An René Schickele


11 Portland Place London,


den 26. September 1934


Lieber René Schickele!


Vielen Dank für Ihren guten Brief. – Die größte Gefahr, in die wir uns begeben können, ist, ungerecht zu werden. Ich verstehe vollkommen die Tragik der Emigration und der darin kombattanten Schriftsteller. Wie ein Rad ständig laufen muß, um nicht umzufallen, so müssen sie ständig opponieren – eine furchtbare Verpflichtung, von mir aus gesehen, sein ganzes Leben damit zu verbringen, gegen etwas zu sein. Aber unsere Schwierigkeiten sind nicht geringer. Es besteht kein Zweifel, daß Deutschland alles tun wird, um an uns vergessen zu lassen, daß unsere Bücher allmählich verschwinden werden – wahrscheinlich sogar die Verleger selbst – und eine Art Staatsverlag wie in Rußland sich aus der Firma Eher entwickeln wird. Wir haben das gleiche in Rußland, das gleiche in Italien gesehen und müssen innerlich vorbereitet sein. Wir sollen aber, meine ich, nicht unsere beste Kraft verschwenden, um mit der Stirn gegen die Gefängniszelle zu rennen, sondern lieber diese Stirn uns erhalten und nach dem Vorbild des Cervantes in diesem unsichtbaren Gefängnis gute Bücher schreiben. Daß es zwischendurch an Gewissensfragen nicht fehlt, wissen Sie und weiß ich. So macht es mir der Inselverlag (alles was Sie hörten, ist dummes Gerede) eigentlich nur dadurch schwer, daß er meine Bücher bringen will und es ist schwer, so alte und persönliche Bindungen zu lösen und die Isolierung drüben durch eignes Zutun zu vermehren. Aber ich glaube immer mehr, daß man »Duldung« nicht dulden soll. Wie immer man tut, macht man es schlecht und kommt schließlich auf die Banalität aus dem Lesebuch zurück, daß es das Beste ist, vor sich selber ein reines Gewissen zu haben.


Ihren letzten Roman »Witwe Bosca« habe ich leider nicht bekommen. Vielleicht können Sie mir ihn noch herschicken lassen. Ich will alles Denkbare versuchen, obwohl hier eigentlich das Interesse für Sachliches, Historisches, Dokumentarisches stärker ist als für europäische Epik (gerade da liegt noch der Kanal quer zwischen hüben und drüben). Nun erinnere ich mich immer und noch immer nach Jahren einer großartigen kleinen Darstellung von Ihnen, die Sie von Jaurès gegeben haben. Es war nur ein Bild, aber könnten Sie es nicht erweitern, die Zeit um die Gestalt stellen, unsere Jugend, unseren Glauben von damals? Fast könnte ich Ihnen versprechen, daß für eine Biographie Jaurès’, die gleichzeitig gewissermaßen das Abendrot des idealistischen Sozialismus bedeutete, [Der Revolverschuß erschoß die ganze Bewegung zugleich] hier und wohl auch in Frankreich großes Interesse wäre. Ich mag sonst die Biographienfabrikation nicht und lasse selbst von allem Biographischen, weil es so sehr Mode und Erfolg wird. Aber in diesem Falle wäre es doch Ihre Zeit, unsere Jugend, die Sie gleichzeitig mit in Erscheinung brächten, und wenn Sie eben auch an das Materielle denken müssen, dies nach meinem Empfinden die gewisseste Aussicht. Hier fehlt es an einer Gestalt noch mit all den Neben- und Gegengestalten, Clemenceau, Rochefort, und gerade weil es nicht aus dem Geiste der Partei, sondern eine Darstellung aus dem Geiste wäre, würde ich darin eine notwendige Aufgabe sehen. Und noch eines. Haben Sie einmal ein kleines Buch, bei dem Sie an eine bibliophile Ausgabe denken, irgend etwas, was Ihnen dichterisch besonders lieb ist, so glaube ich, daß Sie bei diesem Verlage Reichner, der meinen »Erasmus« gemacht hat und der jetzt kultivierteste deutsche Literatur jenseits aller Politik in bibliophilen vollendeten Ausgaben bringen will, sehr zufrieden wären. Vielleicht haben Sie da etwas in der Lade oder im Herzen.


