so, wie wenn man sagte: wie herrlich, wie gerecht ist Frankreich, es hat einen Menschen von der Objektivität Romain Rollands, der unter all den Millionen der einzig Vernünftige ist. Wäre Ihnen ein solches Lob nicht entsetzlich? Wäre Ihnen – aufrichtigst! – nicht lieber, man würde Ihr Tun und Schaffen mißachten und verneinen, während man das ganze Land, die einige Nation rühmt? Ich glaube, lieber verehrter Freund, man sollte nationale Massen-Psychologie jetzt lassen: der Elan ist nicht ein ebenmäßiges Gefühl, sondern ein sprunghaftes. Ich habe die Stimmungen hier und überall rapid wechseln sehn, im Einzelnen wie im Ganzen, und deshalb ist die Einzelmanifestation – ein Brief etwa – so authentisch sie ist, oft im höheren Sinn eine Fälschung, ein falsches Zeugnis. Und einzelne Briefe, aus Aufwallungen der Müdigkeit, des Hasses, oft rein physischer Ermattung geschrieben, bezeugen nichts und sollten in diesem Sinn von einem Gerechten nie verwertet werden. Ich glaube überhaupt, wir, die wir nicht inmitten der kämpfenden Armee stehen, sollten Uns jeder Urteile über ihre Fähigkeiten und ihren Geist enthalten, denn wir sind auf Impressionen Anderer angewiesen, von denen jeder nur durch seine eigenen Augen sieht.


Lieber verehrter Freund, ich glaubte Ihnen dies schreiben zu müssen. Sie haben mir viel, unendlich viel geholfen in dieser Zeit, mein inneres Gleichgewicht zu erhalten, – so muß ich gegen Sie dankbar sein durch Aufrichtigkeit und Ihnen sagen, wo Sie gegen Ihren eigenen innersten Willen nachgiebig geworden sind. Wir unterliegen alle jetzt, mehr als wir es wissen, Strömungen der Zeit und der Stunde, die uns von dem Ziel – Europa – oft gewaltsam wegtreiben. Aber wir müssen uns gegenseitig immer anrufen und die Richtung weisen, damit wir das Ziel nicht verlieren und beisammen bleiben in diesem unsichtbaren brüderlichen Verband der Weltliebe und Zuversicht. Ich hoffe Sie entgelten nicht diese aufrichtigen Worte Ihrem immer getreuen und in seiner Liebe unentwegtem


Stefan Zweig


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An Romain Rolland


VIII. Kochgasse 8 Wien,


28. Juli 1915


Lieber verehrter Freund, ich komme eben aus Galizien, wo ich zu dienstlicher Reise hart bis an die Front kam und Unendliches gesehen habe. Ich kann Ihnen nichts Näheres schreiben, aber nur dies: daß jeder, der Urteile von ferne abgibt, aus Stuben und Redaktionen, ein Unwissender und selbst bei bester Absicht ein Ungerechter ist. Die Wahrheit duldet keine Zwischenträger, nur ins offene Auge strömt sie ein und jedes Wort, das geschriebene wie das gesprochene ist schon Verwandlung und Verfälschung. Ich habe viel gesehen, Niederdrückendes und Tröstendes – eine Nacht in einem Lazarettzug hat mir die Welt des Leidens noch weiter aufgetan als je. Und ich bin dem Geschick dankbar, das mich einmal nahe sein ließ und es mir leichter macht, gerecht zu sein.


