III.
Auch der Schlaf, selbst er ist ein anderer in dieser neuen Welt, schwärzer, dichter, narkotischer, ein völlig Insichversunkensein. Ganz von unten her, aus einer sonst nie gekannten Schlaftiefe muß Christine im Erwachen die völlig ertrunkenen Sinne heraufholen: mühsam, langsam, Ruck um Ruck wie aus einem unergründlichen Ziehbrunnen nur hebt sich hier das versunkene Bewußtsein empor. Erste Regung: ein ungewisses Zeitgefühl. Die verschlossenen Lider spüren: es wird hell, es muß schon Licht sein im Zimmer, schon Tag. Und sofort krallt sich an dieses dumpf unklare Gefühl bereits der Angstgedanke (er reicht bis tief in den Schlaf hinab): nur nicht das Amt versäumen! Nur nicht zu spät kommen! Automatisch setzt im Unbewußten die seit zehn Jahren eingespulte Gedankenkette ein: sofort wird der Wecker prasseln … nur nicht einschlafen jetzt mehr … Pflicht, Pflicht, Pflicht … rasch aufstehen, um acht beginnt der Dienst, und zuvor muß ich noch einheizen, Kaffee kochen, Milch holen, das Gebäck, aufräumen, der Mutter den Verband wechseln, für Mittag vorrichten, und was noch? … Irgend etwas muß ich doch noch tun heute … Ja, richtig, der Krämerin zahlen, sie hat schon gestern gemahnt … Nein, nur nicht wieder eindösen, sich bereithalten: gleich aus dem Bett, wenn der Wecker klirrt … Aber wie ist das heute … warum zögert er so lang … ist der Wecker verdorben, hatte ich vergessen ihn aufzuziehen … Warum rattert er noch immer nicht, es ist doch schon licht im Zimmer … Am Ende, um Gottes willen, hab’ ich überschlafen und es ist schon sieben oder acht oder neun und die Leute schimpfen am Schalter, wie damals, als mir so unwohl war, sofort wollten sie sich beschweren bei der Direktion … und man baut ja jetzt so viele Angestellte ab … Jesus Maria, nur nicht zu spät kommen, nur nicht verschlafen … Bis unter das schwarze Erdreich des Schlummers wühlt maulwurfshaft die jahrelang eingefressene Angst vor Unpünktlichkeit. Und so schmerzhaft zerrt diese Angst an Christines taumeligen Sinnen, daß die letzte dünne Schicht Schlaf jäh von ihr abfällt, wach springen die Augenlider auf.
Aber wo – ihr Blick tappt erschrocken nach oben – wo bin ich denn? – Was – was ist geschehen mit mir? Statt des täglichen gewohnten abgeschrägten, verräucherten, spinnwebengrauen Mansardendachs mit den braunen Holzbalken schwebt über ihr blühweißer Plafond, viereckig blank, mit vergoldeten Leisten zart eingefaßt. Und woher dieses viele Licht mit einmal im Raum? Ein neues Fenster muß plötzlich aufgebrochen sein über Nacht. Wo bin ich? Wo bin ich denn? Die Verwirrte starrt auf ihre eigenen Hände. Aber sie liegen nicht wie sonst auf dem braunen alten, geflickten Kamelhaartuch, auch die Decke ist plötzlich neu geworden, leicht, flaumig, blau, mit rötlichen Blumen bestickt. Nein – erster Ruck! –, das ist nicht mein Bett. Nein – zweiter Ruck, sie hat sich aufgerichtet –, das ist nicht mein Zimmer, und – dritter, wilderer Ruck – ein ganz wacher Blick und sie weiß alles: Urlaub, Ferien, Freiheit, Schweiz, die Tante, der Onkel, das herrliche Hotel! Keine Angst, keine Pflichten, kein Dienst, keine Zeit, kein Wecker! Kein Herd, keine Angst niemand wartet, niemand drängt: die grausame Mühsalmühle, seit zehn Jahren ihr Leben zermalmend, sie steht zum erstenmal still. Man kann – wie wunderbar warm und weich das Bett hier einen hält – liegen bleiben, das Blut gelassen rinnen spüren in den Adern, das wartende Licht hinter den zartgerafften Gardinen und die Wärme, die weiche, an der atmenden Haut. Man darf angstlos noch einmal in berechtigter Trägheit die Augen schließen, man kann träumen und sich spannen und dehnen, man gehört sich selbst. Man kann sogar – jetzt erinnert sie sich, die Tante hat es ihr gesagt – auf diesen Knopf da zu Häupten des Bettes drücken, unter dem briefmarkenklein der Kellner abgebildet ist, und nicht mehr muß man tun, als den Arm bis hin spannen, und – Zauberei! – in zwei Minuten öffnet sich die Tür, ein Kellner klopft und tritt höflich ein, ein putziges Wägelchen auf kleinen Gummirädern fährt vor (sie hat eines bei der Tante bewundert) und bringt je nach Belieben Kaffee, Tee oder Schokolade in schönem Geschirr und mit weißen damastenen Servietten. Von selbst ist das Frühstück da, man muß nicht Bohnen reiben, Feuer zünden, mit frierenden, nackt pantoffelten Beinen sich am Herde mühen, nein, fertig kommt alles hereingefahren mit weißem Gebäck und goldenem Honig und solchen Kostbarkeiten wie gestern, fertig rollt ein magischer Schlitten bis ans Bett, das warme und weiche, ohne daß man sich mühen und den Finger rühren muß. Oder man kann den andern Knopf drücken, wo das Messingschild ein Mädchen mit weißem Häubchen zeigt, und schon huscht sie nach leisem Klopfen herein, mit blanker Schürze und schwarzem Kleid, fragt, was das gnädige Fräulein wünsche, ob sie die Fensterladen öffnen solle oder die Gardinen hell oder dunkel ziehen oder ein Bad richten. Hunderttausend Wünsche kann man hier haben in dieser zauberhaften Welt, und alle sind im Nu erfüllt. Alles kann man hier wollen und tun und muß es doch nicht tun und wollen. Man kann klingeln oder nicht klingeln, man kann aufstehen oder nicht aufstehen, man kann wieder einschlafen oder auch liegen bleiben, ganz wie man will, offenen Auges oder die Lider geschlossen, und sich balsamisch überströmen lassen von guten und lässigen Gedanken. Oder man kann gar nichts denken und nur dumpf wohlig fühlen: die Zeit gehört einem, man gehört nicht der Zeit. Man ist nicht getrieben von diesem rasenden Mühlrad der Stunde und Sekunde, sondern gleitet nur geschlossenen Auges die Zeit lang wie in einem Boot mit eingezogenen Rudern. Und Christine liegt, träumt und genießt dies neue Gefühl, in ihren Ohren braust wohlig erregt das Blut wie fernes Sonntagsgeläut.
Aber nein – energischer Ruck aus den Kissen – nicht zuviel Träumen jetzt! Nichts von dieser einzigen Zeit verschwenden, dieser in jeder Sekunde holdere Überraschung spendenden Zeit. Träumen kann man dann zu Hause Monate und Jahre lang nachts in dem knarrenden, mürben Holzbett mit den harten Matratzen und am tintenfleckigen Amtstisch, während die Bauern im Felde sind und oben die ewig unerbittliche Uhr, ticktack, ticktack, als pedantischer Wachtposten durch das Zimmer geht: dort ist Träumen besser als Wachsein, Schlaf hier in dieser göttlichen Welt Verschwendung. Ein letzter Ruck und sie saust aus dem Bett, kalter Guß über Stirn und Nacken, und sie ist völlig frisch, jetzt noch rasch hinein in die neuen Kleider – ah, wie weich doch diese Wäsche knistert und bebt. Seit gestern hat ihr Körper dieses neue Gefühl schon wieder vergessen, nun genießt die Haut abermals beglückt dies zärtlich Anschmiegende und Liebkosende des kostbaren Stoffs. Aber nicht viel sich aufhalten an diesen kleinen Entzückungen, nicht zögern, fort, fort, fort, rasch hinaus aus dem Zimmer, irgendwohin, das Glücklichsein, das Freisein stärker fühlen, die Glieder sich auslaufen, die Augen sich anfüllen, Wachsein, noch stärker wach, mit allen aufgesprengten Sinnen und Poren lebendig wach! Hastig reißt sie den Sweater um, stößt die Mütze ins Haar und flattert die Treppe hinab.
