Kapitel 20


Himmel, Angst und Zwirn, was ist das für eine Sauerei! Zurück! Auseinander, ihr Bagage!« Es ist unser Oberst Bubencic, der, puterrot im Gesicht, heranprescht und über den ganzen Exerzierplatz brüllt. Und er hat nicht unrecht, der Oberst. Irgendein Kommando muß falsch erteilt worden sein, denn zwei Züge, darunter der meine, die nebeneinander schwenken sollten, sind in voller Karriere ineinander geraten und haben sich gefährlich verfilzt. Ein paar Pferde brechen im Tumult aufscheuend aus, andere bäumen sich, ein Ulan ist gestürzt und unter die Hufe geraten, dazwischen schreien und toben die Chargen. Es klirrt, es wiehert, es dröhnt und stampft wie bei einer wirklichen Schlacht. Erst allmählich lösen die heranwetternden Offiziere den lärmenden Knäuel leidlich auseinander, auf ein scharfes Trompetensignal reihen sich die neugeformten Schwadronen wieder geschlossen wie vordem zu einer einzigen Front zusammen. Aber nun beginnt eine schreckliche Stille; jeder weiß, jetzt wird Abrechnung gehalten werden. Die Pferde, noch angeschäumt von der Aufregung des Ineinandergeratens und vielleicht auch die verhaltene Nervosität ihrer Reiter fühlend, zittern und zucken, die lange Linie der Helme schwingt dadurch leise mit wie im Wind ein stählern gespannter Telegraphendraht. In diese beunruhigte Stille reitet der Oberst jetzt vor. Schon an der Art, wie er im Sattel sitzt, aufgestrafft in den Steigbügeln und mit der Reitpeitsche erregt gegen die eigenen Stulpenstiefel klatschend, ahnen wir das anziehende Unwetter. Ein kleiner Ruck am Zügel. Sein Pferd steht still. Dann zuckt es scharf über den ganzen Platz hinweg (es ist, als ob ein Hackmesser niederfiele): »Leutnant Hofmiller!«


Nun begreife ich erst, wieso das alles passiert ist. Zweifellos habe ich selbst das falsche Kommando gegeben. Ich muß meine Gedanken nicht beisammen gehabt haben. Ich habe wieder an diese schreckliche Sache gedacht, die mich völlig verstört. Ich allein bin schuld. Mir allein fällt alle Verantwortung zu. Ein leichter Schenkeldruck, und mein Wallach trabt an den Kameraden vorbei, die peinlich berührt wegschauen, auf den Oberst zu, der etwa dreißig Schritt vor der Front unbeweglich wartet. In vorschriftsmäßiger Distanz halte ich vor ihm; inzwischen ist auch das leiseste Klappern und Klinkern abgestorben. Jene letzte, lautloseste, jene wahrhaft tödliche Stille setzt ein wie bei einer Hinrichtung knapp vor dem Kommando »Feuer«. Jeder, selbst der letzte ruthenische Bauernbursche dort rückwärts, weiß, was mir bevorsteht.


An das, was jetzt kam, will ich mich nicht erinnern. Der Oberst dämpft zwar mit Absicht seine trockene, knarrende Stimme, damit die Mannschaft nicht die wüsten Grobheiten vernehmen kann, mit denen er mich bedenkt, aber manchmal fährt doch eines der saftigsten Zornworte wie »Eselei« oder »schweinemäßiges Kommandieren« ihm die Kehle hoch, daß es scharf in die Stille rasselt. Und jedenfalls muß man an der Art, wie er, krebsrot im Gesicht, mich anschnaubt und dabei jedes Staccato mit einem klatschenden Hieb gegen die Reitstiefel begleitet, bis in die letzte Reihe merken, daß ich ärger heruntergeputzt werde als ein Schulbub; hundert neugierige und vielleicht ironische Blicke spüre ich in meinen Rücken gespießt, während der cholerische Troupier mich mit gesprochener Jauche überschüttet. Seit Monaten und Monaten ist über keinen von uns ein ähnliches Hagelwetter niedergegangen wie über mich an diesem stahlblau strahlenden, von ahnungslosen Schwalben munter überflogenen Junitag.


Mir zittern die Hände am Zügel vor Ungeduld und Zorn. Am liebsten möchte ich dem Pferd eins über die Kruppe dreschen und auf und davon galoppieren. Aber vorschriftsmäßig unbeweglich, erfrorenen Gesichts, muß ich dulden, daß Bubencic mich abschließend noch anpfeift, er lasse sich von einem solchen elenden Patzer nicht die ganze Übung versauen. Morgen werde ich Weiteres hören, für heute wünsche er meiner Visage nicht mehr zu begegnen. Dann hart und scharf wie ein Fußtritt ein verächtliches »Abtreten!«, wobei er abschließend noch einmal mit der Reitpeitsche gegen den eigenen Stiefelschaft schlägt.


