An Joseph Roth


(undatiert; vermutlich Mai 1934)


[…] Ich habe hier noch einmal zu lernen angefangen wie ein Gymnasiast. Ich bin noch einmal wieder unsicher geworden und neugierig. Auch eine junge Frau ist mir hier gut, mir dem Dreiundfünfzigjährigen! So ist ein Buch wie das Ihre vielleicht eine Lehre für mich, nicht das Bittere dieser Welt zu vergessen. Mein politischer Pessimismus ist maßlos. Ich glaube an den nahen Krieg wie andere an Gott. Aber gerade weil ich an ihn glaube, lebe ich jetzt stärker. Ich klammere mich an das letzte Stück Freiheit, das wir noch genießen. Ich sage mir jeden Morgen ein Dankgebet, daß ich frei, daß ich in England bin. Denken Sie sich mein Glück, ich fühle mich in einer solchen Irrsinnszeit stark genug, noch andere moralisch aufzurichten. Darum drückt es mich so, daß Sie jetzt nicht hier sind, wer weiß, wielange diese Kraft in mir anhält, die, ich wiederhole es, nicht aus einer stupiden Unbewußtheit kommt, sondern aus einem luciden Erkennen der Brüchigkeit unserer Existenz. Wir müssen das »Trotzdem« zum Leitwort unseres Lebens machen: »die Menschen kennen und dennoch lieben« wie Rolland unvergeßlich gesagt hat.


Ich umarme Sie, lieber Freund. Und ich leide darunter, daß Sie so weit sind. Das letzte Mal habe ich, ganz unter dem Druck der schweren Erlebnisse – ich sagte es Ihnen nicht: man hatte bei uns zwei Tage vorher eine Hausdurchsuchung in Salzburg gemacht nach Waffen des Schutzbundes (!!!) bis in meinen Wäscheschrank, und ich hatte die Kraft, diese maßlose Beschimpfung und Mißachtung in einer Stadt, wo ich 15 Jahre lebte, vor Euch allen zu verschweigen, und Gottseidank kam es in keine Zeitung, man jagte mich mit Spitzelberichten wie einen Verbrecher – all das lastete auf mir, ich war, als ich mit Ihnen in Paris sprach von diesem Verschweigen, vor Scham (über die andern) ganz verstört. Aber ich möchte Sie doch sehen jetzt, wo ich wieder gefaßt bin und beinahe froh.


Mein »Erasmus« kommt in 14 Tagen zu Ihnen. Ich glaube, es ist ein anständiges Buch (für wenige geschrieben, nur für die, die sich auf Zwischentöne verstehen.)


Also nochmals: Dank und Liebe


Ihr S.


Im August gehe ich wahrscheinlich nach Österreich, einiges ordnen. Aber Salzb. ist für mich abgetan, ich gehe nach Südamerika oder Nordamerika zu Vorlesungen im Herbst. Ich habe wieder Hunger nach Ferne und den Wunsch, diese Welt noch einmal rund zu sehen, ehe sie zusammenkracht.


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An Joseph Roth


49 Hallam Street, London W 1


31. März 1936


Lieber Freund!