Die Gänge des Hotels dämmern noch grau und leer im kalten Frühmorgenlicht, nur unten in der Halle bürsten hemdärmelige Diener mit elektrischen Reinigungsmaschinen die Laufteppiche, erstaunt, mit mißmutig verschwollenen Augen bestarrt der Nachtportier diesen zu morgendlichen Gast, dann erst lüftet er schläfrig die Kappe. Armer Kerl, auch hier also schwerer Dienst, heimliche Arbeit, schlecht bezahlte Plackerei, Aufstehenmüssen und Pünktlichsein! Aber nicht daran denken, was geht es mich an, niemand will ich jetzt spüren als mich, mich, mich, vorwärts, vorbei, hinaus in die kalt anspringende Luft, die mit einem Ruck wie ein eisiger Lappen Lider, Lippen und Wangen munterwäscht. Donnerwetter, wie kalt diese Bergluft einen anfaßt, eiskalt bis in die Knochen – da hilft nur laufen, sich das Blut warm laufen, geradeaus den Weg entlang, er wird schon irgendwohin führen, irgendwohin, hier oben ist ja alles gleich neu und zauberhaft.
Heftig ausschreitend merkt Christine erst die unerwartete Leere des Morgens. Das ganze Menschengewirbel, das gestern mittags die Wege überschwemmte, scheint jetzt, sechs Uhr, noch in den großen Steinkisten der Hotels verpackt, und selbst die Landschaft liegt verschlossenen Blicks in einer Art grauem magnetischem Schlaf. Kein Ton in der Luft, erloschen der gestern so goldene Mond, verschwunden die Sterne, vergangen die Farben, völlig im Nebelgemisch die Felsen, fahl und farblos wie kaltes Metall. Nur an den höchsten Spitzen der Berge schieben unruhig die dicken Nebelwolken, irgendeine unsichtbare Kraft scheint sie zu dehnen, an ihnen zu zerren, ab und zu löst sich eine von der dichten Masse und schwimmt wie ein weißer breiter Wattebausch ins Obere und Hellere empor. Und je mehr sie steigt, um so satter färbt unergründliches Licht ihre fließenden Konturen und zeichnet ihr goldenen Rand: die Sonne muß nahe sein, irgendwo schon rege hinter den Gipfeln, noch erblickt man sie nicht, aber schon fühlt in atmender Unruhe die Atmosphäre ihre wärmende Kraft. Ihr entgegen also, hinauf, empor! Höher hinauf, vielleicht hier gleich den Weg mit den leichten, gartenhaft gekiesten Serpentinen, er kann nicht schwer sein, und wirklich, er geht, er läuft sich spielleicht: voll Überraschung spürt die Ungeübte, wie freudig gehorsam die Gelenke ihr mit einmal in den Knien federn, wie der Weg mit seinen bequemen Wendungen, wie die leichte, tragende Luft ihr gleichsam von selbst den Körper nach oben reißt. Herrlich, wie rasch solcher Sturm das Blut wärmt. Sie reißt die Handschuhe, den Sweater, die Mütze ab: nicht nur die Lippe, die Lunge, auch die pochende Haut soll diese aufstachelnde Frische atmen. Je rascher sie läuft, um so mehr übt und beschwingt sich der Schritt. Eigentlich sollte sie stehen bleiben, denn das Herz schmettert heftig gegen die Brust, Pulse pochen in den Ohren, die Schläfen ticken, und herrlich auch, eine Sekunde rastend, von dieser ersten Kehre hinabzuschauen, Wälder, die Dampfaus den Strähnen schütteln, die Straßen weiß liniert in das pralle Grün, der Fluß, krumm und blank wie ein Türkensäbel, und drüben jetzt durch die Gipfelscharte die plötzlich aufgebrochene, goldene Schleuse der Morgensonne. Herrlich, sie fühlt es im hitzigen Empor, aber der Schwung des eigenen Laufes duldet keine Unterbrechung, vorwärts, vorwärts! rattert die fanatische Trommel im Herzen, vorwärts! Vorwärts! drängt der angerissene Rhythmus in Muskel und Sehnen, und so springt, so klettert der angefeuerte Leib berauscht von der eigenen Spannung weiter und weiter, sie weiß nicht wie lange, sie weiß nicht wie hoch, sie weiß nicht wohin. Endlich, nach einer Stunde vielleicht, an einem Aussichtspunkt angelangt, wo sich der Vorsprung des Berges rund wie eine Rampe wölbt, wirft sie sich nieder ins Gras: genug! Genug für heute. Wirbelig ist ihr zu Mut und sonderbar wohl, unter den Augenlidern zuckt und tickt das Blut, scharf, als wollte sie zerreißen, brennt die vom Winde massierte Haut, aber alle diese Körpergefühle, obwohl sie schmerzähnlich, spürt die von sich selbst Berauschte als eine Art unbekannter und neuer Lust, wie nie spürt sie sich jung und lebendig in diesem umgerüttelten Tumult ihres Leibes. Nie hat sie das geahnt, daß ihr eigenes Blut so heftig die Adern durchströmen kann, sie so stoßhaft wild und lustvoll dehnen, nie die Behendigkeit, Gestrafftheit ihres jungen Körpers so wissentlich gefühlt als in dieser maßlos guten, rauschhaft rumorenden Müdigkeit. Überschüttet von Sonne, überschwemmt vom weißen wirbeligen Bergwind, die Hände wohlig eingewühlt in eisig duftendes Alpenmoos, Wolken über sich in nie erträumtem Blau und unten die panoramisch aufgehende Schau, so liegt sie da, wohlig von sich selbst betäubt und berauscht, wach und träumend zugleich das eigene brausende Ich genießend und den stürmischen Andrang der Welt Eine Stunde liegt sie so da, eine Stunde oder zwei, bis die Sonne zu scharf an die Lippen brennt. Dann springt sie auf, rafft noch rasch ein paar taukalte Blumen mit klirrenden kleinen, in den Blättern versteckten Eiskristallen zusammen, Wacholder, Enzian, Salbei, und eilt hinab. Erst geht sie noch rhythmisch rasch und besonnen mit aufrechtem Touristenschritt, aber die Schwerkraft des Abstiegs reizt ihr die Glieder zu Lauf und Sprung, und sie gibt sich ihm hin, diesem süßen gefährlichen Zug der Tiefe. Immer schneller, immer wilder, immer kühner schwingt sie sich ab von Stein zu Stein; wie vom Wind getragen, heiter, selbstbewußt, unerhört froh, die Lust zu Gesang in der aufgeweckten Kehle, wirbelt sie mit schwingendem Rock, mit flatternden Haaren die Serpentinen hinunter zu Tal.