Ihren Entschluß des Schweigens muß ich ehren, lieber teurer Freund, so sehr Ihre Stimme der Welt auch fehlen wird. Aber auch ich habe resigniert: das Mißverstehen ist jetzt stärker als der Wille zur Verständigung. Aber aus dem Felde bringe ich Ihnen die eine, die gewaltige Tröstung: nach dem Kriege wird anders gesprochen werden. Jetzt reden in den Zeitungen die, die fern geblieben sind, dann aber werden jene sprechen, die erlebt haben. Diese schweigen jetzt, aber sie sehen, sie dulden und sehen Leistung und Leiden des Gegners. Diese Menschen werden nachsichtig und gütig sein, die Blut strömen sahen. Tinte ist ein billiger Saft, sie läßt sich leicht verströmen. Darum hat mich ein Buch wie das Verhaerens »La Belgique sanglante« nicht tief getroffen. Ich bedauere es nur. Die Vorrede hat mich sogar ergriffen, sie ist eine Art Entschuldigung, sie schiebt das Buch von der Verantwortlichkeit gegen die Ewigkeit zurück in die Zeit. Aber wie peinlich, daß gleich der erste Satz des ganzen Buches eine Lüge ist. Der erste Satz: Kaiser Wilhelm habe geschworen, in Nancy, Calais, Paris einzuziehen. Nie hat (außer vielleicht in den Lügenfabriken des Matin) der Kaiser einen solchen Eid gesprochen. Es wird der große Ruhm Deutschlands in diesen Tagen sein, mehr geleistet als versprochen zu haben. Wie traurig nun, daß eine Unwahrheit – und einem jeden Menschen bewußte Unwahrheit – der erste Satz eines Buches von Verhaeren ist. Wie wird er es dereinst bedauern, daß er das Opfer von Zeitungslügen war, er, der die Zeitung und die Lüge einhellig haßte. Oh, ich habe selbst gesehen jetzt oben in Galizien, wie man siebenfach jedes Zeugnis von Flüchtlingen und angeblichen Augenzeugen wenden muß und vor allem dies, daß die Wahrheit in solchen Zeiten nicht flach auf der Hand liegt, sondern daß man sich zu ihr graben muß durch allen auf sie gehäuften Schutt von Lüge und Entstellung wie zu allen andern kostbaren Produkten der Erde. Man müßte allen, die jetzt für die Welt schreiben, Goldwaagen geben für jedes Wort, daß sie es abwägen und prüfen, ehe sie es weitergeben, damit die Menschheit nicht betrogen sei. Nie war es gefährlicher leichtfertig zu sein, für den Feldherrn, den Arzt, den Richter aber auch den Schriftsteller, als jetzt. Oh, Romain Rolland, wie habe ich draußen das alles gelernt. Drei Tage, drei Wochen in jener Welt sagen mehr als 1000 Bücher und Broschüren. […]


Leben Sie wohl, lieber teurer Freund und senden Sie bald Botschaft Ihrem immer (und über allen Schein) getreuen


Stefan Zweig


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An Romain Rolland


8. Februar 1916


Lieber verehrter Freund, Ihren fünfzigsten Geburtstag habe ich in stillen, lebhaften Gedenken an Sie verbracht. Ursprünglich wollte ich öffentlich von Ihnen sprechen, aber ich fühlte mich gehemmt durch Rücksichtnahmen und mein Dank an Sie ist innerlich so stark und strömend, daß ich gerade an solchem Tage und in solcher Zeit ihn lieber in mich verschließen wollte, statt ihn gehemmt zu sagen. Ich habe so sehr den Sinn dieser Lebenswende für Sie, für Uns gespürt. Jetzt sind Sie den Lehrjahren entwachsen, nun kommen die der ernsten Meisterschaft. Nun müssen Sie Führer, Lehrer, Meister sein! Wie wundervoll sind Sie es gewesen schon, wie sehr hat die innere Autorität der Jahre, die äußere des Erfolgs Ihren Worten, Ihren Überzeugungen Kraft gegeben. Die ganze gesammelte Fülle einer ernsten Reihe von Jahren, mit einemmal war dies Fließende, (das Sie selbst manchmal vielleicht schon verflossen meinten) gleichsam in Crystall gebannt, unverletzlich rein und ich spürte, wie an dieser Makellosigkeit Ihres Wesens alle Angriffe zerschellten. Dieses eine Jahr war nur so schon möglich durch die dreißig der Arbeit, die Ihren Namen aufbauten und ihn Freunden und Schülern zum Wahrzeichen machten, zum Magnet, der ihren Willen zum ewigen Pole des Lebens wies.


