Kapitel 18
Immer hatte ich junger und wenig erfahrener Mensch bisher Sehnsucht und Not der Liebe für die schlimmste Qual des Herzens gehalten. In dieser Stunde aber begann ich zu ahnen, daß es noch eine andere und vielleicht grimmigere Qual gibt, als sich zu sehnen und zu begehren, nämlich geliebt zu werden wider seinen Willen und dieser andrängenden Leidenschaft sich nicht erwehren zu können. Einen Menschen neben sich an der Glut seines Verlangens verbrennen zu sehen und ohnmächtig dabeizustehen, nicht die Macht, nicht die Fähigkeit, nicht die Kraft in sich zu finden, ihn diesen Flammen zu entreißen. Wer selbst unglücklich liebt, vermag zuweilen seine Leidenschaft zu bezähmen, weil er nicht nur Geschöpf, sondern zugleich selber Schöpfer seiner Not ist; versteht ein Liebender seine Leidenschaft nicht zu meistern, so leidet er zumindest aus eigener Schuld. Rettungslos jedoch bleibt verfallen, wer geliebt wird ohne Gegenliebe, denn nicht mehr in ihm liegt dann Maß und Grenze jener Leidenschaft, sondern jenseits seiner Kraft, und willenlos bleibt jeder Wille, wenn ein anderer einen will. Vielleicht nur ein Mann kann das Ausweglose einer solchen Bindung ganz erfühlen, nur für ihn wird das ihm aufgezwungene Widerstrebenmüssen gleichzeitig Marter und Schuld. Denn wenn eine Frau gegen unerwünschte Leidenschaft sich wehrt, gehorcht sie im tiefsten dem Gesetz ihres Geschlechts; gleichsam urtümlich ist jedem Weibe die Geste der anfänglichen Weigerung eingetan, und selbst wenn sie glühendstem Begehren sich verweigert, kann man sie nicht unmenschlich nennen. Aber verhängnisvoll, sobald das Schicksal die Waage umstellt, sobald eine Frau ihre Scham so weit bezwungen hat, um einem Manne ihre Leidenschaft zu offenbaren, wenn sie ohne Gewißheit der Gegenliebe schon ihre Liebe bietet, und er, der Umworbene, bleibt abwehrend und kalt! Unlösbare Verstrickung dies immer, denn das Verlangen einer Frau nicht erwidern, heißt auch ihren Stolz zernichten, ihre Scham verstören; immer muß, wer einer begehrenden Frau sich verweigert, sie in ihrem Edelsten verletzen. Vergeblich dann alle Zartheit des Sichentziehens, sinnlos alle höflich ausweichenden Worte, beleidigend jedes Angebot bloßer Freundschaft, wenn einmal eine Frau ihre Schwachheit verraten hat – unrettbar wird jeder Widerstand eines Mannes zur Grausamkeit, immer gerät er, wenn er Liebe nicht nimmt, schuldlos in Schuld. Entsetzliche, unlösbare Fessel – eben hast du dich noch frei gefühlt, du gehörtest dir selbst und warst keinem verschuldet, und plötzlich bist du gejagt und umstellt, Beute und Ziel einer ungewollten fremden Begierde. Du weißt, betroffen bis in den Abgrund deiner Seele: Tag und Nacht wartet jetzt jemand auf dich, denkt an dich, sehnt sich und stöhnt nach dir, eine Frau, eine Fremde! Sie will, sie fordert, sie verlangt dich mit jeder Pore ihres Wesens, mit ihrem Körper, mit ihrem Blut. Deine Hände, dein Haar, deine Lippen, deinen Leib will sie, deine Nacht und deinen Tag, dein Gefühl, dein Geschlecht und alle deine Gedanken und Träume. Alles will sie