Vor dem Hotel, es ist neun Uhr, die anberaumte Stunde, steht der junge deutsche Ingenieur, sportlich angetan und wartet auf den Trainer für das morgendliche Tennis. Sich hinzusetzen auf die feuchte Bank ist noch zu kalt, immer wieder fährt Wind mit seinen spitzen Eisfingern unter das leinendünne, halboffene weiße Hemd; so geht er heftig, mit klammen Schritten auf und ab, das Racket wirbelnd, um Wärme in die Hände zu kriegen. Zum Teufel, der Trainer kommt nicht, hat er verschlafen? Ungeduldig blickt der Ingenieur hin und her. Da, zufällig aufschauend zum Höhenweg, bemerkt er oben etwas Sonderbares, etwas Helles, wirblig und bunt Bewegtes, das, durch die Ferne klein wie ein Insekt, in merkwürdigen Sprüngen den Weg herunterschollert. Hallo, was ist das? Schade, man hat nicht den Fernstecher zur Hand. Aber es kommt ja rasch näher, das Helle, Bunte, das vom Schwung Beflügelte: gleich wird man deutlicher sehen. Der Ingenieur schattet die Finger über die Augen und erkennt jetzt, unsinnig rasch stürmt da jemand den Bergweg herab, eine Frau muß es sein oder ein junges Mädchen, wehenden Haares und mit schwingenden Armen, wahrhaftig wie vom Wind getragen. Donnerwetter, wie unvorsichtig, im vollen Lauf so die Kurven herunterzusausen, tolles Ding, aber herrlich ist er anzuschauen, dieser lodernde Niederlauf. Unwillkürlich tritt der Sportsmann einen Schritt vor, um die hitzig Niederlaufende besser zu betrachten. Wie eine Göttin der Frühe sieht das Mädchen aus, rückflatternd die Mähne, mänadisch freischwebend die Arme, ganz Kühnheit und Schwung. Ihr Gesicht kann er noch nicht wahrnehmen, die Züge zerfließen in der Geschwindigkeit des Laufes und im Gegenschein der steigenden Sonne. Aber schließlich, hier am Tennisplatz muß sie ja vorbei, wenn sie zum Hotel will; hier endet der Weg. Immer näher kommt sie heran, schon kollern abgesprungene kleine Steine voraus, schon hört er ihren Schritt an der obern Kurve, und plötzlich saust sie her, zuckt, staunt und stoppt. Mit einem scharfen Ruck muß sie innehalten, um den Mann, der ihr absichtlich in den Weg getreten ist, nicht zu überrennen. Der Rückstoß wirft ihr Haar zurück und schlägt die Röcke klamm an die Beine. Erschrocken steht sie vor ihm, keuchend, den Atem angeschraubt, eine knappe Armlänge bloß. Dann löst plötzlich ein Lachen ihre jähe Überraschung. Sie hat den Tanzpartner von gestern erkannt: »Ach, Sie sind es«, stößt sie entlastet heraus. »Verzeihen Sie, beinahe hätte ich Sie überrannt.« Er antwortet nicht gleich, sondern sieht sie wohlgefällig, ja begeistert an, wie sie knapp vor ihm glüht, mit windgefrorenen Backen, mit auf und niederatmender Brust, noch ganz durchschüttert vom Schwung. Den sportlichen Mann bezaubert dieses Dastehn in Jugend und Kraft, er strahlt sie nur an. Dann erst lockert er die Haltung. »Allerhand Achtung! Das nenne ich Tempo. Das macht Ihnen keiner von den protokollierten Bergführern nach. Aber …« er sieht sie neuerdings an, prüfend, zustimmend und abermals lächelnd, »wenn ich einen so jungen und frischen Hals hätte, ich würde doch mehr achtgeben, ihn mir nicht zu brechen. Verflucht unvorsichtig gehen Sie mit sich um! Ein Glück, daß nur ich das gesehen habe und nicht Ihre Tante. Und vor allem sollten Sie solche morgendlichen Extratouren nicht allein machen. Wenn Sie einmal einen mittelmäßig geübten Begleiter brauchen, der Unterzeichnete hält sich bestens empfohlen.« Wieder sieht er sie an, und sie fühlt sich verlegen werden von der unverhofften, gleichsam in einen Stoß gefaßten Werbung seines Blicks. Noch nie hat ein Mann sie so leidenschaftlich bewundernd angesehen, bis in die Seele spürt sie das kribblig Eindringende dieser neuen Lust. Um von ihrer Verlegenheit loszukommen, zeigt sie ihren Blumenstrauß. »Sehen Sie, meine Beute! Ganz frisch oben gepflückt, sind sie nicht herrlich?« »Ja, herrlich«, antwortet er mit gespannter Stimme und sieht dabei quer über die Blumen hinweg ihr in die Augen. Immer verlegener fühlt sie sich werden unter dieser eindringlichen und beinahe zudringlichen Huldigung. »Verzeihen Sie, aber ich muß jetzt zum Frühstück«, entschuldigt sie sich, »ich fürchte, ich bin ohnehin schon zu spät«, und will an ihm vorbei. Er verbeugt sich und gibt ihr den Weg frei, aber im Rücken spürt sie noch mit dem unfehlbaren Instinkt der Frau in den Nerven, daß dieser Mann ihr nachblickt; unwillkürlich spannt sie ihren Körper beim Wenden im Schritt. Und wie der starke Atem der Bergblumen und das tonische Arom der durchwürzten Luft geht das unverhoffte Überraschtsein in ihr Blut, daß ein Mann sie auf leidenschaftliche Art schön findet und sie vielleicht begehrt.
Noch wie sie in die Halle tritt, wogt dieser Rausch in ihr. Dumpf scheint ihr mit einmal diese eingesperrte Luft, alles lastet ihr plötzlich zu eng, zu schwer am Körper. In der Garderobe wirft sie die Kappe hin, den Sweater, den Gürtel, alles was engt, was drückt, am liebsten risse sie die Kleider von der prickelnden, erregten Haut. Vom Frühstückstisch staunen die beiden alten Leute auf, wie sie plötzlich in den Saal tritt, scharfen beschwingten Schritts, glühend die Wangen, die Nüstern bebend, irgendwie größer, gesünder, geschmeidiger als gestern. Sie legt das Büschel Alpenblau, taufeucht noch und glitzernd von farbig zerquellenden Eiskristallen, der Tante hin: »Für dich heute selbst gepflückt, ganz oben am … ich weiß gar nicht, wie der Berg heißt, ich bin nur so hinaufgelaufen, ah« – sie atmet tief – »es war wunderbar.« Die Tante sieht sie bewundernd an. »Du Teufelsding! Gleich vom Bett aus ungefrühstückt in die Berge! Da könnte sich unsereins ein Beispiel nehmen, das täte besser als alle Massagen. But look, Anthony, sieh dir sie nur einmal an, nicht zum Wiedererkennen. Der ist die Luft gründlich in die Wangen gefahren. Du glühst ja ganz, Kind! Aber jetzt erzähl auch, wo du das alles hergeholt hast.« Und Christine erzählt und merkt nicht, wie rasch, wie gierig und unziemlich viel sie dabei ißt. Die Butterschale, Honig und Jam leeren sich unheimlich schnell, zwinkernd winkt der alte Herr dem leise lächelnden Kellner, den Brotkorb mit den weißen schmackhaften Kipfeln abermals zu füllen. Aber sie beachtet, ganz in ihre Begeisterung verloren, gar nicht das immer breitere Schmunzeln der beiden über ihren barbarischen Appetit, sie spürt nur, wie wohlig ihr die frostübertauten Wangen aufbrennen. Den Körper entspannt, kauend, schwätzend, lachend lehnt sie sich unbekümmert in den Strohfauteuil zurück, die guten Gesichter der beiden machen ihr immer neuen Mut, ungestüm prasselt sie ihre aufgestaute Begeisterung heraus, und plötzlich, ganz den erstaunten Zublick der Nachbarn vergessend, spannt sie mitten im Erzählen die Arme weit auseinander: »Ach Tante, mir war, als wüßte ich überhaupt zum erstenmal, was Atmen heißt.«