Ich wollte Ihnen an jenem Tage schreiben. Ich konnte es nicht. Es war damals keine Stille um mich. Und ich kam zu Ihnen, wollte kommen mit dem besten Wunsch für Sie – mit einer Bitte. Einer Bitte, die vielleicht kindisch klingt, aber sie ist aufrichtig und die beste: altern Sie nicht, enttäuschen Sie mich nicht! Das Schmerzlichste, was ich erlebte, war in großen Menschen, die ich liebte und nahe kannte, die Haltung, das ethische Rückgrat sich beugen sehn, zu erleben, wie sie Diener des Geldes wurden, Knechte der Eitelkeit, Affen ihrer eigenen Gebärde; Sie sind groß und gütig und verstehen mich sicher richtig. Ich denke an Rodin, wie das Alter ihn weich gemacht und widerstandslos gegen Vieles, ich denke an Verhaeren, der mir das reinste Vorbild meiner besten Jahre war und den ich (noch vor dem Kriege) Concessionen machen sah der Gefälligkeit, der Schwäche, dem eigenen Spiegelbild (obwohl er innerlich immer für mich ein Herrlicher bleibt). Und ich denke an Flaubert und Tolstoi, die großen Einsamen, die erhaben blieben bis zur letzten Stunde, weil sie sich wehrten.


Sie sind jetzt, Romain Rolland, auf jenem hohen Grad des Ruhmes, wo der Wind scharf weht und die Tiefe geheimnisvoll verlockt. Ich weiß keinen Menschen, dessen ich so sicher wäre, daß er aufrecht bleiben will bis zuletzt, als Sie, und gerade darum spreche ich so offen zu Ihnen. Vielleicht wird sich nach dem Kriege Vieles um Sie sammeln wollen, Vieles Sie an die Spitze stellen wollen, vielleicht wird gerade das officielle Frankreich, das Sie heute verleugnet, nach Ihrem makellosen Namen Verlangen haben und ich bitte Sie heute – und bitte Sie für Jahre und Jahre – weigern Sie sich allem, was Sie nicht sind. Sie sind ein so notwendiges Beispiel eines unerschütterlichen Menschen in Unserer weich wesenhaften Welt, sind es so wunderbar in schwerster Zeit gewesen, daß Ihre Pflicht ist, es zu bleiben. So sehr ich Ihr Werk bewundere, noch mehr, noch einziger sind Sie uns als Persönlichkeit und mein Wunsch, meine innigste Bitte an Ihre kommenden Jahre ist, daß Sie es so bleiben mögen. Ich habe so gelitten, als ich den glühendsten Verkünder der menschlichen Güte, Verhaeren, im sechzigsten Jahr mit der Axt des Hasses den blühenden so schön gereiften Baum seines Werks niederschlagen sah, daß ich zu Ihnen, der aufrecht geblieben, wirklich wie ein Bittsteller komme, Sie wenigstens möchten sich und Ihr Werk immer so bewahren, wie Sie es uns zu lieben gelehrt haben.


Seltsam mag dies sein als Geburtstagswunsch zu einer Lebenswende. Aber ich weiß, zu wem ich rede und eben weil ich für Sie nicht fürchte, sage ich’s offen und klar. Ich fürchte nur die geheime Verschwörung gegen jeden Künstler und Menschen, die der immer stärkere Erfolg mit dem immer schwächeren Gegenwillen des Alternden schließt. – ich weiß fast keinen Künstler Unserer Zeit, der nicht zum Teil dieser Doppelwirkung des Außen und Innen erlegen. Sie sind derjenige, von dem ich mir den stärksten Widerstand gegen dies gefährliche Gesetz der Natur erwarte – noch hab ich nie ein Zeichen der Schwäche in Ihrem Charakter gesehen und eben darum mahne ich Sie, es zu bleiben. Sie sind uns notwendig auf Jahre und Jahre als ebender, der Sie heute sind, bleiben Sie es Uns und denen, die hinter Uns kommen! Ich wünsche es Ihnen, wünsche es mir und der Zeit!