mit dir teilen, alles will sie dir nehmen und mit ihrem Atem in sich saugen. Immer, Tag und Nacht, ob du wachst oder schläfst, ist in der Welt jetzt ein Wesen irgendwo heiß und wach und wartet auf dich, jemand wacht dich und träumt dich. Vergebens, daß du nicht an sie denken willst, die immer an dich denkt, vergebens, daß du zu entfliehen suchst, denn du bist nicht mehr in dir, sondern in ihr. Wie ein wandernder Spiegel trägt plötzlich ein fremder Mensch dich innen in sich – nein, nicht wie ein Spiegel, denn der trinkt dein Bild doch nur, wenn du dich willig ihm bietest – sie aber, die Frau, die Fremde, die dich liebt, sie hat dich schon nach innen gesogen in ihr Blut. Immer hat sie dich innen und trägt dich mit sich, wohin du auch flüchtest. Immer bist du anderswo in einem andern Menschen verhaftet, gefangen, nie mehr du selbst, nie frei und unbefangen und ohne Schuld, immer gejagt, immer verpflichtet; immer spürst du, wie ein stetes brennendes Saugen, dies An-dich-denken. Voll Haß, voll Schrecken mußt du diese fremde Sehnsucht leiden, die um dich leidet, und ich weiß nun: es ist die unsinnigste, unentrinnbarste Bedrängnis eines Mannes, geliebt zu werden wider seinen Willen, Qual aller Qualen und doch Schuld ohne Schuld.
Nicht im flüchtigsten Tagtraum war mir je denkbar erschienen, auch mich könnte eine Frau so maßlos lieben. Zwar war ich oft dabeigesessen, wenn Kameraden protzig erzählten, wie diese oder jene ihnen »nachlief«; ich hatte vielleicht bei der indiskreten Wiedergabe solcher Zudringlichkeit im erheiterten Chore sogar mitgelacht, denn damals ahnte ich noch nicht, daß jede Form der Liebe, auch die lächerlichste und absurdeste, Schicksal eines Menschen ist und man auch durch Gleichgültigkeit in Schuld gerät gegen Liebe. Aber alles Erlauschte und Angelesene streift doch nur kraftlos an einem vorbei; nur aus eigenem Erleben vermag das Herz das Wesentliche des Gefühls zu erlernen. Erst mußte ich selbst die Not erfahren, die eine fremde, unsinnige Liebe dem Gewissen auflastet, um Mitleid zu fühlen mit dem einen und dem andern, mit jenem, der gewaltsam sich andrängt, und jenem, der gewaltsam sich dieses Überschwangs erwehrt. Aber in welch unausdenkbarer Steigerung war hier gerade mir diese Verantwortung zugeteilt! Denn wenn es an sich schon Grausamkeit bedeutet und beinahe Roheit des Herzens, eine Frau in ihrer Neigung zu enttäuschen, um wieviel furchtbarer dann das »Nein«, das »Ich will nicht«, das ich diesem hitzigen Kinde sagen sollte! Eine Kranke mußte ich kränken, eine vom Leben ohnehin schon schmerzhaft Verletzte noch tiefer verwunden, einer innerlich Unsicheren noch die letzte Krücke Hoffnung, mit der sie sich aufrechterhielt, wegreißen. Ich wüßte, wie ich dieses Mädchen, das allein mein Mitleid erschüttert hatte, gefährdete und vielleicht zerstörte, wenn ich mich flüchtend ihrer Liebe entzog; grauenhaft klar war ich von vorneweg der ungeheuren Schuld bewußt, die ich wider meinen Willen beging, wenn ich, unfähig, ihre Liebe hinzunehmen, nicht wenigstens vortäuschte, sie zu erwidern.
