Die unvollendeten Biographien


Schon auf dem Außenblatt der ersten, der Beethovenbiographie, war eine ganze Reihe heroischer Heldenstandbilder angekündigt: eine Lebensgeschichte des großen Revolutionärs Mazzini, für die Rolland durch Jahre mit Hilfe der gemeinsamen Freundin Malvida von Meysenbug die Dokumente bereits gesammelt hatte, eine Darstellung des Heldengenerals Hoche, des kühnen Utopisten Thomas Paine. Der ursprüngliche Plan umfaßte einen noch viel weiteren Sternenkreis geistiger Größe, manche Gestalt war schon in der Seele geformt, vor allem wollte Rolland in reiferen Jahren einmal die ihm so teure ruhevolle Welt Goethes im Bilde seines Wesens zeichnen, wollte Shakespeare danken für das Erlebnis seiner Jugend und der gütigen, allzu wenig menschlich bekannten Malvida von Meysenbug für eine entscheidende Freundschaft.


Alle diese »vies des hommes illustres« sind ungestaltet geblieben (nur mehr wissenschaftliche Werke, wie jenes über »Händel«, »Millet« und die kleinen Studien Hugo Wolf, Berlioz, fördern die nächsten Jahre). Auch der dritte hochgespannte Schaffenskreis zerbricht, wieder endet große Bemühung als Fragment: nur ist es diesmal nicht Ungunst der Zeit, Gleichgültigkeit der Menschen, die Rolland von dem begonnenen Wege zurückweichen läßt, sondern eine tiefmenschliche moralische Erkenntnis. Der Historiker hat erkannt, daß seine tiefste Kraft, die Wahrheit, nicht vereinbar sei mit dem Willen, Enthusiasmus zu schaffen: in dem einzigen Falle Beethoven war es möglich gewesen, wahr zu bleiben und doch Tröstung zu geben, weil hier aus erhobener Musik selbst die Seele zur Freude emporgeläutert wird. Bei Michelangelo war schon eine gewisse Gewaltsamkeit vonnöten, um diesen, einer eingeborenen Traurigkeit verfallenen, unter Steinen selbst zum Marmor versteinernden Menschen als einen Sieger über die Welt zu deuten, auch Tolstoi verkündet mehr das wahre als das reiche, das rauschende, das lebenswerte Leben. Als er aber Mazzinis Geschick nachbildet, wird Rolland gewahr, da er die greisenhafte Verbitterung des vergessenen Patrioten mitfühlend durchforscht, daß er entweder fälschen müsse, um aus diesem Fanatiker ein Vorbild zu formen, oder den Menschen den Glauben an einen Helden nehmen. Es gibt, so erkennt er, Wahrheiten, die man aus Liebe zur Menschheit verbergen muß, und plötzlich erlebt er selbst den Konflikt, der das tragische Dilemma Tolstois war, »den furchtbaren Zwiespalt seiner unerbittlichen Augen, die das ganze Grauen der Wirklichkeit durchschauten, und seines leidenschaftlichen Herzens, das ihn immer verschleiern und die Liebe sich bewahren wollte. Wir alle haben diesen tragischen Kampf erlebt. Wie oft waren wir in der Alternative, etwas nicht sehen zu wollen oder zu verwerfen – wie oft fühlt sich ein Künstler von Angst befallen, wenn er diese oder jene Wahrheit hinschreiben soll. Denn dieselbe gesunde und männliche Wahrheit, die einem so natürlich ist wie die Luft, die man atmet, ist – man bemerkt es mit Entsetzen – für manche Brust, die durch Gewöhnung oder bloß Güte zu schwach ist, einfach unerträglich. Was soll man nun tun? Diese tödliche Wahrheit verschweigen, oder sie schonungslos aussprechen? Unablässig steht man diesem Dilemma gegenüber, die Wahrheit oder die Liebe.«


Das ist nun Rollands niederdrückende Erkenntnis inmitten seines Werks: man kann nicht Geschichte der großen Menschen schreiben zugleich als Historiker im Sinne der Wahrheit und als Menschenfreund im Sinne der Erhebung und Vollendung. Denn ist selbst das, was wir Geschichte nennen, Wahrheit? Ist sie nicht auch in jedem Lande eine Legende, eine nationale Konvention, ist jede Gestalt nicht schon durch Absichten zweckhaft geläutert, geändert oder gemindert im Sinne einer Moral? Zum erstenmal wird sich Rolland des ungeheuren Relativismus, der Unübertragbarkeit aller Begriffe bewußt. »Es ist so schwer, eine Persönlichkeit darzustellen. Jeder Mensch ist ein Rätsel, nicht nur für die andern, sondern auch für sich selbst, und es liegt eine große Anmaßung darin, jemanden kennen zu wollen, der sich nicht einmal selbst kennt, dennoch aber kann man sich nicht verwehren zu urteilen, es ist eine Notwendigkeit des Lebens. Keiner von denen, die wir zu kennen vorgeben, keiner unserer Freunde, keiner jener, die wir lieben, ist so, wie wir ihn sehen – oft ist er in nichts dem Bilde gleich, das wir von ihm haben. Wir wandern inmitten der Phantome unseres Herzens. Und doch: man muß urteilen, man muß schaffen.«


Gerechtigkeit gegen sich selbst, Gerechtigkeit gegen die teuren Namen, Ehrfurcht vor der Wahrheit, Mitleid mit den Menschen, hemmt mitten im Wege seinen Schritt. Rolland läßt die »heroischen Biographien«: lieber will er schweigen, als jenem »feigen Idealismus« zur Beute werden, der verschönt, um nicht zu verneinen. Er hält inne am Wege, den er für ungangbar erkannt, aber er vergißt nicht das Ziel, »die Größe auf Erden zu verteidigen«. Die Menschheit braucht hohe Bildnisse, einen Mythos vom Helden, um an sich selbst zu glauben. Und da die Geschichte nur durch Verschönerung den Trost solcher Bilder schenkt, sucht Rolland die Helden nun in einer neuen, einer höheren Wahrheit: in der Kunst. Selbst erschafft er nun Gestalten aus dem Blut unserer Gegenwart, in hundert Formen zeigt er das tägliche Heldentum unserer Welt und inmitten dieser Kämpfe den großen Sieger des Lebensglaubens: seinen – unsern Johann Christof.


»Es ist zum Erstaunen, wie sich der
epische und philosophische Gehalt in
demselben drängt. Was innerhalb der
Form liegt, macht ein so schönes Ganze,
und nach außen berührt sie das Unendliche,
die Kunst und das Leben. In
der Tat kann man von diesem Roman
sagen, er ist nirgends beschränkt als durch
die rein ästhetische Form und wo die
Form darin aufhört, da hängt er mit dem
Unendlichen zusammen. Ich möchte
ihn einer schönen Insel vergleichen, die
zwischen zwei Meeren liegt.«


Schiller an Goethe über »Wilhelm Meister«, 19. Oktober 1796

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