Johann Christof
Die Kunst hat viele Formen: aber ihre höchste ist immer die, die der Natur in Gesetz und Erscheinung am innigsten verwandt ist. Das wahre Genie wirkt elementar, wirkt naturhaft, es ist weit wie die Welt und vielfältig wie die Menschheit. Es schafft aus Fülle, nicht aus Schwäche. Und darum ist seine ewige Wirkung, daß es wieder Stärke schafft, die Natur verherrlicht und das Leben über sein zeitliches Maß ins Unendliche steigert.
Als solches Genie ist Johann Christof gedacht. Schon sein Name ist Symbol. Er heißt nicht nur Johann Christof Krafft, er ist selbst die Kraft, die ungebrochene, von bäuerlicher Erde genährte Kraft, die vom Schicksal ins Leben geschleudert wird wie ein Projektil, das alle Widerstände gewaltsam zersprengt. Unablässig scheint nun diese Kraft der Natur mit dem Leben im Streit, solange man den Begriff des Lebens mit dem Seienden, dem Ruhenden, dem Bestehenden, dem schon Vorhandenen identifiziert. Im Sinne Rollands aber ist Leben nicht das Ruhende, sondern der Kampf gegen das Ruhende, es ist Schöpfung, Erschaffung, der ewige Auftrieb gegen die Schwerkraft des »ewig Gestrigen«. Und gerade das Genie, der Bote des Neuen, muß notwendigerweise der Kämpfer unter den Künstlern sein. Neben ihm stehen die anderen Künstler in friedlicherem Tun, die Schauenden, die weisen Betrachter des Gewordenen, die Vollender des Gesehenen, die gelassenen Ordner der Resultate. Sie, die Erben, haben die Stille, er, der Ahnherr, den Sturm. Er muß das Leben erst in Kunstwerk verwandeln, er darf es nicht als Kunstwerk genießen, er muß sich alles erst schaffen, seine Form, seine Tradition, sein Ideal, seine Wahrheit, seinen Gott. Nichts ist für ihn fertig, ewig muß er beginnen. Das Leben grüßt ihn nicht als warmes Haus, in dem er es sich wohnlich machen kann; ihm ist es bloß Material für einen neuen Bau, in dem andere, spätere dereinst wohnen werden. Darum ist ihm keine Ruhe verstattet. »Gehe hin ohne zu rasten«, sagt ihm sein Gott, »man muß ewig kämpfen.« Und er, der Getreue des großen Befehls, geht von seinen Knabenjahren bis in die Stunde des Todes diesen Weg, unablässig im Kampf, das glühende Schwert des Willens in der Faust. Manchmal ist er müde und schreit auf mit Hiob: »Muß denn der Mensch ewig in Streit sein auf Erden und sind nicht seine Tage immerdar wie die eines Tagelöhners?« Aber aufstehend aus seinen Mattigkeiten, erkennt er, »daß man nur dann sehr lebendig ist, wenn man nicht fragt, wozu man lebt, sondern nur lebt, um zu leben«. Er weiß, daß die Mühe auch schon der Preis ist, und sagt in wunderbar erleuchteter Stunde das schönste Wort seines Schicksals: »Ich suche nicht den Frieden, ich suche das Leben.«
Kampf aber meint Gewalt. Und Johann Christof ist trotz aller angeborenen Güte ein Gewalttätiger. Etwas Barbarisches, etwas Elementares ist in ihm, etwas von der Wucht eines Sturmes oder eines Sturzbaches, der, nicht eigenem Willen, sondern unbewußten Gesetzen der Natur gehorchend, in die Niederungen des Lebens stürzt. Schon äußerlich drückt sein Wesen Kampfkraft aus; Johann Christof ist groß, wuchtig, fast ungeschlacht, er hat schwere Hände, muskelige Arme, ein volles rotes Blut, das sich in Leidenschaft leicht aufwühlt und ihn zu gewitterhaften Ausbrüchen reizt. In seinem schweren, ungelenken, aber unermüdlichen Schritt ist die schwere Kraft seiner mütterlichen Bauern-Ahnen, und diese Elementarkraft gibt ihm Sicherheit in den schwersten Krisen seines Lebens. »Wohl dem, den eine starke Rasse in den Mißständen des Lebens aufrecht hält, die Füße des Vaters und Großvaters tragen den ermattenden Sohn weiter, das Wachstum kräftiger Ahnen erhebt die zerbrochene Seele.