Ich aber muß gehorsam mit der Hand an den Helm fahren, ehe ich kehrtmachen und zurück zur Front reiten darf; kein Blick eines Kameraden kommt mir offen entgegen, alle ducken sie aus Verlegenheit die Augen tief unter den Helmschatten. Alle schämen sich für mich, oder ich empfinde es zumindest so. Glücklicherweise kürzt ein Kommando meinen Spießrutengang. Auf ein Trompetensignal beginnt die Übung von neuem; die Front zerbricht und löst sich in einzelne Züge. Und diesen Augenblick benützt Ferencz – warum sind die Dümmsten immer die Gutmütigsten zugleich? – um wie zufällig sein Pferd heranzudrängen und mir zuzuflüstern: »Mach dir nix draus! So was kann jedem passieren.«


Aber er kommt schlecht an, der brave Junge. Denn barsch fahre ich ihn an: »Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten«, und drehe scharf ab. In dieser Sekunde habe ich zum erstenmal und in der eigenen Seele erfahren, wie ungeschickt man mit Mitleid verwunden kann. Zum erstenmal und zu spät.


Hinschmeißen! Alles hinschmeißen! denke ich mir, während wir wieder in die Stadt zurückreiten. Fort, nur fort, irgendwohin fort, wo niemand einen kennt, wo man frei ist von allem und allem! Weg, nur weg, entkommen, entrinnen! Keinen mehr sehen, sich nicht mehr vergöttern, nicht mehr erniedrigen lassen! Fort, nur fort – unbewußt geht das Wort in den Rhythmus des Trabs über. In der Kaserne werfe ich die Zügel rasch einem Ulanen zu und verlasse sofort den Hof. Ich will nicht bei der Offiziersmesse heute sitzen, will mich weder bespotten und noch weniger mich bemitleiden lassen.


Aber ich weiß nicht recht, wohin. Ich habe keinen Vorsatz, kein Ziel: in meinen beiden Welten bin ich unmöglich geworden, draußen und drinnen. Nur fort, nur fort, hämmert’s in den Pulsen, nur fort, nur fort, dröhnt’s in den Schläfen. Nur hinaus, irgendwohin, weg jetzt von dem verfluchten Kasernenhaus, weg von der Stadt! Noch die widerliche Hauptstraße entlang und weiter, nur weiter! Aber plötzlich ruft mir jemand von ganz nah ein herzliches »Servus« herüber. Unwillkürlich starre ich hin. Wer grüßt mich da so intim – ein hochgewachsener Herr in Zivil, Breeches, grauer Dreß und schottische Mütze? Nie gesehen, ich erinnere mich nicht. Er steht der fremde Herr, neben einem Automobil, um das zwei Mechaniker in blauen Kitteln hämmernd beschäftigt sind. Aber jetzt tritt er, offenbar meine Verwirrung gar nicht bemerkend, auf mich zu. Es ist Balinkay, den ich immer nur in Uniform gesehen.


»Hat schon wieder einmal seinen Blasenkatarrh«, lacht er mir zu, auf das Auto deutend, »so geht’s bei jeder Fahrt. Ich glaub, das wird noch gute zwanzig Jahre dauern, ehe man mit diesen Töfftöffs wirklich verläßlich fahren kann. War doch einfacher mit unseren guten alten Rössern, da versteht unsereins wenigstens was davon.«


Unwillkürlich spüre ich eine starke Sympathie für diesen fremden Menschen. Er hat eine so sichere Art in jeder Bewegung und dazu den hellen warmen Blick der Leichtsinnigen und Leichtlebigen. Und kaum daß dieser unvermutete Gruß mich anruft, blitzt plötzlich in mir der Gedanke auf: dem könntest du dich anvertrauen. Und im winzigen Raum einer Sekunde schließt sich mit jener rapiden Geschwindigkeit, mit der unser Gehirn in angespannten Momenten funktioniert, an jenen ersten Gedanken schon eine ganze Kette. Er ist in Zivil, er ist sein eigener Herr. Er hat selber Ähnliches durchgemacht. Er hat dem Schwager des Ferencz geholfen, er hilft jedem gern, warum sollte er nicht auch mir behilflich sein? Ehe ich noch recht Atem geschöpft habe, ist diese ganze fliegende, flirrende Kette blitzschneller Überlegungen schon zu einem jähen Entschluß zusammengeschweißt. Ich fasse Mut und trete an Balinkay heran.


»Verzeih«, sage ich und staune selbst über meine Unbefangenheit. »Aber hättest vielleicht fünf Minuten Zeit für mich?«


Er stutzt ein wenig, dann blinken seine Zähne hell.


»Mit Wonne, lieber Hoff … Hoff …«


»Hofmiller«, ergänze ich.