So mächtig angerissen, strömt der ganze Tag an immer andern Ufern der Entzückung leidenschaftlich weiter. Um zehn Uhr, sie sitzt noch am Frühstückstisch, kein Stück Weißbrot liegt mehr im Körbchen, dermaßen gründlich hat ihr Berghunger aufgeräumt, erscheint General Elkins in seinem scharf schnittigen Sportdress und mahnt zur versprochenen Autofahrt. Hinter ihr respektvoll schreitend, geleitet er sie zu seinem Wagen – vornehmste englische Marke, spiegelnd in Nickel und Lack, der Chauffeur, helläugig und wohlrasiert, selbst ein englischer Gentleman; General Elkins macht ihr den Sitz bequem, breitet Decken über, dann erst, noch einmal besonders den Hut lüftend, nimmt er an ihrer Seite Platz. Dieser Respekt macht Christine ein wenig wirr, als Betrügerin fühlt sie sich vor der betonten und fast demütigen Höflichkeit dieses Mannes. Wer bin ich denn, denkt sie, daß er mich so behandelt? Mein Gott, wenn ei je ahnte, wie ich sonst sitze, hingenagelt auf den alten Postsessel vor dem Postpult, eingeschraubt in dumme, niedrige Handlangerei! Aber ein Ruck am Volant und schon federt die schnell wachsende Geschwindigkeit jede Erinnerung fort. Mit kindlichem Stolz bemerkt sie, wie in den engen Straßen des Kurorts, wo der Motor seine gedrängte Kraft noch nicht loslegen kann, die fremden Leute bewundernd aufblicken zu der selbst hier auffallend vornehmen Marke des Wagens, wie mit einem leichten und ehrfürchtigen Neid allerhand Blicke sich zu ihr als der vermeintlichen Besitzerin heben. General Elkins erklärt ihr die Landschaft und gerät als gelernter Geograph wie alle Fachleute dabei in Ausführlichkeiten, aber die vorgebeugte, lauschende, sichtlich aufmerksame Art, mit der ihm dieses Mädchen zuhört, scheint ihn wohlig anzuregen. Sein etwas kahles und kaltes Gesicht verliert allmählich den englischen Frost, ein gütiges Lächeln macht die etwas zu herben und dünnen Lippen freundlicher, wenn er ihr jugendliches »Ach« oder »Herrlich«, ihr begeistertes Umwenden und Anschauen bei jedem neuen Ausblick beobachtet. Immer wieder streift von der Seite ein fast wehmütig lächelnder Blick ihr frisches Profil, und an der Srürmischkeit ihrer Begeisterung lockert sich seine Zurückhaltung. Immer geschwinder saust der Chauffeur. Wie auf einem Teppich, weich und lautlos läuft der köstliche Wagen, kein harter Ton seiner metallischen Brust verrät im Anstieg die mindeste Anstrengung, klug und geschmeidig paßt er sich den verwegensten Kurven an, und einzig die immer wuchtiger ansausende Luft verrät das steigende Tempo, indem herrliches Gefühl der Sicherheit sich der Lust der Geschwindigkeit rauschhaft beimengt. Immer düsterer wird das Tal, streng schieben sich die Felsen zusammen. Endlich bei einem Ausblick stoppt der Chauffeur. »Maloja«, erklärt General Elkins und geleitet sie mit der gleichen ehrerbietigen Höflichkeit aus dem Wagen. Großartig ist der Ausblick in die Tiefe; in kunstvollen Kehren stürzt die Straße wie ein Sturzbach hinab; man fühlt, das Gebirge ermattet hier, es fehlt ihm die Kraft, sich länger zu Höhen und Gletschern zu türmen, mit einem Ruck wirft es sich hinab in ein fernes unübersehbares Tal. »Hier unten beginnt die Tiefebene, beginnt Italien«, zeigt ihr Elkins. »Italien«, staunt Christine auf, »so nahe ist das, wirklich so nahe?« In diesem Aufstaunen verrät sich so viel sehnsüchtig vorstoßende Begier, daß Elkins unwillkürlich fragt: »Sind Sie dort nie gewesen?« »Nein, nie.« Und dieses »Nie« ist so heiß, so leidenschaftlich betont, so sehnsüchtig gesagt, daß all die geheime Angst darin mitklingt: ich werde es nie, ich werde es niemals sehen. Sie merkt sofort den zu lauten Überschlag im Ton, schämt sich, und aus Verlegenheit, er könnte ihre tiefsten Gedanken, ihre heimliche Angst wegen ihrer Armut erraten, versucht sie das Gespräch von sich abzulenken und fragt, ziemlich töricht, den Begleiter: »Sie kennen es natürlich, General?« Der lächelt ernst und beinahe melancholisch. »Wo habe ich mich nicht herumgetrieben? Ich war dreimal um die Welt, vergessen Sie nicht, ich bin ein alter Mann.« »Nein, nein!« protestiert sie ganz erschrocken. »Wie können Sie so etwas sagen!« Und derart ehrlich ist dieses Erschrecken, derart leidenschaftlich echt der Protest dieses jungen Mädchens, daß der Achtundsechzigjährige plötzlich Wärme in den Wangen fühlt. Derart heiß, derart hingerissen wird er sie vielleicht nie mehr hören. Unwillkürlich wird seine Stimme weich. »Sie haben junge Augen, Miss van Boolen, darum sehen Sie alles jünger, als es wirklich ist. Hoffentlich haben Sie recht. Vielleicht bin ich wirklich noch nicht so alt und grau wie meine Haare. Aber was gäbe ich darum, könnte ich Italien noch einmal zum erstenmal sehen.« Wieder blickt er sie an, seine Augen bekommen plötzlich die ungewisse unterwürfige Scheu, wie sie oftmals die älteren Männer vor jungen Mädchen empfinden, als wollten sie um Nachsicht bitten, nicht mehr jung zu sein. Christine ist merkwürdig gerührt von diesem Blick. Irgendwie muß sie auf einmal an ihren Vater denken und wie sie es liebte, dem alten gebeugten Mann manchmal zart und beinahe fromm über das weiße Haar zu streichen: es war derselbe Blick dankbar gütigen Aufschauens. Am Rückweg spricht Lord Elkins wenig, er scheint nachdenklich, irgendwie heimlich erregt. Wie sie wieder beim Hotel vorfahren, springt er mit beinahe betonter Gelenkigkeit voraus aus dem Wagen, um dem Chauffeur zuvorzukommen und ihr persönlich beim Aussteigen zu helfen. »Ich danke Ihnen sehr für den schönen Ausflug«, sagt er, ehe sie die Lippe regen kann, um ihm zu danken, »es war der beste für mich seit langer Zeit.«
Begeistert erzählt sie der Tante bei Tisch, wie gütig, wie freundlich, General Elkins gewesen. Die nickt anteilnehmend: »Gut, daß du ihn etwas aufgeheitert hast, er hat viel Unglück gehabt, seine Frau ist ihm jung gestorben, während er auf seiner Expedition in Tibet war. Noch vier Monate hat er ihr jeden Tag geschrieben, weil ihn die Nachricht nicht erreichte, erst als er zurückkam, fand er uneröffnet den ganzen Stoß Briefe. Und sein einziger Sohn ist vom Flugzeug bei Soissons von den Deutschen abgeschossen worden, am gleichen Tage, wo er selbst verwundet wurde. Jetzt lebt er allein auf seinem riesigen Castle bei Nottingham. Ich verstehe, daß er so viel reist, er flüchtet eigentlich ununterbrochen vor diesen Erinnerungen. Aber laß ihn nichts merken, sprich nicht davon, er bekommt gleich Tränen in die Augen.« Christine hört ergriffen zu. Daran hat sie gar nicht gedacht, daß es auch hier oben in dieser halkyonischen Welt Unglück geben kann. Aus ihrem eigenen Erleben hat sie gemeint, alle Menschen müßten hier glücklich sein. Am liebsten möchte sie aufstehen und dem alten Mann, der seine geheime Trauer mit so viel Haltung verbirgt, die Hand drücken. Unwillkürlich sieht sie hinüber zum andern Ende des Speisesaals. Dort sitzt er soldatisch aufgestrafft, völlig allein. Zufällig hebt auch er den Blick, und wie er dem ihren begegnet, grüßt er leise mit einer Verbeugung. Sie ist erschüttert über sein Einsamsein in diesem weiten, von Licht und Luxus strahlenden Raum. Wirklich, man sollte gut sein zu einem so guten Menschen.
