Kapitel 19


Na so was! Da stehst noch in der Unterhosen herum und drüben warten’s wie die Haftelmacher auf dich. Die ganze Bande sitzt schon und spitzt, daß es losgeht, auch der Balinkay, jeden Moment muß der Oberst anrücken, und du weißt, was der blade Frosch für einen Tanz macht, wenn unsereiner zu spät kommt. Eigens hat der Ferdl mich noch rasch herüberg’schickt, nachschaun, ob dir was passiert ist, und da stehst und liest süße Brieferln … Also fix, Tempo, Tempo, sonst kriegen wir beide einen Mordsputzer.«


Es ist Ferencz, der in mein Zimmer hereingestürmt ist. Ich habe ihn gar nicht bemerkt, ehe er mir mit seiner schweren Pratze brüderlich auf die Schulter haut. Im ersten Augenblick verstehe ich nichts. Der Oberst? Herübergeschickt? Balinkay? Ach so, ach so, erinnere ich mich: der Empfangsabend für Balinkay! Hastig greife ich nach Hose und Rock, und mit der in der Kadettenschule eingelernten Geschwindigkeit reiße ich alles mechanisch an mich, ohne recht zu wissen, wie ich’s mache. Ferencz schaut mir merkwürdig zu:


»Was ist denn los mit dir? Ganz teppert tust du da herum. Hast am End schlechte Nachrichten von wo?«


Aber eilig wehre ich ab. »Keine Spur. Ich komm schon.« Drei Sprünge und wir sind bei der Treppe. Da reiße ich mich noch einmal herum.


»Fix Laudon noch einmal, was hast denn schon wieder?« brüllt mir der Ferencz zornig nach. Aber ich habe nur rasch den Brief an mich genommen, den ich auf dem Tisch vergessen, und in die Brusttasche geschoben. Wir kommen wirklich im letzten Augenblick in den Saal. Um den langen hufeisenförmigen Tisch gruppiert sich die ganze bunte Runde, aber keiner getraut sich recht, lustig zu sein, ehe die Vorgesetzten Platz genommen haben, Schuljungen ähnlich, wenn die Glocke schon geläutet hat und jeden Augenblick der Lehrer eintreten muß.


Und schon reißen die Ordonnanzen die Tür auf, schon treten sporenklirrend die Stabsoffiziere ein. Wir krachen alle von unseren Sitzen auf und stehen einen Augenblick »Habtacht«. Der Oberst setzt sich zur Rechten, der rangälteste Major zur Linken Balinkays, und sofort wird die Tafel animiert, Teller klirren, Löffel klappern, alles schwätzt und schlürft lebhaft durcheinander. Nur ich sitze in einer Art Abwesenheit inmitten der aufgelockerten Kameraden und taste immer wieder an den Rock über der Stelle, wo etwas hämmert und pocht wie ein zweites Herz. Durch das weiche, nachgiebige Tuch spüre ich jedesmal beim Hingreifen den Brief knistern wie ein angefachtes Feuer; ja, er ist da, er rührt, er regt sich ganz nah an meiner Brust wie etwas Lebendiges, und während die andern gemächlich schwatzen und schmatzen, kann ich an nichts als an diesen Brief denken und die verzweifelte Not des Menschen, der ihn geschrieben.


Vergebens serviert mir der Kellner. Ich lasse alles unberührt stehen, mich lähmt dieses Nach-innen-horchen wie eine Art Schlaf mit offenen Augen. Rechts und links höre ich verhangene Worte um mich, ohne sie zu verstehen; es ist, als sprächen alle eine fremde Sprache. Ich sehe vor mir, neben mir Gesichter, Schnurrbärte, Augen, Nasen, Lippen, Uniformen, aber mit jener Stumpfheit, mit der man durch eine Glasscheibe Dinge einer Auslage wahrnimmt. Ich bin da und doch nicht dabei, starr und doch beschäftigt, denn ich murmle noch immer mit lautlosen Lippen die einzelnen Worte des Briefes nach, und manchmal, wenn ich nicht weiter weiß oder mich verwirre, zuckt mir die Hand, um heimlich in die Tasche zu greifen, wie man in der Kadettenschule während der Taktikstunde verbotene Bücher hervorholte.


