Das Mysterium der Schöpfung


Johann Christof ist kein Künstlerroman, sondern ein Lebensbuch geworden, weil Rolland den schöpferischen Menschen darin nicht gattungsmäßig absondert von dem ungenialen, sondern im Künstler vielmehr den menschlichsten der Menschen sieht. In seinem Sinne ist das wahre Leben so identisch mit Produktion wie im Sinne Goethes mit Tätigkeit. Wer sich selbst verschließt, wer keinen Überschuß seines Wesens hat, wer nicht ausströmt, überströmt, sich ergießt, wer nicht über den Rand des Selbst einen Teil seiner vitalen Kraft der Zukunft, der Unendlichkeit entgegenschleudert, der ist zwar noch Mensch, aber kein wahrhaft lebendiger. Es gibt ein Sterben vor dem Tode und ein Leben über das eigene Leben hinaus: nicht der Tod bedeutet die wirkliche Grenze gegen das Nichts, sondern das Erlöschen der Wirkung. Nur Schaffen ist Leben, »Es gibt nur eine Freude: die des Schaffens, alle andern sind Schatten, die weltfremd über die Erde schweben. Alle Lust ist Schöpfungslust, die der Liebe, die des Genies, die der Tat. Alle entstammen sie einer Glut; ob man in der Sphäre des Leibes oder des Geistes schafft, immer ist es Flucht aus dem Gefängnis des Körpers, Sturz in den Lebenssturm, Gottwerdung. Schaffen heißt den Tod töten«.


Schöpfung ist also Sinn des Lebens und das Geheimnis des Lebens, Kern der Kerne. Wenn darum Rolland fast immer Künstler zu Helden wählt, so tut er es nicht aus dem Hochmut der Romantiker, die gerne den melancholischen Genius gegen die dumpfe Menge stellen, sondern um den Urproblemen näher zu kommen: im Kunstwerk wird über Zeiten und Raum das ewige Wunder der Zeugung aus dem Nichts (oder dem All) ja gleichzeitig sinnlich am sichtbarsten und geistig am geheimnisvollsten. Für ihn ist die Kunstschöpfung das Problem der Probleme, weil der wahre Künstler der menschlichste der Menschen ist. Und überall bohrt er sich hinab in die dunklen Labyrinthe der Schöpfer, um der Ursekunde ganz nahe zu sein, der brennenden Sekunde der geistigen Empfängnis, der schmerzhaften Geburt: er belauscht Michelangelo, wie er seinen Schmerz zu Stein ballt, Beethoven, wie er ausbricht in Melodie, Tolstoi, wie er horcht auf den Herzschlag des Zweifels in seiner gepreßten Brust. Jedem erscheint der Jakobsengel in anderer Gestalt, aber gleich brennt allen die Kraft der Ekstase dem Gotteskampf entgegen: und diesen Urtyp des Künstlers, das Urelement des Schöpferischen zu finden (wie Goethe die Urpflanze suchte), ist eigentlich seine einheitliche Bemühung durch alle Jahre. Er will den Schöpfer zeigen, die Schöpfung, weil er weiß, daß in diesem Mysterium schon Wurzel und Blüte des ganzen Lebensgeheimnisses ist.


Die Geburt der Kunst in der Menschheit hatte der Historiker geschildert: nun naht sich der Dichter dem gleichen Problem in verwandelter Form, der Geburt der Kunst in einem Menschen. Die »Histoire de l’Opéra avant Lully« und die »Musiciens d’autrefois« hatten gezeigt, wie die Musik »die unendliche Blüte durch die Zeiten« zu knospen beginnt, wie sie sich gleichsam auf andern Ästen der Völker und Epochen in neuen Formen zu entfalten beginnt. Aber auch da schon war, wie um jeden Anfang, Dunkel und Geheimnis, und in jedem Menschen (der ja immer den Weg der ganzen Menschheit in symbolischer Verkürzung wiederholen muß) beginnt das Schöpferische als Mysterium. Rolland weiß, daß Wissen nie die Urgeheimnisse entblättern kann, er hat nicht den Köhlerglauben der Monisten, die mit Urgasen und andern Worten die Schöpfung als mechanische Wirkung banalisieren. Er weiß, daß Natur keusch ist und in ihren geheimsten Stunden der Zeugung sich nicht belauschen läßt, daß kein geschliffenes Glas die Sekunde fängt, wo sich Kristall an Kristall setzt und die Blüte aus der Knospe springt. Nichts birgt die Natur eifersüchtiger als ihre tiefste Magie: die ewige Zeugung, das Geheimnis der Unendlichkeit.