Aber wie wenig Gelegenheit bleibt hier an einen einzelnen zu denken, zu rasch strömt die Zeit, zu viel unvermutete Überraschungen wirbelt sie mit in ihrem heitern Sturz: nicht eine Minute, die nicht in ihrem fließenden Tropfen Zeit neue Beglückung spiegelte. Nach Tisch, Tante und Onkel gehen in ihr Zimmer zu kurzer Nachmittagsrast, will Christine in einem dieser weichen angepaßten Fauteuils der Terrasse still sitzen, um endlich einmal die erlebte Verwandlung nachsinnend zu genießen. Aber kaum sie sich hinlehnt, die Bilder des überfüllten Tages nun in träumerisch sanfterer Ordnung langsam vorüberziehen zu lassen, steht schon ihr Tänzer von gestern, der scharfäugige deutsche Ingenieur vor ihr und bietet ihr – »Auf, auf!« – die schwere Hand, sie möchte hinüberkommen an ihren Tisch, seine Freunde hätten gebeten, mit ihr bekannt zu werden. Unsicher, noch hat sie Furcht vor allem Neuen, aber die Angst überwiegt, für unhöflich zu gelten, gibt sie nach und läßt sich an den belebten Tisch führen, wo leger plaudernd ein Dutzend jüngerer Menschen beisammensitzt. Zu ihrem äußersten Schreck stellt sie der Ingenieur jedem einzelnen der Tafelrunde als Fräulein von Boolen vor, und es scheint, daß der holländische Onkelsname, auf deutschen Adel umgestellt, bei allen – sie merkt es am höflichen Aufstehen der Herren – besonderen Respekt auslöst, offenbar klingt bei ihnen unwillkürliche Erinnerung an die reichste Familie Deutschlands, die Krupp-Bohlens, nach. Christine fühlt sich erröten: um Gottes willen, was sagt er da? Aber sie hat nicht die Geistesgegenwart, zu korrigieren, vor diesen fremden höflichen Menschen kann man doch nicht einen von ihnen Lügen strafen und erklären: Nein, nein, ich heiße nicht von Boolen, ich heiße Hoflehner. So duldet sie mit schlechtem Gewissen und nervösem Zittern in den Fingerspitzen den unbeabsichtigten Betrug. Alle diese jungen Menschen, ein frisches, flattriges Mädchen aus Mannheim, ein Wiener Arzt, ein französischer Bankdirektorssohn, ein etwas lauter Amerikaner und ein paar Leute, deren Namen sie nicht versteht, bemühen sich sichtlich um sie: jeder fragt sie, eigentlich spricht man nur mit ihr und zu ihr. In den ersten Minuten ist Christine befangen, jedesmal zuckt sie leicht auf, wenn jemand zu ihr »Fräulein von Boolen« sagt, immer ist es wie ein Stich in ein empfindliches Gewebe, aber allmählich gerät sie in den geselligen Übermut der jungen Menschen hinein, freut sich ihrer raschen Vertraulichkeit und plaudert schließlich unbefangen mit; alle Menschen meinen es doch hier so herzlich mit ihr, wozu Angst? Dann kommt die Tante, freut sich, ihren Schützling so wohl aufgenommen zu sehen, lächelt gutmütig zwinkernd ihr zu, wenn die andern sie Fräulein von Boolen titulieren, schließlich mahnt sie an den gemeinsamen Spaziergang, indes der Onkel unaufhaltsam den Nachmittag durchpokere. Ist das wirklich noch dieselbe Straße wie gestern oder sieht bloß die geöffnete und geweitete Seele heller und freudiger als die beengte? Jedenfalls: ganz neu erscheint Christine der Weg, den sie schon einmal, aber gleichsam noch mit verhängten Augen gegangen, farbiger, festlicher der Ausblick, als ob die Berge noch gewachsen, die Matten malachitfarbener oder satter, die Luft kristallischer und reiner und alle Menschen schöner geworden seien, helläugiger, freundlicher, zutraulicher. Alles hat seit gestern an Fremdheit verloren, mit einem kleinen Stolz betrachtet sie die massigen Blöcke der Hotels, seit sie weiß, daß keines schöner ist als jenes, in dem sie selber wohnen, mit einem Anfang von wissendem Verständnis die Auslagen, nicht mehr so überirdisch, so aus anderer, höherer Kaste scheinen ihr die schlankbeinigen, parfümierten Frauen in den Autos, seit sie selbst in einem so kostbaren gefahren. Nicht mehr unzugehörig fühlt sie sich unter den andern, und unwillkürlich ahmt ihr Schritt den leichten sorglosen kühnen Gang der sportgemuskelten Mädchen nach. In einer Konditorei wird Rast gehalten: abermals staunt die Tante, welchen Appetit Christine entfaltet. Tut das die starke zehrende Luft oder sind vehemente Gefühle wirklich eine chemische Verbrennung von Kraft, die neu ersetzt werden muß – jedenfalls, sie vertilgt mühelos drei, vier der mit Honig bestrichenen Brötchen zur Schokolade und dann noch Schokoladenbonbons und schaumige Bäckereien: ihr ist, als könne sie unablässig so weiter essen, weiter sprechen, weiter schauen, weiter genießen, als müßte sie einen ungeheuren Hunger von Jahren und Jahren nach allem und allem in dieser grob animalischen Körperlust wettmachen. Zwischendurch spürt sie männliche Blicke von nachbarlichen Tischen sie freundlich und fragend betasten, unbewußt spannt sie die Brust, hebt sie den Nacken, hält sie einen lächelnden Mund selbst neugierig dieser Neugier entgegen: wer seid ihr, denen ich gefalle, und wer bin ich selbst?
Um sechs Uhr, nach einem neuerlichen Shopping, landen sie im Hotel. Die Tante hat noch allerhand Kleinigkeiten entdeckt, die ihr fehlen. Jetzt klopft die freundliche Spenderin, der die verblüffende Verwandlung von Bedrücktheit zu Begeisterung ununterbrochen Spaß bereitet, ihr leicht auf die Hand: »Jetzt also könntest du mir einen schweren Dienst abnehmen! Hast du Courage?« Christine lacht. Was kann hier schwer sein? Hier oben in dieser seligen Welt wird doch alles zum Spiel. »Nein, stell dir’s nicht gar zu bequem vor! Du sollst in die Löwenhöhle und Anthony vorsichtig von seiner Bakkaratpartie losschrauben. Vorsichtig, ich sag dir’s gleich, denn wenn ihn wer da stört, knurrt er manchmal sogar sehr kräftig. Aber ich darf nicht nachgeben, der Arzt hat verordnet, mindestens eine Stunde vor dem Essen muß er seine Pillen nehmen, und schließlich, von vier bis sechs Pokerei im dumpfen Zimmer genügt reichlich. Im ersten Stock, Nr. 112, das Appartement von Mister Vornemann von dem großen Sprit-Trust. Dort klopfst du an und sagst Anthony nur, du kämst in meinem Auftrag, dann weiß er schon alles. Vielleicht wird er dich zuerst anbrummen aber nein, dich wird er nicht anbrummen! Vor dir hat er noch Respekt.«
Nicht sehr begeistert übernimmt Christine diesen Auftrag. Wenn der Onkel gern spielt, warum soll gerade sie ihn stören! Aber sie wagt keine Widerrede, klopft also leise an. Die Herren schauen sämtlich auf von ihrem Tisch, der zu einem Rechteck lang ausgezogen auf grünem Tuch sonderbare Karos und Zahlen zeigt: junge Mädchen scheinen hier selten einzudringen. Der Onkel, erst verblüfft, beginnt breit zu lachen. »Oh I see, dazu hat dich Claire abgerichtet! Dazu mißbraucht sie dich! Meine Herren – dies ist meine Nichte! Meine Frau schickt sie, um Schluß zu machen; ich schlage vor« (er zieht die Uhr) »noch genau zehn Minuten. Das erlaubst du doch?« Christine lächelt ungewiß. »Na, ich nehm’s auf meine Kappe«, sagt stolz, vor den Herren seine Autorität zu zeigen, Anthony. »Und jetzt ganz still! Setz dich her zu mir und bring mir Glück, ich hab’s heute nötig.« Christine setzt sich scheu halb hinter ihn. Sie versteht nichts von dem, was hier geschieht. Irgendein längliches Ding, einer Schaufel oder einem Schlitten ähnlich, hält einer in der Hand und zieht davon Karten ab, etwas wird gesagt und dann wandern runde Zelluloidmarken, weiß, rot, grün, gelb hin und her, ein Rechen kehrt sie zusammen. Langweilig ist das eigentlich, denkt Christine; daß so reiche, vornehme Männer um solche runde Dinger spielen, wie komisch; aber irgendwie ist sie doch stolz, hier dazusitzen im breiten Schatten des Onkels, neben Männern, die sicher Mächtige der Welt sind, man sieht es an ihren großen Diamantringen, an ihren goldenen Bleistiften, ihren harten und energisch ausgearbeiteten Zügen, an ihren Fäusten auch, von denen man spürt, daß sie in Sitzungen wie Hämmer auf den Tisch schlagen können; Christine sieht einen nach dem andern respektvoll an und achtet gar nicht auf das Spiel, das sie nicht versteht, und sie macht ziemlich törichte Augen, wie der Onkel sich plötzlich zu ihr umwendet und fragt: »Soll ich ihn nehmen?« Christine hat das eine schon verstanden, daß einer Bankhalter ist und gegen alle pariert, also hohes Spiel macht. Soll sie ihm zusagen? Am liebsten atmete sie: Nein, um Gottes willen nein!, nur um keine Verantwortung zu übernehmen. Aber sie schämt sich, feige zu erscheinen, so stammelt sie ein unsicheres »Ja«. »Gut«, spaßt der Onkel, »auf deine Verantwortung. Und halbpart zwischen uns.« Das unverständliche Kartenschlagen beginnt abermals, sie begreift nichts davon, meint aber zu spüren, daß der Onkel gewinnt. Seine Bewegungen werden behender, seltsam glucksende Laute rutschen ihm aus der Kehle, er scheint sich höllisch zu vergnügen. Schließlich den Schlitten weitergebend, wendet er sich zu ihr: »Ausgezeichnet hast du gearbeitet. Dafür wird aber auch redlich geteilt, da dein Part.« Er streift von seinem Haufen ein paar Spielmarken weg, zwei gelbe, drei rote und eine weiße: lachend nimmt sie Christine, ohne irgend etwas zu denken. »Noch fünf Minuten«, mahnt der Herr, der die Uhr vor sich liegen hat. »Vorwärts, vorwärts, keine Ermüdung vorschützen.« Die fünf Minuten gehen rasch um, alle stehen auf, wechseln, schieben und tauschen ihre Marken ein. Christine hat die Spielmarken auf den Tisch gelegt und wartet bescheiden unterdes an der Tür. Da ruft der Onkel: »Nun, und deine Chips?« Christine nähert sich, ohne zu verstehen. »So laß sie dir doch einwechseln.« Christine versteht noch immer nicht, da führt er sie zu einem der Herren, der nach flüchtigem Blick »Zweihundertfünfundfünfzig« sagt und zwei Hundertfrankenscheine, einen Fünfzigfrankenschein und einen dieser schweren silbernen Taler ihr entgegenhält. Die Überraschte starrt auf das fremde Geld auf dem grünen Tisch, ungewiß sieht sie den Onkel an. »Aber nimm doch«, sagt er fast böse, »das ist doch dein Anteil! Und jetzt vorwärts, wir müssen pünktlich sein.«
