5. Kapitel


Das schöpferische Jahrzehnt


 


Das schönste Glück des denkenden Menschen ist,
das Erforschliche erforscht zu haben
und das Unerforschliche ruhig zu verehren.


Goethe


In diesem Turm verbringt in den nächsten zehn Jahren Michel de Montaigne den größten Teil seines Lebens. Ein paar Stufen hinauf die Wendeltreppe und er hört nicht mehr Lärm und Gespräch des Hauses, er weiß nichts mehr von den Angelegenheiten, die ihn so stören. Denn »ich habe ein zartes Herz, das sich leicht beunruhigt. Wenn es sich mit etwas beschäftigt, dann kann schon eine Fliege, die dagegenstößt, es umbringen.« Blickt er zum Fenster hinaus, so sieht er unten seinen Garten, seinen Wirtschaftshof und darin seine Hausgenossen. Um ihn aber ist nichts in dem runden Raum als seine Bücher. Einen Großteil hat er von La Boétie geerbt, die andern hat er sich dazugekauft. Nicht daß er den ganzen Tag liest; es ist schon das Bewußtsein ihrer Gegenwart, das ihn beglückt.


»Da ich weiß, daß ich mich an ihnen erfreuen kann, wann es mir gefällt, bin ich schon mit ihrem bloßen Besitz zufrieden. Ich gehe nie ohne Bücher auf Reisen, weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten. Aber oft vergehen Tage und Monate, ohne daß ich in sie hineinblicke. Ich werde das mit der Zeit schon noch lesen, so sage ich zu mir selbst, oder morgen, oder wenn es mir gerade gefällt … Bücher sind, das habe ich gefunden, der beste Proviant, den man auf die Lebensreise mitnehmen kann.«


Bücher sind für ihn nicht wie Menschen, die ihn bedrängen und beschwatzen und die man Mühe hat loszuwerden. Wenn man sie nicht ruft, kommen sie nicht; er kann dieses oder jenes zur Hand nehmen, je nach seiner Laune.


»Meine Bücherei ist mein Königreich, und hier versuche ich als absoluter Herrscher zu regieren.«


Die Bücher sagen ihm ihre Meinung, und er antwortet mit der seinen. Sie sprechen ihre Gedanken aus und regen bei ihm Gedanken an. Sie stören nicht, wenn er schweigt; sie sprechen nur, wenn er sie fragt. Hier ist sein Reich. Sie dienen seinem Vergnügen.


Wie Montaigne liest und was er gerne liest, hat er in unübertrefflicher Weise erzählt. Sein Verhältnis zu den Büchern ist wie in allen Dingen das der Freiheit. Auch hier erkennt er keine Pflichten an. Er will lesen und lernen, aber nur gerade soviel, wie es ihm gefällt, und gerade dann, wenn es ihm Vergnügen macht. Als junger Mensch, so sagt er, habe er gelesen, »um damit zu prunken«, um mit Kenntnissen zu prahlen; später, um etwas weiser zu werden, und jetzt nur mehr zum Vergnügen und niemals um eines Vorteils willen. Ist ein Buch ihm zu langweilig, so schlägt er ein anderes auf. Ist ihm eines zu schwer, »so kaue ich mir nicht die Nägel über den schwierigen Stellen ab, die ich in einem Buche finde. Ein oder zwei Mal mache ich einen Vorstoß, dann gebe ich es auf, denn mein Verstand ist nur für einen Sprung geschaffen. Wenn ich einen Punkt nicht auf den ersten Blick begreife, dann helfen erneute Anstrengungen nichts; sie machen die Sache nur noch dunkler.« Im Augenblick, wo die Lektüre Mühe macht, läßt dieser lässige Leser das Buch fallen: »Ich brauche nicht über ihnen zu schwitzen, und ich kann sie wegwerfen, wenn es mir paßt.« Er hat sich nicht in den Turm gesetzt, um ein Gelehrter zu werden oder ein Scholast; von den Büchern verlangt er, daß sie ihn anregen sollen und nur durch Anregung belehren. Er verabscheut alles Systematische, alles, was ihm fremde Meinung und fremdes Wissen aufzwingen will. Alles, was Lehrbuch ist, ist ihm widerlich. »Im allgemeinen wähle ich Bücher, in denen die Wissenschaft bereits benutzt ist und nicht solche, die erst zu ihr hinführen.« Ein träger Leser, ein Amateur der Lektüre, aber einen besseren, einen klügeren Leser hat es in seiner Zeit und in allen Zeiten nie gegeben. Das Urteil Montaignes über Bücher ist man bereit, hundertprozentig zu unterschreiben.


Im allgemeinen hat er zwei Vorlieben. Er liebt die reine Dichtung, obwohl er selbst dafür gar keine Begabung besitzt und zugibt, daß die lateinischen Verse, in denen er sich versucht hat, immer nur Imitationen des gerade zuletzt Gelesenen waren. Er bewundert hier die Kunst der Sprache; aber er ist ebenso bezaubert von der einfachen Volkspoesie. Nur das, was in der Mitte liegt, was Literatur ist und nicht reine Dichtung, läßt ihn kalt.