Ich sehe, Sie sind mir unbewußt böse, daß ich Ihnen keinen vernünftigen Rat gebe. Sie haben das Gefühl, daß ich Sie nicht verstehe oder das Schwierige Ihrer Situation nicht begreife. Aber liebster Freund, dies ist ja das Unglück, daß ich diese Situation nicht jetzt begreife, sondern wie alle Ihre Freunde schon im voraus seit zwei oder drei Jahren. Alles, was Sie jetzt miterleben, haben wir schon vorauserlebt, Ihre Sorgen vorausgesorgt, und mehr noch, wir spürten im voraus die Leberschmerzen, die Sie von Ihrem Trinken noch haben werden, und die Bitterkeit, die Sie unvermeidlich gegen uns wenden werden. Man mußte kein Prophet sein, um das alles zu sehen. Lieber Freund, wenn Sie wirklich klarsehen wollen, so müssen Sie erkennen, es gibt keine Rettung für Sie als ein vollkommen zurückgezogenes Leben irgendwo an dem billigst möglichen Ort. Nicht mehr Paris, nicht mehr Foyot, überhaupt keine Großstadt, ein freiwilliges Kloster. Sie sahen ja unser Entsetzen, als Sie mit dem Doppelten und Dreifachen dessen nicht auskamen, was Sie jetzt haben werden, und irgendeine geheime Ahnung tröstet mich, Sie würden sich im Grunde viel wohler fühlen, wenn Sie einmal von Paris weg sind und ganz in der Zurückgezogenheit leben, wenn Sie überhaupt die entscheidende Umstellung vollzogen haben werden, die Sie nicht freiwillig vornehmen wollten. Bitte nehmen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, man sei irgendwie hart gegen Sie. Vergessen Sie nicht, daß wir in einem Weltuntergang leben und wir glücklich sein dürfen, wenn wir nur überhaupt diese Zeit überstehen. Klagen Sie nicht die Verleger an, beschuldigen Sie nicht Ihre Freunde, schlagen Sie sich nicht einmal gegen die eigene Brust, sondern haben Sie endlich den Mut, sich einzugestehen, daß, so groß Sie als Dichter sind, Sie im materiellen Sinne ein kleiner armer Jude sind, fast so arm wie sieben Millionen andere, und werden so leben müssen, wie neun Zehntel Menschen dieser Erde, ganz im Kleinen und äußerlich Engen. Dies wäre für mich der einzige Beweis Ihrer Klugheit, daß Sie sich nicht dagegen immer »wehren«, nicht es Unrecht nennen, sich nicht vergleichen, wieviel andere Schriftsteller verdienen, die weniger Talent haben als Sie. Jetzt ist es an Ihnen, das zu erweisen, was Sie Demut nennen. Und wenn Sie mir vorwerfen, ich hielte Sie nicht für klug genug, so antworte ich nur: geben Sie uns die Probe! Seien Sie endlich klug genug, alle diese falschen Begriffe von »Verpflichtung« hinter sich zu werfen. Sie haben nur eine Verpflichtung, anständige Bücher zu schreiben und möglichst wenig zu trinken, um sich uns und sich selber zu erhalten. Ich bitte Sie innigst, vergeuden Sie nicht Ihre Kraft in unnützer Revolte, klagen Sie nicht andere an, biedere Geschäftsleute, die normal und ruhig rechnen, während Sie selber nie zu rechnen wußten. Jetzt oder nie ist für Sie der Augenblick, Ihr Leben entscheidend umzustellen, und vielleicht war es sogar ein Glück, daß Sie eben auf den Punkt gestoßen wurden, wo der alte Weg nicht mehr weiterging und Sie gezwungen sind, umzukehren.


Innigst


Ihr Stefan Zweig


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An Joseph Roth


49, Hallam Street, London W 1


6. April 1936


Lieber Freund!


Sie können mir noch so böse Briefe schreiben, ich werde Ihnen nicht böse sein. Glauben Sie wirklich, daß wenn ich nur den Schatten eines Rates wüßte, ich schweigen oder vorbeireden würde? Vielleicht können Sie aber selbst einen Plan ausbauen und uns vorlegen, wie man Ihnen helfen kann in den begrenzten Möglichkeiten, die uns allen die Zeit auferlegt. Machen Sie es uns leichter, indem Sie selbst klar einen solchen Vorschlag entwickeln. Und schmieren Sie außerdem ohne Rücksicht auf Stil und Kunst ein paar Filmsujets hin, damit man irgendeine Grundlage hat für mögliche Verhandlungen. Berthold Viertel kämpft hier seit zwei Jahren für Ihren »Radetzkymarsch« und hofft ihn doch über kurz oder lang einmal durchzusetzen. Herzlichst


Ihr S.