Was Sie von Rolland sagen, ist nur zu wahr. Wir stehen eigentlich mehr zu ihm als er zu sich selbst, seit er (unter persönlichen privaten Einflüssen) alles in Rußland bejaht und alles entschuldigt, auch die Unterdrückung. Dagegen hat Wells jetzt offene Stellung genommen. Er war eben in Moskau, um noch einmal zu versuchen, für die Literatur dort eine gewisse Freiheit durchzusetzen, ohne den geringsten Erfolg zu erzielen. Er ist in diesem Sinne vollkommen entschlossen, den Kampf gegen jede Unterdrückung im Namen welcher Ideologie immer durchzuführen. Man hat ja manchmal hier das Gefühl, auf dem letzten Bollwerk der Freiheit zu stehen – eine Freiheit, die unserem Ideal im Sittlichen und vielen Anderm gar nicht ähnlich sieht. Sie riecht manchmal etwas säuerlich und abgestanden. Aber immerhin ist es Luft, in der man atmen kann.


Seien Sie gewiß, lieber Schickele, daß ich keine Gelegenheit versäume, und verfügen Sie über mich, wie immer ich Ihnen meine alte herzliche Gesinnung erweisen kann.


Mit vielen Grüßen


Ihr Stefan Zweig


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An René Schickele


11 Portland Place London,


1. November 1934


Lieber René Schickele!


Hoffentlich haben Sie nicht übel von mir gedacht, daß ich Ihnen erst heute schreibe und Ihnen für Ihre Bücher danke. Ich habe mit einer Art Heimweh in der »Witwe Bosca« die ganze südliche Landschaft gespürt und alle die Kunst, mit der Sie Natur zu erwecken wissen. Immer sind die Menschen, die Sie darstellen, nur durch die Atmosphäre ganz verständlich, in der sie atmen (das »Erbe am Rhein«!), und darum habe ich es nie als ein Zuviel empfunden, wenn Wald und Wiesen und Blumen und Meer bei Ihnen in die Geschehnisse hineinrauschen. Es ist dies nie etwas künstlich Überwucherndes, sondern der Grund, der unterste und elementare, aus dem Sie die Gestalten entwickeln. Vielleicht binden Sie damit – und nicht zumindest durch die Sprache – Ihre Bücher stärker an das Heimatliche, als es einer Übertragung in fremde Sprachen förderlich ist; dort wirkt natürlich alles am stärksten, was (um im deutschen Jargon zu bleiben) auf Asphalt gebaut ist, der in Paris und London und Berlin und New York ein und derselbe ist. Aber nichts wäre irriger, als wenn Sie sich deshalb von Ihrer persönlichen Art abwenden ließen, die eben Ihre persönliche und nur Ihnen gehörige darstellt.


Das andere kleinere Buch liebe ich schon seit Jahren und Jahren. Ja, gerade jenes Kapitel über Jaurès war es, das mir die Überzeugung gab, nur Sie könnten seine Gestalt unpolitisch darstellen und gleichzeitig in jener feurigen Luft der apokalyptischen Tage, die wir erlebt haben, um sie nicht mehr zu vergessen. Es wäre schon gut, wenn ein Mann wie Sie ein Zeugnis abgeben könnte für das, was historisch zwanzig Jahre und in Wahrheit tausend Jahre vor unserer Gegenwart liegt. Wir fühlen uns oft physisch zu jung, um zu empfinden, wie das, was wir unsere Jugend nennen, schon etwas Historisches geworden ist, das wir die Pflicht hatten auszusagen. Hoffentlich reizt Sie einmal die Arbeit, ich glaube, sie würde weit über den Anlaß hinaus sich zu einer wichtigen Aussage runden und könnte einer jener internationalen Erfolge werden, die uns Ausgedeutschten jetzt so nötig sind.


Vielleicht komme ich sehr bald in Ihre Nähe und würde mich dann ungemein freuen, Sie zu sehen.


Herzlichst


Ihr Stefan Zweig


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An René Schickele


11 Portland Place London,


den 19. November 1934


Lieber René Schickele!