Da klirrt ein Messer energisch ans Glas; als ob der scharfe Stahl den Lärm zerschnitten hätte, wird es plötzlich still. Der Oberst ist aufgestanden und beginnt eine Rede. Er spricht, mit beiden Händen sich angestrengt an dem Tisch festhaltend und den stämmigen Körper vor- und rückwärts schwingend, als säße er zu Pferd. Den Einsatz bildet mit hartem knarrenden Anruf das Wort »Kameraden«; scharf skandierend und die »R« rollend wie eine Sturmtrommel, formuliert er seinen wohlvorbereiteten Speech. Angestrengt höre ich hin, aber der Kopf will nicht mit. Nur einzelne Worte höre ich schnarren und schmettern. »… Ehre der Arrmee … österreichischer Rreitergeist … Treue zum Rrregiment … alter Kamerad …« – aber dazwischen wispern geisterhaft andere Worte, leise, flehende, zärtliche wie aus einer anderen Welt. Von innen spricht der Brief mit. »Unendlich Geliebter … fürchte Dich nicht … ich kann nicht länger leben, nimmst Du mir das Recht, Dich zu lieben …« und dazwischen wieder die kraxenden R. »… er hat seine Kameraden in der Ferne nicht vergessen … nicht das Vaterrland … nicht sein Österrreich …« und abermals dazwischen die andere Stimme wie ein Schluchzen, wie ein erstickter Schrei. »Nur erlauben sollst Du mir, daß ich Dich liebe … nur ein Zeichen sollst Du mir geben …«


Und schon kracht und knattert es wie eine Salve »Hoch, hoch, hoch«. Alle sind, wie vom erhobenen Glas des Obersten emporgerissen, stramm aufgesprungen, vom Nebenraum schmettert prompt der verabredete Tusch »Hoch soll er leben«. Alle stoßen an und toasten auf Balinkay, der nur die niederprasselnde Dusche abwartet, ehe er locker, leicht, in humoristischer Art erwidert. Bloß ein paar anspruchslose Worte wolle er sagen, nur, daß er sich, trotz allem und allem, nirgends in der Welt so wohlfühle wie unter den alten Kameraden, und schon endet er mit dem Ruf: »Es lebe das Regiment! Es lebe Seine Majestät, unser allergnädigster Kriegsherr, der Kaiser!« Steinhübel gibt dem Hornisten den zweiten Wink, ein neuerlicher Tusch setzt ein, und im Chor braust die Volkshymne auf und dann das unvermeidliche Lied aller österreichischen Regimenter, in dem jedes sich mit gleichem Stolz bei seinem Namen nennt:


»Wir sind vom k. und k.
Ulanenregiment …«


Dann wandert Balinkay rings um den Tisch, das Glas in der Hand, um mit jedem einzeln anzustoßen. Mit einmal spüre ich mich, von meinem Nachbarn energisch aufgestupft, einem Paar hellgrüßender Augen entgegen: »Servus, Kamerad.« Ich nicke benommen zurück; erst als Balinkay schon beim Nächsten hält, merke ich, daß ich vergessen habe, mit ihm anzustoßen. Doch schon ist alles wieder im bunten Nebel verschwunden, der mir Gesichter und Uniformen so sonderbar verschwommen durcheinandermengt. Donnerwetter – was ist denn das mit einem Mal für ein blauer Rauch vor meinen Augen? Haben die andern schon angefangen zu qualmen, daß mir’s plötzlich so stickig heiß wird? Etwas trinken, rasch trinken! Ein, zwei, drei Gläser stürze ich hinab, ohne zu wissen, was ich trinke. Nur das Bittere, das Üblige erst einmal weg aus der Kehle! Und selber rasch was rauchen! Aber da ich in die Tasche fahre nach der Zigarettendose, spüre ich wieder das Knistern unter dem Rock: der Brief! Meine Hand zuckt zurück. Abermals höre ich durch das wüste Getümmel nur die schluchzenden, die flehenden Worte: »Nur erlauben sollst Du mir, Dich zu lieben … ich weiß ja, es ist Wahnsinn, mich Dir anzudrängen …«