« Widerstand gegen eine schwere Gegenwart gibt solche körperliche Kraft, aber auch noch mehr: Vertrauen in die Zukunft, einen gesunden unbeugsamen Optimismus, ein unerschütterliches Siegesbewußtsein. »Ich habe noch Jahrhunderte vor mir«, jauchzt er einmal auf in einer Stunde der Enttäuschung, »es lebe das Leben, es lebe die Freude!« Von der deutschen Rasse hat er dies Siegfriedsvertrauen ins Gelingen: darum fordert er gewaltsam zum Kampf heraus. Er weiß, »Le génie veut l’obstacle, l’obstacle fait le génie«. – »Das Genie will das Hemmnis, das Hemmnis schafft das Genie.«
Gewalt aber ist immer selbstwillig. Der junge Johann Christof, solange seine Kraft noch nicht geistig geläutert, noch nicht sittlich gezähmt ist, sieht nur sich. Er ist ungerecht gegen die andern, taub und blind gegen jeden Einspruch, gleichgültig gegen Gefallen und Mißfallen. Wie ein Holzfäller stürmt er durch den Wald, schlägt nach rechts und links mit der Axt, nur um Licht und Raum zu haben für sich. Er schmäht die deutsche Kunst, ohne sie zu verstehen, er verachtet die französische, ohne sie zu kennen; er hat »die wunderbare Frechheit der starken Jugend«, die mit dem Baccalaureus sagt: »Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf.« Seine Kraft tobt sich aus in Rauflust, denn nur im Kampfe fühlt er sich selbst, fühlt er das unendlich geliebte Leben.
Dieser Kampf Johann Christofs wird nicht schwächer mit den Jahren. Denn so stark seine Kraft ist, so groß ist auch sein Ungeschick. Johann Christof kennt seinen Gegner nicht: er erlernt das Leben schwer, und eben daß er es so langsam erlernt, Stück um Stück, jedes besprengt mit Blut und Tränen des Zorns, macht den Roman so erschütternd und so pädagogisch. Nichts fällt ihm leicht, nichts fällt ihm in die Hände. Er ist »tumb« wie Parsifal, naiv, gutgläubig, ein wenig laut und provinzlerisch: statt sich abzuschleifen und glatt zu werden an den Mühlsteinen der Gesellschaft, zerstößt er sich die Knochen. Er ist ein intuitives Genie, aber kein Psychologe, er antizipiert nichts, sondern muß alles erleiden, um es zu wissen. »Er hatte nicht den Raubvogelblick der Franzosen und Juden, der das allerkleinste Fetzchen von Objekten erfaßt und zerfasert. Wie ein Schwamm sog er sich schweigsam mit allem voll. Erst nach Stunden, oft tagelang später merkte er, daß er alles in sich eingefangen hatte.« Für ihn gibt es nichts Äußerliches: er muß jede Erkenntnis erst in Blut umsetzen, gleichsam verdauen: er wechselt nicht Ideen und Begriffe wie Banknoten gegen andere ein, sondern speit das Falsche, all die Lügen und banalen Vorstellungen, die ihm die Jugend aufgedrängt hat, nach langer Übelkeit aus: dann erst kann er wieder neue Nahrung zu sich nehmen. Ehe er Frankreich erkennt, muß er erst alle seine Masken, eine nach der andern, abgerissen haben, und ehe er zu Grazia, der »Unsterblich-Geliebten«, gelangt, muß er durch niedere Abenteuer gegangen sein. Und muß, ehe er sich und seinen Gott findet, sein ganzes Leben gelebt haben: erst am anderen Ufer erkennt Christopherus, daß seine Bürde eine Botschaft war.