Liebt er so einerseits die Phantasie, so haben es ihm andererseits die Fakten angetan, und darum ist Geschichte »das Wild, das ihn lockt«. Auch da, ganz in unserem Sinne, liebt er die Extreme. »Ich schätze die Geschichtsschreiber, die entweder sehr einfach oder von hohem Rang sind.« Er liebt die Chronisten wie Froissart, die nur den nackten Rohstoff der Geschichte beibringen, und andererseits wieder die wirklich »fähigen und ausgezeichneten Historiker«, die aus diesem Rohmaterial falsch und wahr mit wirklicher Psychologie zu sondern wissen – »und das ist ein Privileg, das nur sehr wenige besitzen«. Darum, so sagt er, »bereiten diejenigen, die Biographien schreiben, die rechte Speise für mich zu. Denn sie legen mehr Wert auf die Motive als auf die Ereignisse, es geht ihnen mehr darum, was von innen her kommt, als was äußerlich geschieht. Deshalb ist vor allen anderen Plutarch mein Mann.«


Die anderen, die dazwischenfallen, die weder Künstler noch Naive sind, »verderben nur alles. Sie wollen uns das Fleisch vorkauen, sie maßen sich das Recht an, über die Geschichte zu richten und sie entsprechend ihren eignen Vorurteilen zu verdrehen.« So liebt er die Welt der Bilder und Symbole im Gedicht – die Welt der Tatsachen in der Prosa, höchste Kunst oder absolute Kunstlosigkeit, den Dichter oder den simplen Chronisten. »Der Rest ist Literatur«, wie Verlaine sagt.


Als den Hauptvorzug der Bücher für ihn rühmt Montaigne, daß die Lektüre mit ihrer Vielfalt vor allem sein Urteilsvermögen anregt. Sie reizt ihn, zu antworten, seine eigne Meinung zu sagen. Und so gewöhnt sich Montaigne an, in den Büchern Notizen zu machen, anzustreichen, und am Ende das Datum einzuschreiben, an dem er das Buch gelesen hat, oder auch den Eindruck, den es ihm zu jener Zeit gemacht. Es ist kein Kritisieren, es ist noch nicht Schriftstellern, es ist nur ein Dialogisieren mit dem Bleistift in der Hand, und nichts liegt ihm im Anfang ferner, als irgend etwas im Zusammenhang niederzuschreiben. Aber allmählich beginnt die Einsamkeit seines Zimmers auf ihn zu wirken, die vielen stummen Stimmen der Bücher fordern immer dringender eine Antwort, und um seine eignen Gedanken zu kontrollieren, sucht er einige schriftlich festzuhalten. So wird aus dieser lässigen Lektüre doch eine Tätigkeit. Er hat sie nicht gesucht – sie hat ihn gefunden.


»Als ich mich auf mein Haus zurückzog, da hatte ich beschlossen, so weit als irgend möglich mich in keinerlei Angelegenheiten einzumischen, sondern die geringe Zeit, die mir noch bleiben würde, in Frieden und Zurückgezogenheit zu verbringen. Es schien mir, daß ich meinen Geist nicht besser befriedigen könnte, als wenn ich ihm volle Muße gewährte, sich in seinen eignen Gedanken zu ergehen und sich mit ihnen zu vergnügen. Und ich hoffte, daß er mit dem Laufe der Zeit, da er gefestigter und reifer geworden wäre, das mit größerer Leichtigkeit bewerkstelligen könnte. Aber das Gegenteil war der Fall. Wie ein Pferd, das ausbricht, gab er sich selbst hundertfach weiteren Spielraum. In mir erhob sich eine ganze Horde von Chimären und phantastischen Gestalten, eine nach der anderen, ohne Ordnung oder Beziehung zueinander. Um ihre Seltsamkeit und Absurdheit besser mit kühlem Kopf ins Auge zu fassen, begann ich sie zu Papier zu bringen. Ich hoffte, daß mein Geist sich sehr bald seiner selbst schämen würde. Ein Verstand, der sich kein festes Ziel setzt, verliert sich. Wer überall sein will, ist nirgends. Kein Wind dient dem Manne, der keinen Hafen ansteuert.«


Die Gedanken gehen ihm durch den Kopf; er notiert sie ohne jede Verpflichtung, denn nicht im entferntesten denkt der Schloßherr von Montaigne daran, diese kleinen Versuche – essais – drucken zu lassen.


