Der erste Start


Ein Jahr lang sausen die Maschinen, unablässig spult sich wie ein dünner, fließender Faden der Draht aus den Fabriken in das Innere der beiden Schiffe, und endlich, nach tausend und tausend Umdrehungen, ist je eine Hälfte des Kabels in je einem der Schiffe zur Spule zusammengerollt. Konstruiert und schon aufgestellt sind auch die neuen, schwerfälligen Maschinen, die, mit Bremsen und Rücklauf versehen, in einem Zug nun eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen lang ununterbrochen das Kabel hinabsenken sollen in die Tiefe des Weltmeeres. Die besten Elektriker und Techniker, darunter Morse selbst, sind an Bord versammelt, um dauernd mit ihren Apparaten während der ganzen Auslegung zu kontrollieren, ob der elektrische Strom nicht ins Stocken gerät, Reporter und Zeichner haben sich der Flotte zugesellt, um mit Wort und Schrift diese aufregendste Ausfahrt seit Kolumbus und Magalhães zu schildern.


Endlich ist alles zur Abfahrt bereit, und während bislang die Zweifler die Oberhand behielten, wendet sich nun das öffentliche Interesse ganz Englands leidenschaftlich der Unternehmung zu. Hunderte kleiner Boote und Schiffe umkreisen am 5. August 1857 im kleinen irländischen Hafen von Valentia die Kabelflotte, um den welthistorischen Augenblick mitzuerleben, wie das eine Kabelende von Booten an die Küste geschafft und in der festen Erde Europas verhakt wird. Unwillkürlich gestaltet sich der Abschied zur großen Feierlichkeit. Die Regierung hat Vertreter entsandt, Reden werden gehalten, in einer ergreifenden Ansprache erbittet der Priester den Segen Gottes für das kühne Unterfangen. »O ewiger Gott«, beginnt er, »der du allein die Himmel ausbreitest und den Aufschwall der See beherrschst, du, dem die Winde und die Fluten gehorchen, blicke in Barmherzigkeit nieder auf deine Diener… Gebiete mit deinem Gebot jedem Hindernis, beseitige jeden Widerstand, der uns in der Vollendung dieses wichtigen Werkes hemmen könnte.« Und dann winken noch vom Strande und vom Meer Tausende Hände und Hüte. Langsam verdämmert das Land. Einer der kühnsten Träume der Menschheit versucht Wirklichkeit zu werden.

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Mißgeschick

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.