Aber er weiß, »es ist gut zu leiden, wenn man stark ist«, und liebt sein Hindernis. »Alles Große ist gut, und höchster Schmerz grenzt an Befreiung. Was niederschlägt, zu Boden preßt, die Seele unheilbar zerstört, ist nur das Mittelmaß des Schmerzes und der Freude.« Allmählich lernt er seinen einzigen Feind erkennen, sein eigenes Ungestüm; er lernt, gerecht zu sein, er beginnt sich und die Welt zu verstehen. Der Leidenschaftliche wird klar: er begreift, daß die Feindlichkeit nicht ihm gilt, sondern der Macht der Ewigen, die ihn treibt, er lernt seine Feinde lieben, weil sie ihm zu sich selbst geholfen haben und zu gleichem. Ziele gehen auf anderem Wege. Die Lehrjahre sind zu Ende, und – wie Schiller so schön in jenem Briefe an Goethe sagt – »Lehrjahre sind ein Verhältnisbegriff, sie fordern ihr Korrelatum, die Meisterschaft, und zwar muß die Idee von der letzten jene erst erklären und begründen«. Der alternde Johann Christof beginnt klar zu sehen: in allen Verwandlungen ist er allmählich er selbst geworden, alle Vorurteile sind von ihm abgefallen, er ist »frei von jedem Glauben, jedem Wahn, frei von den Vorurteilen der Völker und Nationen«, und eben deshalb befähigt, der große Gläubige an das Leben zu sein. Er ist frei und doch fromm, seit er den Sinn seines Weges spürt. Und »transfiguré par la foi« – »verwandelt durch den Glauben« – erhöht sich sein einst so naiver, lärmender Optimismus, der ausrief: »Was ist das Leben? Eine Tragödie. Hurra!«, in eine milde Weisheit, die alles umfaßt. »Gott dienen und ihn lieben, heißt dem Leben dienen und es lieben« ist sein freigeistiges Bekenntnis. Es spürt neue Generationen hinter sich aufsteigen und grüßt in ihnen, die ihn befeinden, das ewige Leben. Er sieht seinen Ruhm sich wölben wie einen Dom und fühlt ihn ganz ferne von sich. Er ist Führer geworden, der ein zielloser Stürmer war, aber sein eigenes Ziel wird ihm erst klar, da in klingender Woge der Tod ihn umrauscht und er einströmt in die große Musik, in den ewigen Frieden.
Was diesen Kampf Johann Christofs so heroisch groß macht, ist, daß er einzig um das Größte geht, um das Lebensganze. Alles muß dieser ringende Mensch sich selbst erbauen: seine Kunst, seine Freiheit, seinen Glauben, seinen Gott, seine Wahrheit. Er muß sich freikämpfen von allem, was ihn die andern gelehrt, von jeder Gemeinschaft der Kunst, der Nationen, Rassen und Konfessionen: nie ringt seine Leidenschaft um ein Einzelnes, um Erfolg oder Vergnügen ( »il n’y a aucun rapport entre la passion et le plaisir« – »es gibt keine Gemeinschaft zwischen der Leidenschaft und dem Vergnügen«). Und was diesen Kampf so tragisch macht, ist seine Einsamkeit. Nur für sich müht er sich um die Wahrheit, weil er weiß, daß jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat, und wenn er dennoch den Menschen ein Helfer wird, so ist er es nicht durch Worte, sondern durch sein Wesen, das durch kraftvolle Güte so wunderbar bindend wirkt. Wer an ihn rührt – die ersonnenen Menschen im Buche ebenso wie die wirklichen Menschen, die das Buch lesen –, wird von seinem Wesen gesteigert, denn die Macht, durch die er siegt, ist eben dasselbe Leben selbst, das uns allen zugeteilt ist. Und indem wir ihn lieben, lieben wir gläubig die Welt.
vorheriges Kapitel
Das Mysterium der Schöpfung
nachfolgendes Kapitel
Olivier
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.