Ich bekam Ihr Buch über Lawrence vom Verleger und habe es sofort in einem Zuge gelesen – man kann es nicht anders, der Rhythmus nimmt einen mit. Ein wenig hatte ich davor Angst, denn ich habe den jetzigen Enthusiasmus für Lawrence nie geteilt. Ich achte seine Kunst, aber empfand ihn immer als einen verkehrten Moralisten (ähnlich wie unseren Wedekind), der das Sexuelle mit einem so tödlichen und dogmatischen Ernst feiert wie der Pfarrer den lieben Gott. Von seinem Leben wußte ich nicht viel, aber durch Ihr Buch hat er für mich plötzlich einen andern Gehalt und eine andere Gewalt. Nur, daß ich Sie als viel souveräner und freier im Menschlichen empfinde als ihn. Ich habe Sie sehr im Verdacht, daß Sie ihm die Schwingen erst geliehen haben, mit denen er sich so hoch über die Zeit erhebt, daß Sie ihn aufgefüllt haben mit Ihrer eigenen dynamischen Kraft – was durchaus kein Vorwurf sein soll, weiß Gott nicht. Wir steigern uns an den Anlässen und wir übersteigern wiederum die Anlässe. Wir werden leidenschaftlich angeregt durch andere Menschen und machen durch diese Leidenschaft das Bild des anderen farbiger und brennender, und das ist tausendmal wichtiger als alle Analytik. Ich habe große Freude gehabt an diesem schwungvollen und freien Buch, und wenn ich diese Freude nicht noch ausführlicher aussage, so ist der Grund, daß ich wahrscheinlich sehr bald für kurze Zeit in Ihre Gegend komme.


Alles Herzliche von Ihrem


Stefan Zweig


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An René Schickele


49, Hallam Street, London W 1


28. April 1937


Lieber Freund!


Ich danke Ihnen spät, aber ich hatte selbst ein Buch fertig zu machen, und zwar ziemlich eilig, um bald ein anderes beginnen zu können, das mir wichtiger ist. Aber es liegt doch heute schon so, daß man Pausen nicht machen darf und vielleicht auch gar nicht machen will, weil man im Schreiben am besten die Widrigkeiten der Zeit überhört. So verstand ich auch Ihr Buch, das die absolute Isolation eines Menschen, eine Isolation bis zum geistigen Exzeß sich zur Aufgabe nimmt, und während man es liest, lebt man ganz in einem Kosmos, der andere zerebrale Gesetze hat als der gemeine (dies im doppelten Sinne des Wortes). Ihr Buch erregt, wenn ich so sagen soll, wie ein großartiges akrobatisches Kunststück. Dieser Mann geht auf einem sehr dünnen Weg über den Abgrund, und man zittert mit ihm und für ihn – ein Zustand, der sehr aufregend ist und doch unerträglich wäre, wenn Sie nicht in den Nebenfiguren diese gespannte Atmosphäre immer wieder auflockerten. Daß ich Sie um Ihre Prosa freundschaftlich beneide, nur nebenbei. Es wäre doch ein furchtbarer Verlust gewesen, hätten Sie damals Ihren Entschluß durchgeführt, französisch zu schreiben. Bleiben Sie mit uns, wir brauchen Sie sehr!


Ich konnte dieses Jahr nicht an die Riviera kommen, sondern ging nach Italien, um dort die eingesperrten Honorare von drei Jahren aufzuzehren. Sonst schlage ich mich weiter durch und manchmal mit Müdigkeiten herum. Man hat sich die Augen wund gesehen nach dem berüchtigten Silberstreifen am Horizont.


Statt dessen wird es immer dunkler.


Lieber Schickele, ich hoffe, daß es Ihnen gesundheitlich gut geht. Dies bleibt noch immer das Wichtigste. Im nächsten Jahr komme ich hoffentlich nach Nizza herunter, unsere guten Stunden zu erneuern.