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An Joseph Roth


25. Sept. 37


Lieber Roth, warum, warum sind Sie gleich gekränkt – wird nicht schon genug auf uns herumgedroschen, als daß wir einander die Zähne zeigen sollten, auch wenn … Ich bin so sehr von meiner Fehlbarkeit durchdrungen, daß ich gegen andere nichts an Kraft des Absprechens aufbringe. Nein, mein Freund, nicht Artikel jetzt – für unsereinen wäre es das Klügste, in Shanghai oder Madrid sich von einer Gasbombe auslöschen zu lassen und damit vielleicht einen Lebensfreudigeren zu retten. Ich war nur 1 ½ Tage in Paris, sah außer Masereel und Ernst Weiß niemanden, nur ein paar wunderbare Bilder, und jetzt geht es an die Arbeit. Dieses Jahr 37 ist ein schlimmes für mich, alles faßt mich mit Teufelsklauen an, die halbe Haut ist abgeschunden, und die Nerven liegen bloß, aber ich arbeite fort, käme auch weiter, wären nicht die familiären und andere Dinge, die mich lähmen und das Doppelte an Energie herauszwingen. Vergessen Sie nie, daß ich 55 Jahre vorbei bin und, da wir doch ununterbrochen Kriegsjahre erleben, manchmal müde – ich flüchtete geradezu herüber, um hier mich an den Schreibtisch zu klammern, unsern einzigen Halt. Und was es für ein Bedürfnis für mich gewesen wäre, mit Ihnen zu sprechen, ahnen Sie nicht, ich habe eben wieder von einem »Freunde« einen Hieb bis hinein in die Gedärme bekommen, und die Galle liegt mir knapp an der Lippe, ich beiße nur die Zähne zu. Es wäre wichtig, einmal ausführlich beisammenzusein, und wenn jetzt nicht das Zusammenspiel der Diktatoren zu dem geplanten concentrischen Angriff gegen Rußland führt (erst die Bolschewisten, dann die Democraten, so wurde es ja auch 33 gemacht), wenn auch nur ein schwindsüchtiger Friede bleibt, dann will ich im Januar einen Monat nach Paris; ich habe das Bedürfnis nach Freunden wie nie, und dort sind noch ein paar, und kämen Sie selbst hin, es wäre herrlich! Man muß wieder einmal intensive Luft im Gespräch atmen, sich steigern und stärken: es ist zuviel, was an uns allen von der Irrsinnszeit verschuldet wird. Toscanini mußte im letzten Augenblick in Gastein bleiben, ich sehe ihn hier; für mich ist immer erschütternd, wie er, der die größten »Erfolge« der Erde hat, statt dies egoistisch zu genießen, an allem leidet, was geschieht – nun, in meinem Roman wird vielleicht etwas über das Leiden am Mitleid gesagt sein. Nein, Roth, nicht hart werden an der Härte der Zeit, das heißt, sie bejahen, sie verstärken! Nicht kämpferisch werden, nicht unerbittlich, weil die Unerbittlichen durch ihre Brutalität triumphieren – sie lieber widerlegen durch das Anderssein, sich höhnen lassen für seine Schwäche, statt seine Natur zu verleugnen. Roth, werden Sie nicht bitter, wir brauchen Sie, denn die Zeit, soviel Blut sie auch säuft, ist doch sehr anämisch an geistiger Kraft. Erhalten Sie sich! Und bleiben wir beisammen, wir wenige!


Ihr St. Z.


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An Joseph Roth


(undatiert; vermutlich Herbst 1937)


Lieber, eben Ihr Brief. Er macht mich traurig. Ich erinnere mich, wie wir einander vordem schrieben: wir erzählten einander unsere Pläne, wir rühmten Freunde und freuten uns unseres Verstehens. Ich weiß jetzt von nichts, was Sie vorhaben, was Sie schaffen; in Italien erzählte man mir von Ihrem andern Roman und hat ihn gelesen, und ich weiß nichts von ihm. Roth, Freund, Bruder – was geht uns der Dreck um uns an! Ich lese einmal in der Woche die Zeitung und habe dann an dem Lügen aller Länder genug, das Einzige, was ich tue, ist, daß ich versuche, hie und da einem Einzelnen zu helfen – nicht materiell, meine ich, sondern auch Leuten herauszuhelfen aus Deutschland oder in Rußland oder sonst in Nöten: vielleicht ist das die einzige Art, in der ich activ zu sein vermag. Ich widerspreche nicht, wenn Sie mir sagen, daß ich flüchte. Wenn man Entscheidungen nicht durchkämpfen kann, soll man vor ihnen davonlaufen – Sie vergessen, Sie, mein Freund, daß ich mein Problem im »Erasmus« öffentlich gestellt habe und nur eines verteidige, die Unantastbarkeit der individuellen Freiheit. Ich verstecke mich nicht, schließlich ist der »Erasmus«, in dem ich auch die sogenannte Feigheit einer concilianten Natur darstelle, ohne sie zu rühmen, ohne sie zu verteidigen – als Faktum, als Schicksal. Und ebenso der »Castellio« – das Bild des Mannes, der ich sein möchte.


