Mißgeschick


Ursprünglich war geplant worden, die beiden großen Schiffe, die »Agamemnon« und die »Niagara«, deren jedes eine Hälfte des Kabels in sich trägt, sollten gemeinsam bis zu einem vorausberechneten Punkt in der Mitte des Ozeans fahren und dort erst die Vernietung der beiden Hälften stattfinden. Dann hätte das eine Schiff nach Westen gegen Neufundland zu steuern, das andere nach Osten gegen Irland. Aber zu verwegen schien es, gleich das ganze kostbare Kabel an diesen ersten Versuch zu wagen; so zog man vor, vom Festland aus die erste Strecke zu legen, solange man noch nicht gewiß war, ob eine telegraphische Untersee-Übertragung auf solche Distanzen überhaupt noch richtig funktionierte.


Von den beiden Schiffen ist der »Niagara« die Aufgabe zugefallen, vom Festland aus das Kabel bis in die Mitte des Meeres zu legen. Langsam, vorsichtig steuert die amerikanische Fregatte dahin, wie eine Spinne aus ihrem gewaltigen Leibe den Faden ständig hinter sich zurücklassend. Langsam, regelmäßig rattert an Bord die Auslegemaschine – es ist das alte, allen Seeleuten wohlbekannte Geräusch eines abrollenden Ankertaues, das sich von der Winde niederdreht. Und nach wenigen Stunden achten die Leute an Bord auf dies regelmäßig mahlende Geräusch schon ebensowenig wie auf ihren eigenen Herzschlag.


Weiter, weiter hinaus in die See, ständig, ständig das Kabel hinab hinter dem Kiel. Gar nicht abenteuerlich scheint dieses Abenteuer. Nur in einer besonderen Kammer sitzen und horchen die Elektriker, ständig Zeichen mit dem irischen Festlande tauschend. Und wunderbar: obwohl man längst die Küste nicht mehr erblickt, funktioniert die Übertragung auf dem Unterwasser-Kabel genau so deutlich, als ob man von einer europäischen Stadt zur andern sich verständigte. Schon sind die seichten Wasser verlassen, schon das sogenannte Tiefseeplateau, das hinter Irland sich erhebt, teilweise überquert, und noch immer läuft wie Sand aus der Sanduhr regelmäßig die metallene Schnur hinter dem Kiel herab, gleichzeitig Botschaft gebend und Botschaft empfangend.


Schon sind dreihundertfünfunddreißig Meilen gelegt, mehr also als die zehnfache Distanz von Dover nach Calais, schon sind fünf Tage, fünf Nächte erster Unsicherheit überstanden, schon bettet sich am sechsten Abend, am 11. August, Cyrus W. Field nach vielstündiger Arbeit und Aufregung zu berechtigter Ruhe. Da plötzlich – was ist geschehen? – stoppt das ratternde Geräusch. Und wie ein Schlafender auffährt im fahrenden Zuge, wenn die Lokomotive unerwarteterweise stoppt, wie der Müller aufschreckt im Bette, wenn das Mühlrad plötzlich stehenbleibt, so sind im Nu alle auf dem Schiff wach und stürzen auf Deck. Der erste Blick auf die Maschine zeigt: der Auslauf ist leer. Das Kabel ist plötzlich der Winde entschlüpft; unmöglich war es, das losgerissene Ende noch rechtzeitig aufzufangen, und noch unmöglicher ist es jetzt, das verlorene Ende in der Tiefe zu finden und wieder heraufzuholen. Das Entsetzliche ist geschehen. Ein kleiner technischer Fehler hat die Arbeit von Jahren vernichtet. Als Besiegte kehren die so verwegen Ausgefahrenen nach England zurück, wo das plötzliche Verstummen aller Zeichen und Signale auf schlimme Kunde schon vorbereitet hat.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.