So ist die Schöpfung, weil sie das Leben des Lebens ist, für Rolland eine mystische Macht, weit hinausreichend über Willen und Bewußtsein des Menschen. In jeder Seele lebt neben der persönlichen, der bewußten, ein fremder Gast: »Es gibt eine verborgene Seele, blinde Mächte, Dämonen, die jeder verschlossen in sich trägt. Unsere ganze Bemühung seit Anfang der Menschheit bestand darin, diesem inneren Meer die Dämme unserer Vernunft und der Religionen entgegenzubauen. Aber wenn ein Sturm kommt (und die reichsten Seelen sind diesen Stürmen am meisten ausgesetzt) und diese Dämme einstürzen, werden die Dämonen frei«. Nicht aus dem Willen, sondern gegen den Willen überströmen aus dem Unbewußten, aus einem Überwillen, heiße Wogen die Seele, und diesen »Dualismus der Seele und ihres Dämons« kann Vernunft, kann Klarheit nicht überwinden. Aus den Tiefen des Blutes, oft von Vätern und Urvätern her überkommt es den Schaffenden: nicht durch Tür und Fenster seines wachen Wesens dringen die Mächte ein, sondern wie Geister durch die Atmosphäre seines Seins. Plötzlich fällt der Künstler einem geistigen Rausch zum Opfer, dem vom Willen unabhängigen Willen, »dem unaussprechlichen Rätsel der Welt und des Lebens«, wie Goethe das Dämonische nennt. Als ein Gewitter bricht der Gott in ihn ein, als Abgrund tut er sich vor ihm auf, »dieu abîme«, in den er sich sinnlos stürzt. Im Sinne Rollands hat kein wahrer Künstler die Kunst, sondern die Kunst hat den Künstler. Sie ist der Jäger und er das Wild, sie der Sieger und er der immer wieder selig Besiegte.


Der Schöpfer ist also immer schon vor der Schöpfung: das Genie ist prädestiniert. In den Gängen des Blutes bereitet, indes die Sinne noch schlafen, schon die fremde Macht dem Kinde die große Magie, und wunderbar hat Rolland dies geschildert, wie des kleinen Johann Christof Seele schon gefüllt ist mit Musik, noch ehe er den ersten Ton vernommen hat. Der geheimnisvolle Dämon ist in die Kinderbrust gesperrt und wartet nur auf ein Zeichen, um sich zu regen, Geschwisterliches zu erkennen. Und wie das Kind an der Hand des Großvaters in die Kirche tritt und von der Orgel Musik ihm entgegenstürzt, da reckt sich in seiner Brust grüßend der Genius den Werken der fernen Brüder entgegen: das Kind jauchzt auf. Und wieder, wie am Wagen die Schellen der Pferde melodisch klingen, spannt sich in unbewußter Brüderschaft das Herz, verwandtes Element erkennend. Und dann kommt der Augenblick der Begegnung – eine der schönsten Stellen des Buches und die vielleicht schönste über die Musik –, wo der kleine Johann Christof mühsam auf den Sessel klettert, sich vor den schwarzen Zauberkasten des Klaviers setzt und zum erstenmal seine Finger in das unendliche Dickicht der Harmonien und Dissonanzen tappen, wo jeder angeschlagene Ton wie Ja und Nein auf die unbewußten Fragen der fremden Stimme in ihm antwortet. Bald lernt er nun selbst die Töne erwecken, bald sie zu gestalten: erst suchten ihn die Melodien, jetzt sucht er sie. Und die Seele, die dürstend nach Musik sie lange gierig eingetrunken, strömt nun schaffend über den Rand ihres Wesens in die Welt.


Dieser eingeborene Dämon des Künstlers wächst mit dem Kinde, reift mit dem Manne, altert mit dem Greise: ein Vampyr, nährt er sich von jedem Erlebnis, trinkt von seinen Freuden und Leiden, allmählich saugt er alles Leben in sich, daß dem Schöpferischen selbst nichts mehr bleibt als der ewige Durst und die Qual des Schaffens. Im Sinne Rollands will der Künstler gar nicht schaffen, er muß schaffen. Produktion ist für ihn nicht (wie Nordau und ähnliche einfältig meinten) eine Wucherung, eine Abnormität des Lebens, sondern die einzige wahre Gesundheit: Unproduktivität ist Krankheit. Nie ist schöner die Qual der fehlenden Inspiration geschildert worden als im Johann Christof: wie ausgedörrtes Land, glühend im Sonnenbrand, ist die Seele, und ihre Not ist ärger als Tod. Kein Windhauch, der Kühlung bringt, alles verdorrt, die Freude, die Kraft, schlaff hängt der Wille nieder. Und plötzlich ein Sturm aus jenem schwarzen Himmel des Herzens, der Donner der nahenden Gewalt, der zündende Blitz der Inspiration: mit einemmal strömt es aus unendlichen Quellen, die Seele selbst mitreißend in ewiger Lust: der Künstler ist die Welt geworden, Gott, der Schöpfer aller Elemente. Was ihm begegnet, reißt er mit in diesen brausenden Schwall »tout lui est prétexte à sa fécondité intarrissable« – »alles wird ihm Vorwand für seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit«. Er verwandelt das ganze Leben in Kunst und wie Johann Christof selbst sein Sterben in eine Symphonie, seinen Tod in Musik.


Um das Ganze des Lebens zu fassen, hat Rolland sein tiefstes Geheimnis, die Schöpfung, zu schildern versucht: das All in seinem Ursprung, die Kunst in einem Künstler. Zwischen Schaffen und Leben, das die Schwächeren so ängstlich zu scheiden sich bemühen, hat er eine Bindung gegeben in vorbildlicher Gestalt, denn Johann Christof ist gleichzeitig das wirkende Genie und der leidende Mensch, leidend durch Schaffen und schaffend durch Leiden. Sein erträumter Genius wird, eben weil er ein Schöpfer ist, der Lebendigste der Lebendigen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.