Doch da klirrt abermals eine Gabel stillegebietend an ein Glas. Es ist der Major Wondraczek, der jeden Anlaß benützt, um seinen poetischen Fimmel in humoristischen Versen und Schnadahüpfeln zu entladen. Wir wissen alle: sobald Wondraczek aufsteht, sein respektables Bäuchlein an den Tisch lehnt und ein pfiffiges und zwinkerndes Gesicht zu machen versucht, beginnt unaufhaltsam der »lustige Teil« des Kameradschaftsabends.


Und schon steht er in Positur, den Zwicker über die etwas weitsichtigen Augen geschoben, und entfaltet umständlich sein Folioblatt. Es ist das obligate Gelegenheitsgedicht, mit dem er jedes Fest zu verschönen glaubt und das diesmal die Lebensgeschichte Balinkays mit »zündenden« Scherzen zu verbrämen sucht. Aus subalterner Höflichkeit oder vielleicht, weil sie selbst schon ein bißchen angetrunken sind, lachen bei jeder Anspielung einige Nachbarn gefällig mit. Endlich schlägt eine Pointe wirklich ein, und von knatterndem »bravo, bravo« dröhnt die ganze Runde.


Mich aber packt mit einem Mal ein Grauen. Wie eine Kralle krampft sich mir dieses grobe Lachen ums Herz. Denn wie kann man so lachen, wenn irgend jemand stöhnt, irgend jemand so unermeßlich leidet? Wie mit dreckigen Witzen spaßen und spotten, indes jemand zugrunde geht? Gleich, ich weiß es, wenn Wondraczek fertig gequasselt hat, beginnt die große Sumperei, das Hallo und das Allotria. Man wird singen, man wird die neuesten Strophen von der »Wirtin an der Lahn« singen, Witze erzählen, man wird lachen und lachen und lachen. Mit einmal kann ich die gutmütig glänzenden Gesichter nicht mehr sehen. Hat sie denn nicht geschrieben, nur einen Zettel solle ich schicken, nur ein einziges Wort? Ob ich nicht doch ans Telephon gehe und draußen anrufe? Man kann doch nicht einen Menschen so warten lassen! Man muß ihm doch etwas sagen, man muß …


»Bravo, bravissimo!« Alle applaudieren, Stühle krachen, der Boden dröhnt und staubt vom plötzlichen Aufspringen von vierzig oder fünfzig heiteren und ein wenig beduselten Männern. Stolz steht der Major, nimmt den Zwicker ab und faltet das Blatt zusammen, gutmütig und ein bißchen eitel den Offizieren zunickend, die ihn glückwünschend umdrängen. Ich aber nutze den Augenblick des Tumults und laufe ohne Abschied hinaus. Vielleicht merken sie’s nicht. Und wenn sie’s merken, mir ist schon alles gleichgültig, ich kann’s einfach nicht mehr ertragen, dieses Lachen, nicht diese behagliche, sich gleichsam selber den vollen Bauch beklopfende Lustigkeit. Ich kann nicht, ich kann nicht!


»Gehen Herr Leutnant schon?« fragt bei der Garderobe erstaunt die Ordonnanz. Hol dich der Teufel, murre ich innerlich und schiebe ohne ein Wort an ihm vorbei. Nur die Straße hinüber, rasch ums Eck und die Treppen der Kaserne in mein Stockwerk hinauf: allein sein, allein!