Erschrocken hält Christine die zwei Scheine und den silbernen Taler im Nest der zusammengekrampften Finger. Sie kann es noch nicht glauben. Ganz entgeistert starrt sie oben im Zimmer immer wieder die beiden ihr in die Hand geschneiten regenbogenfarbigen rechteckigen Papiere an und an. Zweihundertfünfundfünfzig Franken, sie überrechnet rasch, rund dreihundertfünfzig Schilling vier Monate, ein Dritteljahr muß sie daheim arbeiten, um so furchtbar viel zusammenzubekommen, in ihrem Amt muß sie pünktlich sitzen von 8 bis 12, von 2 bis 6, und hier fließt das einem mühelos in zehn Minuten in die Hand. Kann das wahr sein und gerecht? Unfaßbar! Aber die Scheine knistern in den Fingern giltig und gut und gehören ihr, der Onkel hat es gesagt, ihr, ihrem neuen Ich, dieser neuen unfaßbaren andern in ihr. Diese knisternde Banknote, noch hat sie auf einmal so hohen Betrag nie ihr eigen genannt. Ein gemischtes Gefühl schauert ihr über den Rücken, Rieseln im Mark, halb Schauer, halb Lust, wie sie ängstlich und zärtlich zugleich diese knisternden Scheine im Koffer verschließt und versteckt, als wären sie gestohlen. Denn nicht kann ihr Gewissen ganz die Zwiefältigkeit begreifen, daß dies schwere dunkle Geld, Nickelstück um Nickelstück zu Hause mit sparsam ängstlicher Hand zusammengerafft, hier so flatternd leichtfertig einem zufliegt; ein ängstlich wilder Schauer wie vor einem Frevel verwirrt und beunruhigt ihr ganzes Wesen bis in die unterst unbewußten Schächte des Gefühls, etwas in ihr möchte sich’s erklären, aber dazu bleibt keine Zeit, sie muß sich ankleiden, ein Kleid wählen, eines der köstlichen drei, und wieder hinab in den Saal, sich fühlen, erleben, berauschen, tief untertauchen in das feurig schöne Geström der Verschwendung.
In einem Namen wirkt geheimnisvolle Kraft der Verwandlung; wie ein Ring um den Finger, scheint er vorerst nur zufällig und unverpflichtend gelegt, aber ehe das Bewußtsein seiner magischen Kraft gewahr wird, wächst er nach innen unter die Haut und verbindet sich schicksalhaft der geistigen Existenz eines Menschen. Christine hört auf den neuen Namen von Boolen in den ersten Tagen mit heimlichem Übermut (ach, ihr erkennt mich nicht! Wenn ihr wüßtet!). Sie trägt ihn leichtfertig wie man eine Maske auf einer Redoute trägt. Aber bald vergißt sie den unbeabsichtigten Betrug, betrügt sich selbst und wird, die sie nun scheinen soll. Was ihr anfangs peinlich gewesen, adelig angesprochen als reiche Fremde zu werden, nach einem Tag ist er ihr schon prickelndes Behagen, am zweiten, am dritten Tage bereits völlig selbstverständlich. Als sie einer der Herren nach ihrem Vornamen fragt, scheint ihr Christine (zu Hause ruft man sie Christl) zu wenig klanghaft für den angeborgten Titel, verwegen antwortet sie »Christiane«, und so heißt sie nun, »Christiane von Boolen« an allen Tischen im ganzen Haus. So wird sie vorgestellt, so läßt sie sich grüßen, widerstandslos gewöhnt sie sich in den Namen hinein, wie in das Zimmer mit den sanften Farben und den spiegelnden Möbeln, wie in den Luxus und die Leichtigkeit des Hotels, in die fraglose Selbstverständlichkeit des Geldes und den ganzen, aus hundert einzelnen Elementen gewobenen Rausch der Verführung. Wenn jemand Wissender sie jetzt plötzlich mit Fräulein Hoflehner anredete, sie würde aufschrecken wie eine Schlafwandlerin und niederstürzen vom First ihres Traums, so völlig ist der neue Name in sie hineingewachsen, so leidenschaftlich ist sie überzeugt, eine andere, jene andere zu sein.
Aber ist sie nicht wirklich schon eine andere geworden in diesen wenigen Tagen, hat nicht tatsächlich die Hochalpenluft andern Druck in ihre Adern geschraubt, die reichlichere, üppigere Nahrung bereits anders und farbiger die Zellen im Blut gemischt? Unleugbar, Christiane von Boolen sieht anders aus, jünger, frischer als ihre Aschenputtelschwester, die Postassistentin Hoflehner, und kaum mehr ihr ähnlich. Bergsonne hat die stubenblasse, leicht aschenfarbene Haut in indianisches Braun getönt, straffer spannen die Muskeln den Nacken, ein neuer Gang ist ihr mit den neuen Kleidern gewachsen, lockerer in den Gelenken, weicher und sinnlicher in den Hüften und mit einem Aufstoß von Selbstbewußtsein bei jedem Schritte. Das stete Umtummeln im Freien hat den Körper erstaunlich aufgefrischt, Tanz ihn geschmeidigt, und diese neuentdeckte Kraft, dieses unvermutete Jungsein will sich unablässig proben, denn hitziger pocht das Herz unter der atmenden Brust, immer spürt sie innen ein moussierendes Brausen und Gären, ein Dehnen und Spannen, elektrisch aufprickelnd bis in die Fingerspitzen, fremde, neue, starke Lust. Ruhig zu sitzen, etwas gemächlich zu tun, wird ihr mit einmal schwer, immer muß sie ausfahren und sich tummeln, wie ein Windstoß fährt sie durch die Zimmer, immer beschäftigt, immer von Neugier gejagt, bald da, bald dort, türheraus, türherein, treppauf und treppab, und die Treppe geht sie niemals Schritt für Schritt, sondern immer drei Stufen auf einmal, immer als müßte sie etwas versäumen, immer vom innern Sturme getrieben. Immer müssen ihre Hände, ihre Finger jemanden oder etwas anfassen, so stark drängt ein Spieltrieb, ein Zärtlichkeits-, ein Dankbarkeitsbedürfnis aus ihr heraus, manchmal, urplötzlich muß sie die Arme spannen und ins Leere gähnen, um nicht laut zu lachen oder zu schreien. So stark ist die Spannung, die von ihrem vehementen Jungsein ausgeht, daß sie wellenhaft weiterwirkt: wer ihr nahekommt, gerät sofort in einen Wirbel von Tumult und Übermut. Wo sie sitzt, dort lacht und dröhnt es, dort wird er sofort aufgemischt, jedes Gespräch flackert hell und klingend auf, sobald sie sich, immer glücklodernd, immer spaßfreudig einmengt, und nicht nur die Tante und der Onkel, sondern ganz fremde Gäste blicken ihrer unverhaltenen Begeisterung wohlgefällig nach. Wie ein Stein durchs Fenster klirrt sie in die Hotelhalle hinein, hinter ihr kreiselt, mächtig angeschwungen, die rückgeworfene Drehtür, den kleinen Boy, der sie halten soll, schlägt sie lustig mit dem Handschuh auf die Schulter, ein Ruck reißt die Kappe vom Haar, der zweite den Sweater vom Leib, alles drückt, alles engt ihr die stürmische Bewegung. Dann stellt sie sich unbekümmert vor den Spiegel, um sich herzurichten: ein paar Striche am Kleid, die zerrüttete Mähne zurückgeschüttelt, fertig, Schluß, und noch reichlich zerstrubbelt, die Wangen heiß gestriemt vom Wind, steuert sie geradewegs auf einen Tisch zu – sie kennt schon alle Leute –, um zu erzählen. Immer hat sie was zu erzählen, immer hat sie gerade was erlebt, immer war es herrlich, wunderbar, unbeschreiblich, jedes füllt sie heiß mit ihrer dampfenden Begeisterung, und selbst der Fremdeste spürt, hier kann ein überfüllter Mensch den Überdruck seiner Dankbarkeit nicht anders ertragen, als daß er sie weitergibt. Sie kann keinen Hund sehen, ohne ihn zu streicheln, jedes Kind nimmt sie auf den Schoß, um ihm die Wangen zu liebkosen, für jedes Dienstmädchen, für jeden Kellner findet sie ein rasches gefälliges Wort. Sitzt jemand mürrisch oder gleichgiltig da, gleich rüttelt sie ihn mit gutmütigem Spaß, jedes Kleid bewundert sie, jeden Ring, jeden Fotografenapparat, jedes Zigarettenetui, alles nimmt sie in die Hand und leuchtet es an mit Begeisterung. Über jeden Scherz lacht sie, jede Speise findet sie herrlich, jeden Menschen gut, jedes Gespräch amüsant: alles, alles ist herrlich in dieser obern, dieser einzigen Welt. Unwiderstehlich ist dieser Elan ihres leidenschaftlichen Wohlwollens, jeder der mit ihr beisammen ist, wird unwillkürlich von ihrer Vehemenz angesprüht, selbst die griesgrämige Geheimrätin in ihrem Armstuhl bekommt vergnügte Augen, wenn sie ihr hinter dem Lorgnon nachblickt, der Portier grüßt ihr besonders freundlich zu, die steifleinenen Kellner rücken ihr sorglich den Stuhl zurecht, und gerade die älteren, strengeren Leute freuen sich über so viel Froheit und Empfänglichkeit. Trotz allerhand Kopfschütteln über einzelne Naivitäten und Überschwenglichkeiten begegnet Christine von allen Seiten Gegenblicken herzlicher Einladung, und nach drei, vier Tagen ist das allgemeine Votum von Lord Elkins bis zum letzten Pagen und Liftboy, daß dieses Fräulein von Boolen ein bezaubernd herzliches Wesen sei, »a charming girl«. Und sie fühlt diese wohlgesinnten Blicke, sie genießt ihr Gerngesehensein als Steigerung ihres Daseins und Dabeiseindürfens und wird dank dieser allgemeinen Neigung noch glücklicher in ihrem Glück.