Herzlichst


Ihr Stefan Zweig


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An René Schickele


49, Hallam Street, London


22. April 1938


Lieber René Schickele,


Eben kommt Ihr Brief, da ich Ihnen für die Novelle danken wollte. Leider kann ich Ihnen nichts so sehr Erfreuliches über die englische Situation berichten. Wir sind, sowohl Sie als ich, durch unsre ganze Einstellung dem englischen Geschmack äußerst fremd, und meine Einflußkraft hier eine kläglich geringe. Ein Vorwort müßte hier unbedingt von einem englischen Schriftsteller geschrieben sein, um irgendwelche Wirkung zu haben und nicht eher Mißtrauen zu erregen. Dagegen will ich Hübsch sofort schreiben, daß Thomas Mann ein Vorwort für Sie geschrieben hat, obwohl er es nicht mit einer Ausgabe bringen könnte. (Vielleicht den Schlußsatz ein wenig verändert.) Seine Autorität ist drüben ja jetzt sehr groß, leider herrscht drüben auch die Bücherpleite. Unser Unglück ist ja, daß unsre persönliche Krise mit einer Weltkrise zusammenfällt.


Wir stehen vor einer moralisch auch sehr verantwortlichen Situation. Da wir unsern »Markt« verloren haben, unser Publikum uns gestohlen worden ist, materiell nur der englische Markt gilt, müßte man versuchen, sich dem angelsächsischen Geschmack bewußt anzupassen, was ich nicht kann, und Sie wahrscheinlich ebenso wenig. Mich haben einigermaßen die biographischen Bücher über Wasser gehalten, aber wie es mit dem Roman werden wird, an dem ich arbeite, scheint mir mehr als dubios. Vielleicht wird es für Sie notwendig sein, irgendein Buch neben der dichterischen Produktion zu schreiben, ich dachte damals an Jaurès als Symbol des Untergangs der Internationale, als Zerstörung der letzten europäischen Einheit (oder vielleicht ein andres Thema, das Ihnen gelegen ist, ließe sich vielleicht fruktifizieren.) Aber eine innere Umstellung unsers literarischen Habitus wird und soll uns nicht mehr gelingen. Hier müssen wir resignieren und vielleicht auf zwei Geleisen versuchen weiterzukommen, auf einem, das nur dem Güterverkehr dient, und dem anderen, das unsre eigentliche geistige Bewegung darstellt.


Verzeihen Sie mir, lieber Freund, den Pessimismus, der vielleicht aus diesen Zeilen spricht. Aber die österreichische Sache hat mich doch sehr getroffen. Nicht nur, daß ich meine Mutter dort habe und Freunde, nicht nur, daß das ganze Opus noch einmal eingestampft wird und noch einmal von neuem angefangen werden soll – es ist auch der Verlust des beinahe letzten Wirkungskreises, der Sturz ins Leere. Hieße es nur »durer«, wie Sie sagen, man brächte dazu noch die Kraft auf. Aber dazu noch das immerwährende Neuanfangen mit einem von tausend dreckigen Äußerlichkeiten verschmutzten Kopf, Paßfragen, Heimatszugehörigkeitsfragen, Familienproblemen, Lebensproblemen. Man wird manchmal schon recht müde.


Verzeihen Sie diesen schlimmen Brief, aber ich habe mir das Gute listigerweise für den Schluß behalten, nämlich die Freude an Ihrer Novelle. Sie haben immer aus dem Rhythmus der Sprache heraus geschaffen und durch diesen Überschwung auf das Französische einen ganz neuen Ton gefunden, der mich merkwürdig an Ihre ersten Gedichte erinnert, an das himmlisch Lyrische. Alle Gnade eines neuen Anfangs ist darin, und ich freue mich furchtbar für Sie, daß Sie sich einen Aufschwung dieser Art geben konnten. Es zeugt für die Vitalität Ihres Fühlens und verrät die noch unangebrochenen Reserven, die wir mit der Wünschelrute der Freundschaft immer bei Ihnen gespürt haben. Lassen Sie sich jetzt nicht niederbeugen. Ich schreibe noch heute an Hübsch. Bitte, vergessen Sie nur nicht, ihm dann ein Exemplar der Vorrede zu senden, die ihn sicher beeindrucken wird, und was hier geschehn kann, soll alles freudigst geschehen. Da ich alles Gute mir zum Schluß aufsparen wollte, sage ich Ihnen noch, daß wir hier an irgendeinem eigenartigen Verlagsplan herumarbeiten, der die früheren verschollenen Bücher unserer Besten in billiger Form ans Licht heben soll. Und im Plan stehen Sie natürlich auf Liste Nummer eins. Wenn es nur gelingt! Ich verwende viel Zeit darauf.


Herzliche Grüße


Ihres Stefan Zweig


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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.