Die Gänge dünsten leer, irgendwo geht schrittauf, schrittab eine Wache, ein Wasserhahn rauscht, ein Stiefel fällt, nur aus einem der Mannschaftszimmer, wo schon vorschriftsmäßig dunkelgemacht ist, tönt etwas weich und fremd. Unwillkürlich horche ich hin: ein paar der ruthenischen Burschen singen oder summen leise zusammen ein melancholisches Lied. Immer vor dem Einschlafen, wenn sie das fremde bunte Kleid mit den Messingknöpfen ausziehen und sie wieder nichts als der nackte Mensch werden, der zu Haus im Stroh lag, erinnern sie sich an die Heimat, an die Felder oder vielleicht an ein Mädel, das sie gern hatten, und dann singen sie, um zu vergessen, wie fern sie sind, diese wehmütigen Melodien. Sonst hatte ich auf dieses Summen und Singen nie achtgehabt, weil ich die Worte nicht verstehe, diesmal aber ergreift mich brüderlich ihre fremde Traurigkeit. Ach, hinsetzen sich zu einem, mit ihm sprechen, der’s nicht begreifen würde und vielleicht doch mit einem mitfühlenden Blick seiner kuhhaften guten Augen alles besser verstünde als die drüben, die Lustigen am Hufeisentisch. Nur jemanden haben, der einem hilft aus dieser heillosen Verstrickung!


Auf den Zehenspitzen, um Kusma, meinen Burschen, nicht zu wecken, der mit schweren schnarchigen Atemzügen im Vorraum schläft, schleiche ich in mein Zimmer, werfe im Dunkel die Kappe weg, reiße den Säbel ab und die Halsbinde weg, die mich schon lange würgt und engt. Dann entzünde ich die Lampe und trete an den Tisch, um jetzt endlich, endlich in Ruhe den Brief zu lesen, den ersten erschütternden, den mir jungem, ungewissem Menschen eine Frau geschrieben.


Aber im nächsten Augenblick schrecke ich auf. Denn da auf dem Tisch liegt schon – wie ist das möglich? – der Brief im Lichtkreis der Lampe, der Brief, den ich eben noch in der Brusttasche verborgen meinte, – ja, da liegt er, blau, rechteckiges Kuvert, die wohlbekannte Schrift.


Einen Augenblick taumle ich. Bin ich betrunken? Träume ich mit offenen Augen? Bin ich nicht mehr bei Sinnen? Ich hatte doch eben noch, bei dem Aufreißen des Rocks, deutlich das Knistern des Briefes in der Brusttasche gespürt. Bin ich schon so verstört, daß ich ihn herauslegte, ohne eine Minute später noch davon zu wissen? Ich greife in die Tasche. Nein – es war ja nicht anders möglich – da steckt er noch geruhig der Brief. Und jetzt verstehe ich erst, was vorgeht. Jetzt erst werde ich ganz wach. Dieser Brief auf dem Tisch muß ein neuer, ein zweiter, ein anderer, ein später gekommener sein, und der brave Kusma hat ihn mir vorsorglich neben die Thermosflasche gelegt, damit ich ihn heimkehrend gleich finde.


Noch ein Brief! Noch ein zweiter, innerhalb von zwei Stunden! Sofort pappt sich mir die Kehle zu mit Ärger und Zorn. So wird das jetzt jeden Tag weitergehen, jeden Tag, jede Nacht, Brief auf Brief, einer nach dem andern. Wenn ich ihr schreibe, wird sie mir wieder schreiben, wenn ich nicht antworte, wird sie Antwort fordern. Immer wird sie etwas von mir wollen, jeden Tag, jeden Tag! Sie wird mir Boten schicken und mich antelephonieren, sie wird mich umlauern und umlauern lassen bei jedem Schritt, wird wissen wollen, wann ich ausgehe und zurückkomme, mit wem ich bin und was ich sage und tue und treibe. Ich sehe schon, ich bin verloren – sie lassen mich nicht mehr los – oh, der Djinn, der Djinn, der Alte und der Krüppel! Nie werde ich mehr frei sein, nie geben diese Gierigen, diese Verzweifelten mich mehr frei, bis nicht einer von uns zerstört ist, sie oder ich, durch diese unsinnige, unselige Leidenschaft.