Nein, Roth, ich war nie eine Sekunde einem wahren Freunde untreu. Wenn ich Toscanini sehen wollte, so weil ich ihn ehre, weil man mit einem 72jährigen Menschen jede Gelegenheit nutzen muß, und ich habe ihn ja dann gar nicht gesehen (das überlasen Sie in meinem Brief), weil ich fort mußte, Amsterdam lag ab von meinem Weg, und ich wußte gar nicht, ob Sie in A. oder in Utrecht seien. Roth, wie wenige sind wir, und Sie wissen, so sehr Sie Sich gegen mich wehren, daß kaum irgend jemand so sehr an Ihnen hängt – wie ich, daß ich alle Ihre Erbitterungen ohne Gegenerbitterung fühle: es hilft Ihnen nichts. Sie können gegen mich tun, was Sie wollen, mich privat, mich öffentlich herabsetzen oder befeinden, Sie kommen doch nicht davon los, daß ich eine unglückliche Liebe zu Ihnen habe, eine Liebe, die an Ihrem Leiden leidet, an Ihrem Haß sich kränkt. Wehren Sie sich nur, es hilft Ihnen nichts! Roth, Freund, ich weiß, daß Sie es furchtbar schwer haben, und das genügt mir, um Sie noch mehr zu lieben, und wenn Sie böse, gereizt, voll unterirdischer Ressentiments gegen mich sind, so spüre ich nur, daß das Leben Sie quält und Sie aus richtigem Instinct gegen den schlagen, gegen den Einzigen vielleicht, der es Ihnen nicht übelnimmt, der gegen alles und alle Ihnen treu bleibt. Es hilft Ihnen nichts, Roth. Sie können mich nicht abbringen von Joseph Roth. Es hilft Ihnen nichts!


Ihr St. Z.


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An Joseph Roth


17. Oct. 1937


Lieber Unfreund, ich will Ihnen nur sagen, daß ich endlich dank Barthold Fles, den ich gestern sah, etwas über Ihre Arbeit weiß und mich riesig freue, daß Sie so hartnäckig am Werke sind: ich weiß, daß Ihnen die beiden Bücher gelingen werden. Er erzählte mir, daß Sie eine Einladung nach Mexico hätten, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig das meiner Meinung nach für Sie wäre, einmal Klima, Ort, Umwelt zu wechseln, neu sich aufzufüllen, und wie wunderbar würden Sie eine solche neue Welt darstellen – so etwas muß auch, ich sagte es Fles, leicht zu finanzieren sein. Der Verwesungsgeruch Europas steckt uns allen in der Nase: ein wenig Luft von außen, und Sie wären, Sie lieber, Sie wichtiger Freund, von der Seele her erfrischt. Ich freue mich, daß Sie wenigstens in Paris sind – vergessen Sie nicht in der Ausstellung den literarischen Pavillon (»ébauche d’un musée de littérature« anzusehen, der stärkste Eindruck der ganzen Ausstellung für mich). Ich habe gestern die erste Form meines Romans fertiggemacht, 400 Seiten, natürlich eine ganz unzulängliche Skizze, die eigentliche Arbeit beginnt jetzt erst, und wie wichtig wäre es für mich, mich mit Ihnen zu beraten! Aber nach London wollen Sie ja nicht (obwohl es wichtig wäre), und ich muß jetzt einmal stillsitzen bis Dezembermitte, dann will ich auf 14 Tage nach Wien und vielleicht einen Monat nach Paris. Wann sehen wir einander? Sie kennen jetzt alle meine Pläne. Nächster Tage bekommen Sie von mir die zwei Bücher, die Sammlung meiner »Essays« und den »Magellan«. Ich habe die letzten Jahre wirklich gearbeitet und herausgeholt, was zu holen war an Kraft und Quantum; möge die qualitas keine zu schlechte sein! Dies nur ein Gruß ins Foyot, und vergessen Sie nicht Ihren unglücklichen Liebhaber und abgelegten Freund


St. Z.


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An Joseph Roth


49, Hallam Street, London W1


(undatiert; vermutlich Januar 1938)


sofort nach Ihrem Brief.