Ein persönliches Interesse, eine werbende Neigung zeigt von allen im Hotel am deutlichsten der Mann, von dem sie solche Huldigung am wenigsten zu erwarten gewagt hätte, General Elkins. Mit der Scheu des Alters, mit der zarten und rührenden Unsicherheit eines Mannes, der die gefährlichen Fünfzig längst überschritten hat, sucht er immer wieder unauffällige Gelegenheit, ihr nahe zu sein. Sogar die Tante bemerkt, daß er sich heller, jugendlicher kleidet, Krawatten farbiger wählt, auch meint sie festzustellen (vielleicht irrt sie sich?), das Weiß an den Schläfen sei, offenbar auf künstliche Weise, wieder dunkler geworden. Auffallend oft kommt er unter allerlei Vorwänden an den Tisch der Tante, schickt – um nicht allzu deutlich zu werden – beiden Damen täglich Blumen auf das Zimmer, er bringt Christine Bücher, deutsche und eigens für sie gekaufte, vor allem über die Besteigung des Matterhorns, nur weil sie einmal im Gespräch zufällig fragte, wer die ersten gewesen, die sich auf diesen Berg gewagt, und über Sven Hedins Tibetexpedition. Eines Vormittags, da plötzlich eingebrochener Regen jeden Ausflug verbietet, setzt er sich mit Christine in eine Ecke der Halle und zeigt ihr Fotografien, sein Haus, seinen Garten, seine Hunde. Es ist ein seltsam hohes Kastell, vielleicht noch aus normannischer Zeit. Efeu klettert noch um die Mauern runder kriegerischer Türme, innen zeigen die Bilder weite Hallen mit altmodischen Kaminen, gerahmten Familienbildern, Schiffsmodellen und schweren Atlanten; es muß düster sein, dort winters allein zu wohnen, denkt sie, und als hätte er ihren Gedanken erraten, sagt er, auf die Fotografien, eine Koppel Jagdhunde, deutend: »Wenn ich die nicht hätte, wäre ich jetzt dort ganz allein«; die erste Andeutung vom Tode seiner Frau, vom Tode seines Sohnes. Ein leiser Schauer überläuft sie, wie sie seine scheu an ihr vorbeitastenden Augen sieht (sofort blickt er wieder auf die Fotografien): warum sagt, warum zeigt er mir das alles, warum fragt er so merkwürdig ängstlich, ob ich in einem solchen englischen Haus mich wohl fühlen könnte, will er damit andeuten, der reiche vornehme Mann … nein, sie wagt es selbst nicht auszudenken. Zu unerfahren, kann sie nicht begreifen, daß dieser Lord, dieser General, der ihr unnahbar scheint, wolkenweit über ihrer Welt, mit der Mutlosigkeit eines alternden Mannes, der nicht mehr weiß, ob er noch zählt, und von Scham bedrängt ist, sich durch Werbung lächerlich zu machen, auf irgendein winziges Zeichen von ihr, auf ein ermutigendes Wort wartet; aber wie soll sie diese Mutlosigkeit verstehen, sie, die selbst keinen Mut hat, an sich zu glauben? Sie spürt die Andeutungen als Zeichen besonderer Sympathie gleichzeitig ängstlich und beglückt, ohne zu wagen, ihnen zu glauben, indes er sich quält, dies ihr verlegenes Ausweichen richtig zu deuten. Ganz betroffen steht sie immer auf von jedem Beisammensein, manchmal meint sie in dem scheuen seitlichen Blick eine wirkliche Werbung zu spüren, dann verwirrt sie wieder sein brüskes Förmlichwerden (der alte Mann reißt sich gewaltsam zurück, und sie begreift es nur nicht). Man müßte nachdenken: Was will er von mir, kann es möglich sein? Man müßte das ausdenken, ruhig zu Ende denken, ganz ruhig und klar denken.