Nicht lesen, sage ich mir. Keinesfalls heute noch lesen. Überhaupt dich nicht mehr einlassen! Du hast nicht Kraft genug gegen dies Ziehen und Zerren, es wird dich zerreißen. Besser den Brief einfach vernichten oder uneröffnet zurückschicken! Überhaupt sich’s nicht ins Bewußtsein, ins Wissen, ins Gewissen zwängen lassen, daß irgendein wildfremdes Wesen dich liebt! Hol die ganzen Kekesfalvas der Teufel! Ich habe sie früher nicht gekannt und will sie weiter nicht kennen. Aber dann schauert mich plötzlich der Gedanke an: vielleicht hat sie sich etwas angetan, weil ich nicht geantwortet habe! Vielleicht tut sie sich etwas an! Man darf einen verzweifelten Menschen nicht ganz ohne Antwort lassen! Ob ich nicht doch Kusma aufwecke und rasch ein Wort der Beruhigung, der Bestätigung hinausschicke? Nur keine Schuld auf sich nehmen, keine Schuld! So reiße ich das Kuvert auf. Gottlob, es ist nur ein kurzer Brief. Nur eine einzige Seite, nur zehn Zeilen ohne Überschrift:


»Vernichten Sie sofort meinen früheren Brief! Ich war verrückt, völlig verrückt. Alles, was ich schrieb, ist nicht wahr. Und kommen Sie morgen nicht zu uns! Bitte bestimmt nicht kommen! Ich muß mich bestrafen dafür, daß ich mich so kläglich vor Ihnen erniedrigt habe. Also auf keinen Fall morgen, ich will nicht, ich verbiete es Ihnen. Und keine Antwort! Auf keinen Fall eine Antwort! Vernichten Sie zuverlässig meinen früheren Brief, vergessen Sie jedes Wort! Und denken Sie nicht mehr daran.«


Nicht daran denken – kindischer Befehl, als wären jemals erregte Nerven gesinnt, Zügel und Zaum des Willens sich zu unterwerfen! Nicht daran denken, indes die Gedanken wie scheue, losgerissene Pferde mit schmerzhaft hämmernden Hufen in dem engen Raum zwischen den Schläfen jagen! Nicht daran denken, indes die Erinnerung unablässig Bild auf Bild fiebernd heranreißt, indes die Nerven flirren und flackern und alle Sinne sich spannen zur Abwehr und Gegenwehr! Nicht daran denken, indes das Briefblatt einem die Hand noch versengt mit seinen brennenden Worten, das Briefblatt, das eine und das andere, das man aufnimmt und wieder weglegt und wieder liest und vergleicht, das erste und das zweite, bis jedes Wort eingeglüht ist wie ein Brandmal im Gehirn! Nicht daran denken, indes man doch nur dies eine und eine zu denken vermag: wie entrinnen, wie sich wehren? Wie sich retten vor diesem gierigen Andrang, vor diesem unerwünschten Überschwang?