Nur dies wollte ich Ihnen heute sagen. Ein Wort ganz Ihnen und für Sie allein. Sonst fühlt man sich ja jetzt dem Einzelnen nichts zu, Alles löst sich in allgemeinen Leiden und Mitleiden. Ich weiß kein Wort mehr, das auszudrücken, was ich empfinde: immer unverständlicher wird mir das Geschehen von Tag zu Tag, immer mehr sehe ich’s elementar, unbegreiflich, mystisch. Davon zu sprechen, es zu erklären, zu tadeln wird sinnlos – nur innen lernt man das Dulden ohne Hoffnung, die stille verhaltene Qual des ohnmächtigen Mitleidens. Der Tag Ihres einsamen Festes war frohe Ablenkung für mich: ich nahm den Jean Christoph und suchte Ihre Stimme daraus zu hören. Und ich hörte sie, wie durch Musik, manchmal und gedachte Ihrer sehr in Liebe und verehrender Freundschaft.


Treulichst


Ihr Stefan Zweig


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An Romain Rolland


Salzburg, Kapuzinerberg 5


8. Febr. 1921


Mein lieber und verehrter Freund, ich schreibe Ihnen heute deutsch, weil ich nicht weiß, ob ich alles, was ich sagen will, genug klar ausdrücken kann. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen unsere intellectuelle Situation zu schildern. Denn der jetzige Augenblick ist ein kritischer.


Meine Beziehung zu den meisten deutschen Menschen beginnt jetzt wieder peinlich zu werden. Menschen, die schon ganz klar fühlten, die sogar diese Klarheit in Worten zum Ausdruck brachten, ziehen sich mit einem mal zurück: Deutschland hat nur einen Gedanken jetzt – und dieser Gedanke drückt sich in allen seinen Menschen aus –: nicht mehr aufrichtig zu sein. Ganz Deutschland arbeitet jetzt an einer Lüge, an einer neuen Legende: Der Kaiser, Ludendorff werden jetzt plötzlich große Persönlichkeiten, der Krieg eine heilige Sache. Alles ist vergessen: die Jugend glüht vor Haß, fiebert nach Krieg, die Professoren, die bestürzt über ihre eigene Dummheit ein wenig geschwiegen hatten, blasen wieder in die teutonischen Hörner.


Der wildeste Wahn ist wieder wach.


Nie waren wir mehr isoliert als jetzt. In den schlimmsten Tagen des Krieges hatten wir Verbündete, vor allem das Leiden des Volkes, das jedes Wort des Friedens im geheimen segnete, wir hatten die Wirklichkeit des Krieges als Gegner, gegen den man kämpfen konnte. Aber schon entsteht wieder das Phantom des Krieges, herrlich idealisiert als Krieg der Rache und der Gerechtigkeit – wie gegen Wahnbilder kämpfen? Was wir sagten, ist vergeblich gegen eine Mentalität, die nicht hören will und die gegen unsere heiligsten Bemühungen das Argument hat: seht, wie die Feinde den Frieden verstehen.


Diese Lüge ist das Schlimmste in der Tat, was Frankreich und England an Deutschland getan haben. Der Hunger traf nur den Leib, – das Rachegelüst, das sich in den letzten französischen Beschlüssen kund tut und auf 42 Jahre von ungeborenen Kindern noch Sclavenarbeit verlangt, hat die deutsche Seele vergiftet. Wir, Sie und ich leben unter Rasenden, unter Wahnsinnigen. Die Deutschen lügen sich aus Verzweiflung jetzt selbst an – wahr ist in ihnen nur der rasende Haß.