Aber wie und wann hier nachdenken, wie überlegen, man läßt ihr ja keine Zeit. Kaum zeigt sie sich in der Halle, so ist schon einer da von der heitern Bande und zerrt sie irgendwohin: ausfahren, fotografieren, spielen, plaudern, tanzen, immer gibt’s gleich ein Hallo und Miteinander und Durcheinander. Den ganzen Tag knattert und flitzt dieses Feuerwerk beschäftigungsloser Geschäftigkeit, unablässig gibt es was zu sporten, zu rauchen, zu knabbern, zu lachen, und ohne Widerstand wirbelt sie mit, wenn irgendeiner dieser jungen Burschen nach dem Fräulein von Boolen ruft, denn wie ein Nein sagen und warum, sie sind ja so herzlich, diese jungen frischen Menschen, Burschen und Mädel, nie hat sie diese Art Jugend gekannt, immer sorglos und aufgekratzt, immer anders hübsch angezogen, immer Spaß auf den Lippen, immer Geld zwischen den Fingern, immer neue Amüsements im Kopf; kaum sitzt man mit ihnen, so schmettert das Grammophon schon zum Tanz, oder das Auto steht da und man klaubt und drückt sich zusammen, jung gegen jung, fünf oder sechs in einen Wagen, enger, als ob man sich umarmte, und saust dahin, 60, 80, 100 Kilometer, daß einem die Haare schmerzen. Oder man räkelt in der Bar mit übergeschlagenen Beinen, saugt kalte Drinks, die Zigarette im Mund, faul fleglerisch und locker, braucht sich keine Mühe zu geben und hört allerhand hübsche, kitzlige Geschichten, all das lernt sich so leicht und lockert einen so wunderbar auf, und mit gleichsam andern, neuen Lungen trinkt sie diese tonische Lebensluft. Manchmal spürt sie freilich dieses Warmwerden wie ein Wetterleuchten im Blut, besonders abends beim Tanz oder wenn im Dunkel einer dieser geschmeidigen jungen Männer schärfer herandrängt: auch bei ihnen spielt unter der Kameradschaft ein Werben mit, aber anders, offener, kühner, körperlicher, ein Werben, das die Ungewohnte manchmal erschreckt, etwa wenn sie im Dunkel des Autos eine harte Hand ihr Knie umschmeicheln fühlt oder beim Spaziergang das Unterfassen zärtlicher wird. Aber die andern Mädel, die Amerikanerin und Mannheimerin, dulden das alle ohne Ärger, quittieren höchstens allzu freche Finger mit kameradschaftlichem Klaps, warum zimperlich sich wehren, schließlich ist’s doch irgendwo wohl zu merken, wie der Ingenieur immer heftiger einsetzt oder der kleine Amerikaner zu einem Spaziergang sacht waldwärts locken möchte. Sie tut’s nicht, aber doch, mit einem kleinen, neuen Stolz fühlt sie das Begehrtsein, die neue Gewißheit, daß ihr warmer, nackter, unberührter Körper unter dem Kleid etwas ist, was Männer atmen, fühlen, betasten, genießen möchten. Tief unter die Haut spürt sie das alles wie einen feinen Rausch, aus unbekannten und betörenden Essenzen gemacht und ständig umworben von so viel fremden und bezaubernd eleganten Männern und selber schon schwindlig von diesem erregten Umringtsein, schüttelt sie sich einen Augenblick wach und fragt sich ganz erschrocken: »Wer bin ich? Wer bin ich denn eigentlich?«
»Wer bin ich denn? Und was finden sie alle an mir?« Mit immer wieder neuem Erstaunen fragt’s sich die Überraschte Tag für Tag. Jeden Tag drängen neue andere Zeichen der Aufmerksamkeit an sie heran. Kaum sie aufwacht, bringt das Mädchen schon Blumen ins Zimmer von Lord Elkins. Gestern hat ihr die Tante eine Ledertasche geschenkt und eine entzückende kleine, goldene Armbanduhr. Die fremden schlesischen Gutsbesitzer, Trenkwitz, haben sie eingeladen auf ihr Gut, der kleine Amerikaner hat ihr ein goldenes kleines Taschenfeuerzeug, das sie so sehr bewundert hatte, heimlich in die Ledertasche geschoben. Herzlicher als die eigene Schwester ist das kleine Mannheimer Mädel zu ihr, nachts bringt sie ihr noch Schokoladenbonbons herauf und sie plaudern bis Mitternacht. Der Ingenieur tanzt fast ausschließlich mit ihr, und jeden Tag wirbeln neue Menschen zu, und alle sind lieb und respektvoll und herzlich zu ihr, nur zeigen muß sie sich in der Halle und im Hotel und schon ist jemand da, sie einzuladen ins Auto, in die Bar, zum Tanz, zu irgendeinem Spaß und Spiel, nicht einen Augenblick läßt man sie allein, nicht eine Stunde ihr langweilig und leer. Und immer wieder fragt sie sich erstaunt: »Wer bin ich denn? Jahrelang sind die Menschen auf der Straße an mir vorbeigegangen und keiner hat auf mein Gesicht geachtet, jahrelang sitze ich jetzt dort im Dorf, keiner hat mir was geschenkt und nach mir gefragt. Ist es weil die Menschen dort alle so arm sind, macht die Armut die Menschen so müde und so mißtrauisch, oder ist plötzlich etwas in mir da, was immer schon da war und doch nicht da war, das nur noch nicht heraus konnte? War ich vielleicht wirklich schöner, als ich wagte zu sein, und klüger und anziehender und habe nur den Mut nicht gehabt, es zu glauben? Wer bin ich, wer bin ich eigentlich?« Immer fragt sie sich das in den kurzen Augenblicken, wo sie die Menschen allein lassen, und so geschieht etwas Sonderbares, das sie selbst nicht begreift: aus der Sicherheit wird abermals Unsicherheit. In den ersten Tagen war sie nur erstaunt und überrascht gewesen, daß alle diese fremden vornehmen, eleganten und bezaubernden Menschen sie als einen nehmen von ihnen. Jetzt aber, da sie spürt, daß sie besonders gefällt, daß sie mehr als die andern, mehr als diese rotblonde und so fabelhaft angezogene Amerikanerin, mehr als das witzige, lustige, spritzig kluge Mannheimer Mädel die Neigung, die Neugier, die Spannung all dieser Männer anzieht, wird sie von neuem unruhig. »Was wollen sie von mir?« fragt sie sich und wird immer unruhiger in ihrer Gegenwart. Denn es ist so sonderbar mit diesen jungen Menschen, zu Hause hat sie sich nie um Männer gekümmert, und wenn sie mit ihnen war, nicht ihre Gegenwart beunruhigt gespürt. Nie hat sich ein Gedanke gerührt, ein heimlicher oder sinnlicher, bei diesen schweren Provinzlern mit ihren plumpen, tappigen Händen, denen nur das Bier manchmal die Schwere wegnimmt, mit ihren groben, gleich gemein werdenden Spaßen und ihrer frechen Handgreiflichkeit. Nur Ekel hatte sie gespürt, wie vor Tieren, wenn einmal einer im Rausch aus dem Wirtshaus kommend ihr zuschnalzte oder sie im Amt mit süßlichen Komplimenten umwarb. Aber diese jungen Menschen hier, immer spiegelglatt rasiert und die Hände manikürt, die mit ihrer geschmeidigen Manier allergefährlichste Dinge so locker und lustig zu sagen wissen, die ihren Fingern auch bei der flüchtigsten Berührung Zärtlichkeit zu geben wissen, machen sie manchmal auf eine ganz neue Art neugierig und unruhig. Sie spürt, wie in ihr eigenes Lachen ein fremder Ton kommt, wie sie mit plötzlicher Angst wegrückt. Irgendwie fühlt sie sich unruhig gemacht in dieser scheinbar bloß kameradschaftlichen und doch gefährlichen Gegenwart, und besonders vor dem einen, der so deutlich andrängt und um sie wirbt wie der Ingenieur, spürt sie manchmal ein Gefühl wie eine leichte und doch wollüstige Schwindligkeit.
Glücklicherweise ist sie selten allein mit ihm, meist sind zwei oder drei Frauen mit, und in deren Gegenwart fühlt sie sich sicherer. Manchmal wirft sie einen kleinen Seitenblick aus ihrer Bedrängnis, ob die andern sich besser zu wehren wissen, und lernt, ohne es zu wollen, allerhand kleine Raffinements von ihnen, geheuchelte Erbitterung oder frechlustiges Darüberhinweg bei manchen zu körperlichen Keckheiten und vor allem die Kunst, rechtzeitig abzubrechen, wenn die Nähe gefährlich wird. Aber auch wenn sie nicht mit den Männern ist, spürt sie jetzt die Atmosphäre, besonders wenn sie mit der kleinen Mannheimerin plaudert, die mit einer ihr ganz unbekannten Offenheit über die heikelsten Themen spricht. Studentin der Chemie, klug und gerissen, übermütig, sinnlich, im letzten Augenblick doch beherrscht, sieht sie mit ihren scharfen schwarzen Augen alles, was vorgeht. Von ihr erfährt Christine alle Affairen des Hotels, daß das kleine grell geschminkte Persönchen mit den oxydierten Haaren gar nicht die Tochter des französischen Bankiers ist, als die er sie ausgibt, sondern seine Geliebte, daß sie zwar in zwei Zimmern schlafen, aber in der Nacht … Sie selber hat es gehört von nebenan … Und daß die Amerikanerin auf dem Schiff mit dem deutschen Filmstar etwas gehabt hat, es sei eine Wette gewesen zwischen drei Amerikanerinnen, wer ihn kriege, und daß der deutsche Major dort homosexuell sei, der Liftboy hätte dem Dienstmädel darüber einiges erzählt; als ganz natürliche, selbstverständliche Dinge, ohne Schatten einer Entrüstung plaudert die Neunzehnjährige im lockern Plauderton der Achtundzwanzigjährigen die ganze Chronique scandaleuse vor. Und Christine, die sich schämt, durch ein Erstaunen ihre Unerfahrenheit zu verraten, hört neugierig zu und blickt nur manchmal von der Seite das quicklebendige kleine Mädel mit einer Art schauriger Bewunderung an; dieses kleine schmale Körperchen, denkt sie, muß selbst schon allerhand erfahren haben, was ich nicht weiß, sie könnte sonst nicht so sicher und selbstverständlich davon reden, und unwillkürlich macht das Darandenken, an all diese Dinge, sie unruhig. Es ist als ob tausend neue winzige Poren in ihrer Haut aufgegangen wären und plötzlich Wärme in sich einsaugten, so brennt ihr manchmal die Haut, und mitten im Tanz spürt sie sich schwindlig werden. »Was ist mit mir?« fragt sie sich nach, eine Neugier hat in ihr begonnen zu wissen, wer sie selber ist, und nach der Entdeckung dieser neuen Welt sich selbst zu entdecken.
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.