Nicht daran denken, – man will es doch selbst und löscht das Licht, weil Licht alle Gedanken zu wach, zu wirklich macht. Man sucht unterzukriechen, sich zu verstecken im Dunkel, man reißt die Kleider vom Leibe, um freier zu atmen, man wirft sich hin auf das Bett, um sich fühlloser zu machen. Aber die Gedanken, sie ruhen nicht mit, wie Fledermäuse wirr und gespenstisch umflattern sie die ermatteten Sinne, gierig wie Ratten knabbern und wühlen sie sich durch die bleierne Müdigkeit. Je ruhiger man liegt, um so unruhiger wird das Erinnern, um so erregender die flackernden Bilder im Dunkeln; so steht man wieder auf und macht neuerdings Licht, um die Gespenster zu scheuchen. Aber das erste Ding, das die Lampe feindselig faßt, ist das helle Viereck des Briefs, und um den Stuhl hängt die Bluse, die befleckte, alles erinnert und mahnt. Nicht daran denken – man will es doch selbst und kein Wille vermag’s. So irrt man im Zimmer hin und her und her und hin, reißt den Kasten auf und im Kasten die Laden, eine nach der andern, bis man die kleine Glashülse findet mit einem Schlafmittel und hinwankt zu dem Bett. Aber es gibt keine Flucht. Selbst in den Traum wühlen sich, die schwarze Schale des Schlafs durchnagend, die rastlosen Ratten der schwarzen Gedanken, immer dieselben, immer dieselben, und da man morgens erwacht, fühlt man sich wie ausgehöhlt und ausgeblutet von Vampiren.


Wohltat darum die Reveille, Wohltat der Dienst, diese bessere, diese mildere Gefangenschaft! Wohltat, sich auf sein Pferd zu schwingen und vorwärts im Trab mit den andern, ununterbrochen achtsam sein zu müssen und angespannt! Man hat zu gehorchen, man hat zu befehlen! Drei Exerzierstunden, vier Stunden vielleicht entrinnt, entreitet man sich selbst.


Alles geht zuerst gut. Wir haben – gesegneterweise – einen scharfen Tag, Übung für das Manöver, die große Schlußdefilierung, wo jede Eskadron in entwickelter Linie am Kommandierenden vorüberreitet, jeder Pferdekopf, jede Säbelspitze haarscharf ausgerichtet. Bei solchen Paradestücken gibt es verdammt viel zu tun, zehnmal, zwanzigmal heißt es von neuem beginnen, jeden einzelnen Ulanen im Auge behalten, und so sehr fordert die Übung von jedem unter uns Offizieren angespannteste Aufmerksamkeit, daß ich unentrinnbar ganz bei der Sache bin und alles andere vergesse. Gottlob!


Aber während wir zehn Minuten Pause machen, um die Pferde ausschnaufen zu lassen, streift mein wandernder Blick zufällig den Horizont. Weit schimmern im stählernen Blau die Wiesen mit Garben und Schnittern, rund und rein schwingt sich die flache Linie in den Himmel – nur hinter der Lisière silhouettiert sich, zahnstocherhaft schmal, der sonderbare Umriß eines Turms. Das ist ja, ich schrecke auf, ihr Turm mit der Terrasse – zwanghaft ist der Gedanke wieder da, zwanghaft muß ich hinstarren und mich erinnern: acht Uhr, jetzt ist sie längst wach und denkt an mich. Vielleicht tritt der Vater an ihr Bett und sie spricht von mir, sie jagt und fragt Ilona oder den Diener, ob nicht ein Brief gekommen sei, die sehnlich erwartete Nachricht (ich hätte ihr doch schreiben sollen!) – oder vielleicht hat sie sich schon hinauffahren lassen auf den Turm und späht und starrt von dort, angeklammert an das Geländer, genau so herüber nach mir, wie ich jetzt hinüberstarre. Und kaum daß ich mich erinnere, jemand anderer sehne sich dort nach mir, spüre ich in der eigenen Brust schon das mir wohlbekannte heiße Zerren und Ziehen, die verfluchte Kralle des Mitleids, und obwohl jetzt die Übung wieder beginnt, von allen Seiten die Kommandorufe wechseln und die verschiedenen Gruppen in Galopp und Karriere sich zu vorgeschriebenen Formationen formen und lösen und ich selber mein »rechts schwenkt« und »links schwenkt« in das Getümmel schreie, bin ich innerlich hinweggerissen; in der untersten und eigensten Schicht meines Bewußtseins denke ich immer nur an das eine, an das ich nicht denken will, an das ich nicht denken soll.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.