Aber ich hatte keine Wahl. Noch ehe die Seele bewußt die Gefahr begriff, hatte der Körper in mir die jähe Umarmung schon abgewehrt. Immer sind die Instinkte wissender als unsere wachen Gedanken; bereits in dieser ersten Sekunde des Erschreckens, da ich mich wegriß von ihrer gewalttätigen Zärtlichkeit, hatte ich dumpf alles vorausgewußt. Gewußt, daß ich nie die Heilandskraft haben würde, die Verstümmelte so zu lieben, wie sie mich liebte, und wahrscheinlich nicht einmal genug Mitleid, um diese mich entnervende Leidenschaft nur zu ertragen. In diesem ersten Augenblick des Zurückflüchtens hatte ich schon geahnt: hier gab es keinen Ausweg, keinen Mittelweg. Einer mußte unglücklich werden durch diese unsinnige Liebe oder der andere, und vielleicht alle beide.
Wie ich damals in die Stadt zurückgelangte, werde ich mir niemals deutlich zu machen vermögen. Ich weiß nur, ich ging sehr rasch, und nur ein Gedanke wiederholte sich mit jedem Schlag der Pulse: fort! fort! Fort von diesem Hause, fort aus dieser Verstrickung, fliehen, flüchten, verschwinden! Nie mehr diese Villa betreten, nie mehr diese Menschen sehen, überhaupt keine Menschen! Sich verstecken, sich unsichtbar machen, niemandem mehr verpflichtet sein, in nichts mehr verstrickt! Ich weiß, ich versuchte noch weiter zu denken: den Dienst quittieren, irgendwo Geld herbekommen und dann hinausflüchten in die Welt, so weit weg, daß dieses irrwitzige Verlangen mich nicht mehr erreichen könnte; aber all dies war schon mehr geträumt als klar durchdacht, denn immer hämmerte dazwischen in den Schläfen das eine Wort: fort, fort, fort, nur fort!
An meinen bestaubten Schuhen und an Rissen von Disteln an meiner Hose merkte ich später, daß ich quer durch Wiesen und Felder und Straßen gerannt sein mußte; jedenfalls stand, als ich mich schließlich auf der Hauptstraße fand, die Sonne schon hinter den Dächern. Und wirklich wie ein Schlafwandler schrak ich auf, als mir unvermutet jemand von rückwärts auf die Schulter klopfte.
»Hallo, Toni, da bist du ja! Höchste Zeit, daß wir dich erwischen! Jeden Winkel haben wir nach dir durchstöbert, grad wollten wir hinaustelephonieren in deine Ritterburg.«
Ich sah mich umringt von vier Kameraden, der unvermeidliche Ferencz war dabei, Jozsi und der Rittmeister Graf Steinhübel.
»Aber fix jetzt! Denk dir, der Balinkay ist plötzlich hereingeschneit, von Holland oder von Amerika, weiß Gott, von wo. Aber alle Offiziere und Einjährigen vom Regiment hat er eingeladen für heut abend. Der Oberst kommt und der Major, große Tafel heut, im Roten Löwen, um halb neun. Ein Glück, daß wir dich erwischt haben, der Alte hätte schön gebrummt, wenn du ausgekniffen wärst! Du weißt doch, daß er an dem Balinkay einen Narren gefressen hat; wenn der kommt, muß alles aufmarschieren.«
Ich hatte meine Gedanken noch immer nicht völlig beisammen. Ganz verdutzt fragte ich:
»Wer ist gekommen?«
»Der Balinkay! Schneid doch kein so blödes G’sicht! Kennst du am End den Balinkay nicht?«
Balinkay? Balinkay? In meinem Kopf torkelte alles noch wirr durcheinander, wie aus verstaubtem Gerümpel mußte ich diesen Namen mir mühsam herausholen. Ach ja, der Balinkay – der war doch einmal das mauvais sujet des Regiments gewesen. Noch lang vor meiner Garnisonszeit hatte er hier als Leutnant und dann als Oberleutnant gedient, der beste Reiter, der tollste Bursche des Regiments, ein wilder Spieler und Ladykiller. Aber irgend etwas Peinliches war dann passiert, ich hatte mich nie danach erkundigt; jedenfalls, in vierundzwanzig Stunden hatte er die Uniform an den Nagel gehängt und war dann kreuz und quer in der Welt herumgeschwommen, man munkelte davon allerhand sonderbare Geschichten. Schließlich hatte er sich wieder zusammengerissen dadurch, daß er sich im Shepherds Hotel in Kairo eine reiche Holländerin angelte, eine Witwe mit schweren Millionen, Besitzerin irgendeiner Maatschappij mit siebzehn Schiffen und ausgiebigen Plantagen in Java und Borneo drüben: seitdem war er unser unsichtbarer Schutzpatron.