»Wenn ich meine Gedanken so hin- und herwerfe – Muster, die ich vom Tuch abschneide, zusammengestückt ohne Plan oder Vorsatz –, so bin ich weder verpflichtet, für sie gerade zu stehen oder mich an sie zu halten. Ich kann sie fallen lassen, wenn mir das paßt; ich kann zu meinen Zweifeln und meiner Unsicherheit zurückkehren, und zu meiner beherrschenden Geistesform, der Unwissenheit.«


Er fühlt sich nicht gehalten, exakt wie ein Gelehrter, originell wie ein Schriftsteller oder wie ein Dichter eminent in seiner Diktion zu sein. Er hat durchaus nicht wie die Fachphilosophen die Präsumption, daß diese Gedanken kein anderer zuvor gedacht haben dürfe. Deshalb macht es ihm auch gar keine Sorge, hie und da etwas hinzuschreiben, was er gerade im Cicero oder Seneca gelesen hat.


»Oft lasse ich andere etwas für mich sagen, was ich selbst nicht so gut sagen kann. Ich zähle meine Entlehnungen nicht – ich wiege sie ab.«


Mit Absicht läßt er dann auch die Namen aus. Aber all das gibt er willig zu: er freue sich, wenn er etwas stehlen, ändern und verkleiden könne, wenn damit nur etwas Neues, Zweckmäßiges erreicht wird. Er ist nur »réfléchisseur«, nicht Schriftsteller, und er nimmt das, was er skribbelt, nicht allzu ernst:


»Meine Absicht ist es, den Rest meines Lebens friedlich, und nicht in schwerer Arbeit zu verbringen. Es gibt nichts, wofür ich mir den Kopf zerbrechen möchte, auch nicht im Dienste der Wissenschaft.«


Ununterbrochen wiederholt Montaigne in seinem Verlangen nach Freiheit, daß er kein Philosoph sei, kein Schriftsteller und kein vollendeter Künstler. Weder was er sage noch was er zitiere, solle als Beispiel dienen, als Autorität oder als Muster.


»Mir selbst gefallen meine Notizen keineswegs, wenn ich sie wieder überlese. Sie mißfallen mir.«


Wenn es ein Gesetz gäbe gegen unnütze und unverschämte Skribenten wie gegen Vaganten und Nichtstuer, so sagt er, dann müßte man ihn und hundert andere aus dem Königreich verbannen. Es verrät ein wenig Eitelkeit, wenn er immer wieder betont, wie schlecht er schreibt, wie nachlässig er sei, wie wenig er von der Grammatik wisse, daß er kein Gedächtnis habe und völlig unfähig sei, das, was er wirklich sagen wolle, auszudrücken.


»Ich bin alles andere eher als ein Bücherschreiber. Meine Aufgabe ist es, meinem Leben Gestalt zu geben. Das ist mein einziger Beruf, meine einzige Sendung.«


Ein Nicht-Schriftsteller, ein vornehmer Herr, der nicht recht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll, und darum ab und zu ein paar Gedanken in formloser Weise aufzeichnet: so wird Montaigne nicht müde, sich zu schildern. Und dieses Porträt ist richtig für die ersten Jahre, in denen die ersten Essais in ihrer ersten Form entstanden. Aber warum, so muß man fragen, entschließt sich dann der Herr von Montaigne, diese Versuche 1580 in Bordeaux in zwei Bänden drucken zu lassen? Ohne es zu wissen, ist Montaigne Schriftsteller geworden. Die Veröffentlichung hat ihn dazu gemacht.


Alle Öffentlichkeit ist ein Spiegel; jeder Mensch hat ein anderes Gesicht, wenn er sich beobachtet fühlt. De facto beginnt Montaigne, kaum daß diese ersten Bände erschienen sind, für die anderen zu schreiben, und nicht nur für sich. Er fängt an, die Essais umzuarbeiten, zu erweitern; ein dritter Band wurde 1588 den beiden ersten hinzugefügt, und das berühmte Exemplar von Bordeaux mit seinen nachgelassenen Notizen für eine neue Ausgabe zeigt, wie er bis zu seinem Todestage jeden Ausdruck gefeilt, ja selbst die Interpunktion verändert hat. Die späteren Ausgaben enthalten unzählige Füllungen. Sie sind vollgestopft mit Zitaten; Montaigne glaubt zeigen zu müssen, daß er viel gelesen hat, und er stellt sich selbst immer mehr in den Mittelpunkt. Während er früher nur bemüht war, sich kennenzulernen, soll die Welt nun erfahren, wer Montaigne war. Er gibt ein Porträt von sich, und es ist bis auf einige Züge prachtvoll wahrheitsgetreu gezeichnet.


Aber im allgemeinen gilt doch: die erste Fassung der Essais, die weniger von ihm persönlich sagt, sagt mehr. Sie ist der wirkliche Montaigne, der Montaigne im Turm, der Mann, der sich sucht. Es ist mehr Freiheit in ihnen, mehr Ehrlichkeit. Auch der Weiseste entgeht der Versuchung nicht; auch der freieste Mensch hat seine Bindungen.

vorheriges Kapitel

4. Kapitel

nachfolgendes Kapitel

6. Kapitel

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.