Mein Lieber,


ich bin furchtbar erschrocken über Ihren Brief; die Schrift war wirklich krank, und ich spüre atmosphärisch schon lange, daß Sie sehr verzweifelt sind (mehr vielleicht noch als ich, den diese Zeit, in der alles unsern Erzfeinden gelingt, rasend macht). Kann ich etwas für Sie tun? Es ist ja so schwer, weil ich gar nichts von Ihnen weiß. Kann die gute Keun mir nicht einmal über Sie schreiben – Sie wissen ja nicht, wie ich (gleichgiltig gegen Ihre Einstellung zu mir) an Ihnen hänge und für Sie eigentlich in Permanenz besorgt bin. Vielleicht komme ich doch jetzt nach Paris, ich wollte eigentlich zuerst nach Lissabon, Estoril und dort an der stillsten Rivieraküste arbeiten. Jener Roman ist in den Grundzügen festgelegt, auch schon einmal geschrieben, jetzt in der zweiten Stufe. Aber es fehlt mir noch viel, im Dialog, in der Sprache. Ich werde, müde wie ich bin, doch länger daran arbeiten als ich dachte und da bewundere ich Ihre Stoßkraft – freilich, Sie sind 15 Jahre etwa jünger, und was für Jahre! Mein Lieber, ich schwätze da herum, Sie mögen aber durchaus das Bedürfnis sehen, wieder einmal mit Ihnen beisammenzusein, mich auszusprechen und vor allem von Ihnen, von Ihren Arbeiten zu hören. Ich weiß gar nichts von Ihnen und will Sie doch nicht verlieren, es beleidigt mich, wenn dann plötzlich ein Buch kommt, um das Sie, mein Freund, ein Jahr gekämpft haben, und ich weiß nichts davon, ich bin der Letzte, der davon erfährt, und hatte doch einmal den Stolz, der Nächste, der Verläßlichste zu sein. Bitte schonen Sie sich. Tut Paris Ihnen gut? Wäre nicht doch der Süden besser für Sie? Ach, ich frage und weiß doch, Sie antworten mir nicht mehr. Aber ich frage eben oder vielmehr mein Herz fragt nach Ihnen. Innigst


Ihr alter St. Z.


Sobald ich ein wenig Übersicht habe, wann ich fahre, schreibe ich Ihnen sofort.


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An Joseph Roth


(undatiert; vermutlich Sommer 1938)


Lieber Freund, Sie schweigen mich hartnäckig an, ich aber denke oft und herzlich an Sie. Mein Leben ist in letzter Zeit arg überhäuft, ich habe das Buch glücklich auscorrigiert (was bei mir beinahe: Nocheinmalschreiben heißt), dann Material gesammelt zu einer Novelle (oder Art symbolischer Novelle), an der ich jetzt schon schreibe, nur immer wieder verstört. Ich muß bei der Arbeit allein sein (bei der conceptiven zumindest) und wollte seit 10 Tagen nach Boulogne flüchten, aber das Wetter ist erbarmungslos. In Deutschland hat »Castellio« seinen Schatten vorausgeworfen, auch die Auslieferung nach Ungarn, Polen, etc. die – Österreich hat kein Clearing mit diesen Staaten – bisher über dieses edle Land ging, ist unmöglich, und auch sonst kommt viel an kleiner Ärgerlichkeit zusammen – ich wundere mich, daß wir dabei noch arbeiten können. Hier lebe ich wie in einer Höhle, kenne ein Zehntel der Leute wie vor zwei Jahren, auch sonst fällt und raschelt viel Laub von alten Herzensbanden. Nun, man hat aber auch kräftig mit der germanischen Axt auf uns losgedroschen!


Und Sie! Ich bin immer ungeduldig, wenn ich an Sie denke. Ihr Roman I muß ja ganz vollendet sein, und wie geht die Arbeit an dem neuen? Wo werden Sie sein? Wo kann man Sie finden? Vor Amsterdam fürchte ich mich, weil ich dort 15 Leute besuchen müßte und außerdem fährt nur die deutsche Lufthansa hin. Wie lange bleiben Sie noch dort? Haben Sie irgendwelche Entschlüsse gefaßt? Roth, halten Sie sich jetzt zusammen, wir brauchen Sie. Es gibt so wenig Menschen, so wenig Bücher auf dieser überfüllten Welt!!


Herzlichst


Ihr Stefan Zweig


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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.