Diesem Balinkay mußte unser Oberst Bubencic damals aus einem dicken Schlamassel geholfen haben, denn Balinkays Treue zu ihm und zum Regiment blieb wirklich rührend. Jedesmal, wenn er nach Österreich kam, fuhr er eigens herüber in die Garnison und schmiß mit dem Gelde so toll herum, daß man noch wochenlang davon in der Stadt erzählte. Die alte Uniform für einen Abend anzuziehen, wieder Kamerad unter Kameraden zu sein, war ihm eine Art Herzensbedürfnis. Wenn er an dem gewohnten Offizierstisch saß, locker und leicht, spürte man ihm an, daß ihm dieser schlechtgetünchte rauchige Saal im »Roten Löwen« hundertmal mehr Heimat war als sein feudales Palais an einer Amsterdamer Gracht: wir waren und blieben seine Kinder, seine Brüder, seine wahre Familie. Alljährlich stiftete er Preise für unsere Steeplechase, regelmäßig kamen zu Weihnachten zwei oder drei Kisten bunter Bolsschnäpse und Champagnerkörbe angerückt, und mit absoluter Verläßlichkeit konnte der Oberst jedes Neujahr einen saftigen Scheck für die Kameradschaftskasse bei der Bank einkassieren. Wer die Ulanka und am Kragen unsere Aufschläge trug, durfte sich auf Balinkay verlassen, wenn er irgend einmal in Schwulitäten geriet: ein Brief und alles war ausgeputzt.
Zu jeder anderen Zeit hätte mich die Gelegenheit, diesem viel Gerühmten zu begegnen, ehrlich gefreut. Aber der Gedanke an Lustigkeit, lautes Hallo, Toaste und Tafelreden schien meiner Verstörtheit so ziemlich das Unerträglichste auf Erden. So versuchte ich, schleunigst abzurücken: ich fühlte mich nicht recht auf dem Damm. Jedoch mit einem drastischen »Ausgeschlossen! Heut gibt’s kein Abpaschen«, hatte mich Ferencz schon unter den Arm gefaßt, und ich mußte widerwillig nachgeben. Verworren hörte ich ihn, während sie mich weiterzogen, erzählen, wie und wem Balinkay schon aus der Schlamastik geholfen, daß er sofort seinem Schwager eine Stellung verschafft habe und ob unsereins nicht geschwinder Karriere machen könnte, ginge man auf ein Schiff zu ihm oder nach Indien hinüber. Joszi, dieser hagere, verbissene Bursche, tropfte ab und zu Essig in des braven Ferencz dankbare Begeisterung. Ob der Oberst sein »Herzpinkerl« derart liebevoll empfangen würde, spottete er, wenn Balinkay nicht diesen dicken holländischen Schellfisch eingefangen hätte; zwölf Jahre soll sie übrigens älter sein als er, und: »Wenn man sich schon verkauft, soll man sich wenigstens teuer verkaufen«, lachte Graf Steinhübel.