Und, lieber verehrter Freund, wie entsetzlich – ich verstehe diesen Haß! Ich teile ihn selbstverständlich nicht, ich weiß ja, daß es ein »Volk«, eine »Nation« gar nicht gibt, sondern nur Menschen. Aber wie das den Leuten erklären daß es Franzosen gibt, die das Quälerische, das Erpresserische mißbilligen, wie ihnen das Schweigen des französischen Parlaments (das für sie das Volk darstellt) glaubhaft machen? Die Leute haben ja Recht, wenn sie sagen, daß Artaxerxes und Timur nie einen so grausamen Frieden geschlossen haben, daß Bismarck, den man als einen Gewalttätigen verschrien; eine sentimentale Jungfrau war gegen diese Herren des Rechtes. Und mit Entsetzen sehe ich, daß gerade dadurch, daß Frankreich den Tribut auf ein halbes Jahrhundert erstreckt, daß noch in 42 Jahren Salz in die deutsche Wunde gestreut werden soll, die Revanche unvermeidlich sein wird. Wenn Wunden heilen sollen, muß man ihnen Zeit lassen, sich zu schließen.


Nie habe ich die moralische Atmosphäre giftiger und erstickender empfunden als jetzt, nie unsere Einsamkeit hilfloser, unser Wort sinnloser. Vom Zustand der deutschen Lüge (die jetzt den Krieg als Pflicht von neuem feiert) machen Sie sich keinen Begriff. Die ganze Jugend ist vergiftet, alle Zeitungen, selbst jene, die von Stinnes noch nicht gekauft sind, dem Wahn verfallen. Aber ich wiederhole: das Volk ist in die Sackgasse dieses ziellosen Hasses hineingetrieben worden. Und – offen gesagt – ich weiß keinen Ausweg für sie. Und doch sind wir irgendwie verantwortlich, ihnen eine Tröstung zu geben. Das Moskauer Zaubertränklein ist ja billig und leicht zu verabreichen – aber wir sind ja Seelenärzte genug, um zu wissen, das diese Arznei sofort wieder zum Gifte wird.


Was tun? Zu Menschen sprechen, die sich den Finger in die Ohren stopfen und laut brüllen, um nicht denken zu müssen? Oder öffentlich protestieren? Unsere Proteste sind so wertlos wie österreichische Banknoten. Oder warten, bis der Wahn vorbei ist? Das ginge, würde nicht 42 Jahre, Jahr für Jahr die Wunde aufgerissen. Ich und Sie, wir haben keine 42 wachen Jahre mehr! Es ist entsetzlich für uns in Deutschland, gerade die Jugend und immer wieder die neue Jugend gegen sich zu haben – zu sehen, daß die, die für uns nur gegen den Krieg zeugen könnten, daß die Kriegsteilnehmer und Invaliden aus Haß lügen und für den Krieg und gegen uns zeugen. Wahr ist der Tribut durch 42 Jahre und was kann dieses unser Wort gegen jene Wahrheit!


Glauben Sie nicht, ich sei müde oder feig geworden vor der Übermacht. Ich frage mich nur: wie dieser Lüge, in der doch eine Wahrheit die treibende Kraft ist, entgegentreten? Können wir von Deutschland aus überhaupt noch etwas tun, ich meine, etwas positives, denn unsere Gesinnung ist ja ein esoterischer Wert? Ach, wenn Sie wüßten, wie widerlich mir diese Teutschen Teutonen mit ihrem Kriegsgeheul sind (ich weiß, es ist auch Heulen, weil sie Steuern zahlen sollen) und wie ich doch diese mißleiteten und enttäuschten Menschen, dies in die Knie gedrückte Volk bemitleide!


Wie compliciert ist all dies geworden! Und wie einfach haben wir uns alles gedacht. Wir meinten, beim Sieger würde Begeisterung, beim Besiegten Ekel vor dem Krieg sein. Und es ist umgekehrt! Wirklich, man soll kein Ziel stellen für sein Wirken, sondern nur rein wirken, gerade aus sich heraus: vielleicht hilft man den andern nur, wenn man sich selbst hilft.


Ich muß Ihnen einmal dies Alles schildern – ich könnte Tage davon erzählen! Ein Buch über die Desbordes-Valmore (aus 1914 Pariser Tagen) sende ich gleichzeitig mit. Über meine Biographie sind schon viel Aufsätze erschienen. Mit vielen Grüßen


Ihr getreuer Stefan Zweig


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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.