Jetzt nachträglich kommt es mir sonderbar vor, daß mir trotz meiner Benommenheit jedes Wort dieses Gesprächs im Gedächtnis blieb. Oft geht ja mit einer Betäubung des wachen Denkens eine innere Erregtheit der Nerven geheimnisvoll Hand in Hand, und auch als wir in den großen Saal des »Roten Löwen« kamen, tat ich dank der Hypnose der Disziplin meine zugewiesene Arbeit halbwegs anständig. Und es gab reichlich zu tun. Der ganze Vorrat an Transparenten, Fahnen und Emblemen, der sonst nur beim Regimentsball brillierte, wurde herangeholt, ein paar Ordonnanzen hämmerten laut und vergnügt an den Wänden, nebenan drillte Steinhübel dem Hornisten ein, wann und wie er den Tusch zu blasen hätte. Jozsi bekam, weil er die sauberste Schrift hatte, den Auftrag, das Menü zu schreiben, in dem alle Speisen humoristisch anzügliche Namen erhielten, mir pelzten sie die Tischordnung auf. Zwischendurch rückte der Hausknecht bereits Sessel und Tische zurecht, die Kellner brachten klirrende Batterien von Wein und Sekt in Stellung, die Balinkay von Sacher in Wien in seinem Auto herspediert hatte. Sonderbarerweise tat dieser Wirbel mir wohl, denn er überdröhnte mit seinem Lärm das dumpfe Pochen und Fragen zwischen den Schläfen.
Endlich, um acht Uhr, war alles parat. Jetzt hieß es noch hinüber in die Kaserne, sich rasch herrichten und umkleiden. Mein Bursche war schon verständigt. Waffenrock und Lackstiefel lagen bereit. Rasch den Kopf ins kalte Wasser und einen Blick auf die Uhr: im ganzen noch zehn Minuten; bei unserem Oberst hieß es verflucht pünktlich sein. So ziehe ich mich flink aus, haue die staubigen Schuhe weg, aber gerade, als ich in Unterkleidern vor dem Spiegel stehe, um mir das verraufte Haar zurechtzukämmen, klopft es an der Tür.
»Für niemanden zu sprechen«, befehle ich dem Burschen. Er springt gehorsam weg, einen Augenblick tuschelt’s draußen im Vorzimmer. Dann kommt Kusma wieder zurück, einen Brief in der Hand.
Ein Brief für mich? In Hemd und Unterhosen, wie ich eben stehe, nehme ich das blaue rechteckige Couvert, dick und schwer, fast ein kleines Paket, und habe sofort Feuer in der Hand. Ich brauche die Schrift gar nicht anzusehen, um zu wissen, wer mir schreibt.
Später, später – sagt mir ein rascher Instinkt. Nicht lesen, jetzt nicht lesen! Aber schon habe ich wider meinen innersten Willen den Umschlag aufgerissen und lese, lese den Brief, der mir immer heftiger in den Händen knistert.
Es war ein Brief von sechzehn Seiten, mit aufgeregter Hand fliegend hingeschrieben, ein Brief, wie ihn ein Mensch im Leben nur einmal schreibt und nur einmal im Leben empfängt. Gleich Blut aus einer aufgerissenen Wunde flossen die Sätze unaufhaltsam dahin, ohne Absätze, ohne Interpunktion, ein Wort überholte, überrannte, überstürzte das andere. Jetzt noch nach Jahren und Jahren sehe ich jede Zeile, jeden Buchstaben vor mir, jetzt noch könnte ich mir diesen Brief von Anfang bis Ende zu jeder Stunde des Tags und der Nacht Seite für Seite auswendig vorsprechen, so oft habe ich ihn gelesen. Noch Monate und Monate nach jenem Tag habe ich dieses gefaltete blaue Bündel Papiers bei mir in der Tasche getragen, immer wieder es hervorholend, zu Hause, in den Baracken und in den Unterständen und an den Lagerfeuern des Kriegs; erst beim Rückzug in Wolhynien, als unsere Division schon an beiden Flanken vom Feinde umfaßt war und mich die Sorge überfiel, dies Geständnis eines ekstatischen Augenblicks könne in fremde Hände geraten, habe ich diesen Brief vernichtet.
»Sechsmal«, begann er, »hatte ich schon an Dich geschrieben und jedesmal jedes Blatt zerrissen. Denn ich wollte mich nicht verraten, ich wollte nicht. Ich hab mich zurückgehalten, solange noch Widerstand in mir war. Wochen und Wochen habe ich mit mir gerungen, mich vor Dir zu verstellen. Jedesmal, wenn Du zu uns kamst, freundlich und ahnungslos, habe ich meinen Händen befohlen, stillzuhalten, meinen Blicken, gleichgültig zu tun, um Dich nicht zu verstören; oft bin ich sogar mit Absicht hart und höhnisch gegen Dich gewesen, nur um Dich nicht ahnen zu lassen, wie sehr mein Herz nach Dir brannte – alles habe ich versucht, was in der Kraft eines Menschen war und über seine Kraft. Aber heute ist es geschehen und ich schwör Dir, wider meinen Willen ist es über mich gekommen, hinterrücks hat es mich überfallen. Ich verstehe selber nicht mehr, wie mir das geschehen konnte; am liebsten hätte ich mich nachher geschlagen und gezüchtigt, so hündisch schämte ich mich. Denn ich weiß ja, ich weiß, welcher Irrwitz, welcher Wahnsinn das wäre, mich Dir aufzudrängen. Eine lahme Kreatur, ein Krüppel hat kein Recht, zu lieben – wie sollte ich zerschlagenes, geschlagenes Wesen Dir nicht zur Last sein, da ich mir selbst doch ein Ekel, ein Abscheu bin? Ein Wesen wie ich, ich weiß, hat kein Recht, zu lieben, und schon gar keines, geliebt zu werden. Im Winkel hat sich’s zu verkriechen und zu krepieren und nicht noch andern mit seiner Gegenwart das Leben zu verstören – ja, alles das weiß ich, ich weiß es und gehe daran zugrunde, daß ich es weiß. Niemals hätte ich darum gewagt, Dich anzufallen, aber wer als Du hat mir die Zuversicht gegeben, ich würde nicht mehr lange dies klägliche Mißgebilde bleiben, das ich bin? Ich würde mich rühren, mich bewegen können wie die andern Menschen, wie alle die Millionen überflüssiger Menschen, die gar nicht wissen, daß jeder freie Schritt eine Gnade ist und eine Herrlichkeit. Eisern hatte ich mir vorgenommen, mich zu verschweigen, bis ich wirklich so weit wäre, ein Mensch, eine Frau wie die andern und vielleicht – vielleicht!!! – Deiner würdig, Du Geliebter. Aber meine Ungeduld, meine Gier, zu genesen, war so toll, daß ich in dieser Sekunde, da Du Dich über mich neigtest, schon glaubte, ehrlich glaubte, ehrlich und närrisch glaubte, jene Andere, jene Neue, jene Genesene zu sein! Ich hatte es eben zu lange gewollt und geträumt und jetzt warst Du mir nah – da vergaß ich für einen Augenblick meine schuftigen Beine, ich sah nur Dich, und fühlte als die, die ich für Dich sein wollte. Kannst Du das nicht verstehen, daß man auch mitten im Tag einen Augenblick lang träumen kann, wenn man Jahr um Jahr immer diesen einzigen Traum träumt, Tag und Nacht? Glaub mir, Geliebter – nur dieser unsinnige Wahn, ich sei schon von meiner Humpelei erlöst, hat mich so wirr gemacht; nur diese Ungeduld, nicht mehr die Ausgestoßene, nicht mehr der Krüppel zu sein, ließ mein Herz derart toll herausfahren aus mir. Begreif’s doch: ich hatte doch schon so lange und so unendliche Sehnsucht nach Dir.
Aber nun weißt Du, was Du nie hättest wissen sollen, ehe ich nicht wirklich auferstanden war, und weißt auch, für wen ich geheilt sein will, für wen allein auf Erden – nur für Dich! Nur für Dich! Verzeih mir, unendlich Geliebter, diese Liebe, und um dies eine vor allem flehe ich Dich an – fürchte Dich nicht und entsetze Dich nicht vor mir! Glaub nicht, daß weil ich einmal zudringlich gewesen, ich Dich weiter verstören werde, daß ich, hinfällig und mir selbst widrig, wie ich bin, Dich schon halten will. Nein, ich schwör es Dir – kein Drängen sollst Du jemals von mir spüren, ganz unfühlbar will ich bleiben für Dich. Nur warten will ich, geduldig warten, bis Gott sich meiner erbarmt und mich gesund macht. So bitte, so flehe ich Dich an – fürchte Dich nicht, Liebster, vor meiner Liebe, bedenk doch, Du, der Du Mitleid hattest wie kein anderer mit mir, bedenk, wie gräßlich hilflos ich bin, angenagelt an meinen Sessel, unfähig, einen eigenen Schritt zu tun, unmächtig, Dir nachzugehen, Dir entgegenzueilen. Bedenk doch, bedenk, daß ich eine Gefangene bin, die in ihrem Kerker warten muß, immer geduldig-ungeduldig warten, bis Du kommst und mir eine Stunde schenkst, bis Du mir erlaubst, Dich anzublicken, Deine Stimme zu hören, im selben Raum Deinen Atem zu spüren, Deine Gegenwart zu fühlen, dies einzige, dies erste Glück, das mir seit Jahren gegönnt war. Bedenk’s doch, denk Dir’s aus: da liegt man und liegt und wartet Tag und Nacht, und jede Stunde dehnt sich, man kann die Spannung kaum ertragen. Und dann kommst Du, und ich vermag nicht wie eine andere aufzuspringen, ich kann Dir nicht entgegenlaufen, nicht Dich umfassen, nicht Dich halten. Man muß sitzen und sich bezähmen, sich dämmen und sich verschweigen, muß auf jedes Wort, auf jeden Blick, auf jede Schwingung der Stimme achten, nur daß Du nicht meinen könntest, ich maße mir an, Dich zu lieben. Aber doch, glaub mir, Geliebter, auch dies martervolle Glück war für mich immer noch Glück, und ich lobte, ich liebte mich jedesmal, wenn es mir noch einmal gelungen war, mich zu verhalten, und Du gingst weg, ahnungslos, frei und unbeschwert, unwissend um meine Liebe; einzig mir blieb dann die Qual, zu wissen, wie rettungslos ich Dir verfallen bin.
Aber nun ist es geschehen. Und jetzt, Geliebter, da ich nicht mehr leugnen und wegleugnen kann, was ich für Dich fühle, jetzt flehe ich Dich an, sei nicht grausam zu mir; auch das ärmste, das kläglichste Wesen hat noch seinen Stolz, und ich könnte es nicht ertragen, daß Du mich verachtest, weil ich mein Herz nicht verhalten konnte! Nicht erwidern sollst Du meine Liebe – nein, bei Gott, der mich heilen und retten soll, solche Verwegenheit wage ich nicht. Nicht einmal im Traum wage ich zu hoffen, daß Du mich, so wie ich heute bin, schon lieben könntest – ich will, Du weißt es, kein Opfer, kein Mitleid von Dir! Ich will nichts, als daß Du duldest, daß ich warte, stumm warte, bis die Zeit endlich gekommen ist! Ich weiß, schon dies ist viel, was ich von Dir erbitte. Aber ist es wirklich zu viel, einem Menschen dies kläglichste, dies kleinste Glück zu gönnen, das man doch jedem Hunde willig verstattet, das Glück, mit stummem Blick manchmal zu seinem Herrn aufzusehen? Muß man ihn gleich gewaltsam zurückstoßen, muß man ihn peitschen mit Verachtung? Denn nur dies eine, das sag ich Dir, nur dies könnte ich nicht ertragen, wenn ich, erbärmlich wie ich bin, Dir widrig geworden wäre dadurch, daß ich mich verraten habe. Wenn Du mich noch strafen würdest über meine eigene Scham und Verzweiflung hinaus. Dann hätte ich nur einen Weg und Du kennst ihn. Ich habe ihn Dir gezeigt.
Aber nein, erschrick nicht, ich will ja nicht drohen! Ich will Dich nicht erschrecken, nicht statt Deiner Liebe Mitleid erpressen, dies einzige, was Dein Herz mir bisher gegeben hat. Ganz frei und sorglos sollst Du Dich fühlen – ich will Dich um Gottes willen nicht belasten mit meiner Last, nicht beschweren mit einer Schuld, an der Du schuldlos bist – nur das eine will ich: daß Du verzeihst und vollkommen vergißt, was geschehen ist, vergißt, was ich gesagt, was ich verraten habe. Diese Beruhigung nur gib mir, nur diese kleine arme Gewißheit! Sag mir sofort, mir genügt ja ein einziges Wort, daß ich Dir nicht widerlich geworden bin, daß Du wieder zu uns kommst, als ob nichts geschehen wäre: Du ahnst ja nicht meine Sorge, Dich zu verlieren. Seit der Stunde, da die Tür hinter Dir zufiel, martert mich, ich weiß nicht warum, eine tödliche Angst, es sei zum letztenmal gewesen. Du warst so blaß in dieser Minute, Du hattest einen solchen Schrecken im Blick, als ich von Dir ließ, daß mir plötzlich eiskalt wurde inmitten meiner Glut. Und ich weiß – der Diener hat es mir erzählt – daß Du gleich hinausgeflüchtet bist aus dem Haus; mit einem Mal warst Du fort und Dein Säbel, Deine Kappe. Vergebens hat er Dich gesucht, in meinem Zimmer und überall, und so weiß ich’s, daß Du geflohen bist vor mir wie vor einem Aussatz, wie vor einer Pest. – Aber nein, Geliebter, nein, keinen Vorwurf, ich verstehe Dich doch! Gerade ich, die ich vor mir selber erschrecke, wenn ich die Klötze sehe an meinen Füßen, nur ich, die ich weiß, wie böse, wie launisch, wie quälerisch, wie schwer erträglich ich geworden bin in meiner Ungeduld, gerade ich kann doch am besten begreifen, daß man vor mir erschrickt – oh, schrecklich gut kann ich’s verstehen, daß man vor mir flüchtet, daß man zurückschauert, wenn solch ein Unwesen einen anfällt. Und doch flehe ich Dich an, daß Du mir verzeihst, denn es ist nicht Tag und nicht Nacht ohne Dich, nur Verzweiflung. Nur einen Zettel, einen kleinen raschen Zettel schick mir oder ein leeres Blatt, eine Blume, aber nur irgendein Zeichen! Nur etwas, woran ich erkenne, daß Du mich nicht wegstößt, daß ich Dir nicht widerlich geworden bin. Bedenk doch, in ein paar Tagen bin ich fort, für Monate fort, in acht, in zehn Tagen ist Deine Qual zu Ende. Und wenn die meine dann auch tausendfach beginnt, die Qual, Dich wochen-, Dich monatelang entbehren zu müssen, so denk nicht dran, denk nur an Dich, wie ich immer an Dich denke, nur an Dich! – In acht Tagen bist Du erlöst – so komm noch einmal und schick mir inzwischen ein Wort, gib mir ein Zeichen! Ich kann nicht denken, nicht atmen, nicht fühlen, solange ich nicht weiß, daß Du mir verziehen hast; ich will, ich kann nicht länger leben, verweigerst Du mir das Recht, Dich zu lieben.«
Ich las und las. Immer wieder begann ich von neuem. Die Hände zitterten mir und das Hämmern in meinen Schläfen wurde heftiger vor Grauen und Erschütterung, so verzweifelt geliebt zu sein.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.