»Ganz zu deiner Verfügung. Wäre noch schöner, wenn man keine Zeit hätt für einen Kameraden. Willst herunten im Restaurant, oder gehen wir hinauf auf mein Zimmer?«


»Lieber oben, wenn’s dir gleich ist, und wirklich nur fünf Minuten. Ich halt dich nicht auf.«


»Aber solang du willst. Bis die Kraxen da repariert ist, dauert’s ohnehin noch eine halbe Stund. Nur sehr bequem wirst du’s oben bei mir nicht finden. Der Wirt will mir immer das noble Zimmer im ersten Stock geben, aber aus einer g’wissen Sentimentalität nehm ich immer das alte von damals. Ich hab da einmal … na, reden wir nicht davon.«


Wir gehen hinauf. Wirklich, auffällig bescheiden ist das Zimmer für den reichen Burschen. Einbettig, kein Kasten, kein Fauteuil, gerade nur zwei magere Strohsessel zwischen Fenster und Bett. Balinkay zieht seine goldene Tabatière, bietet mir eine Zigarette an und macht mir’s erfreulich leicht, indem er geradewegs anfängt:


»Also lieber Hofmiller, womit kann ich dir dienen?«


Kein langes Hin und Her, denke ich mir, und so sage ich klar heraus:


»Ich möchte dich um deinen Rat bitten, Balinkay. Ich will quittieren und weg aus Österreich. Vielleicht weißt was für mich.«


Balinkay wird mit einem Mal ernst. Sein Gesicht strafft sich. Er wirft die Zigarette weg.


»Unsinn – ein Bursch wie du! Was fällt dir denn ein!«


Aber in mich ist plötzlich eine zähe Hartnäckigkeit gefahren. Ich spüre den Entschluß, an den ich vor zehn Minuten noch gar nicht dachte, in mir starr und stark werden wie Stahl.


»Lieber Balinkay«, sage ich auf jene knappe Art, die jede Diskussion abwehrt, »sei so freundlich und erlaß mir jede Explikation. Jeder weiß, was er will und was er muß. Von außen kann so was kein anderer verstehn. Glaub mir, ich muß jetzt den Strich ziehen.«


Balinkay sieht mich prüfend an. Er muß bemerkt haben, daß es mir ernst ist.


»Ich will mich ja net einmengen, aber glaub mir, Hofmiller, du machst einen Unsinn. Du weißt nicht, was du tust. Du bist heut, schätz ich, so um die fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig und nicht weit vom Oberleutnant. Und das ist immerhin schon allerhand. Hier hast deinen Rang, hier stellst was vor. Aber im Augenblick, wo du was andres neu anfangen willst, ist der letzte Schubiak und der dreckigste Ladenschwengel dir über, schon weil er nicht alle unsere dummen Vorurteile wie einen Tornister auf dem Buckel schleppt. Glaub mir, wenn unsereins die Uniform auszieht, dann bleibt nicht mehr viel von dem, der man früher war, und ich bitt dich nur eins: täusch dich nicht, weil’s gerade mir gelungen ist, aus dem Dreck wieder herauszukommen. Das war ein purer Zufall, wie er in tausend Fällen einmal passiert, und ich möcht lieber nicht wissen, was mit den andern heut los ist, denen der Herrgott nicht so freundlich wie mir den Steigbügel hingehalten hat.«


Es ist etwas Überzeugendes in seiner Entschiedenheit. Aber ich spüre, daß ich nicht nachgeben darf.


»Ich weiß schon«, bestätige ich, »daß es ein Rutsch nach unten ist. Aber ich muß eben fort, und da bleibt keine Wahl. Tu mir die Lieb und red mir jetzt nicht ab. Was B’sondres bin ich nicht, das weiß ich, und hab auch nichts B’sondres g’lernt, aber wenn du mich wirklich wo hinempfehlen willst, kann ich versprechen, dir keine Schand zu machen. Ich weiß, daß ich nicht der erste bin, du hast ja auch den Schwager vom Ferencz untergebracht.«


»Den Jonas« – schnippt Balinkay verächtlich mit der Hand, »aber ich bitt dich, wer war denn der? Ein kleiner Beamter in der Provinz. So einem ist leicht zu helfen. Den braucht man nur von einem Hocker auf einen etwas besseren zu setzen, und er kommt sich schon wie ein Herrgott vor. Was macht’s dem aus, ob er sich da oder dort die Hosen durchwetzt, der war nix Beßres gewöhnt. Aber für einen was auszuknobeln, der schon einmal einen Stern am Kragen gehabt hat, das g’hört auf ein andres Blatt. Nein, lieber Hofmiller, die oberen Etagen sind immer schon besetzt. Wer beim Zivil anfangen will, muß sich unten anstellen und sogar im Keller, wo’s nicht grad nach Rosen riecht.«


»Das macht mir nichts.«


Ich mußte das sehr heftig gesagt haben, denn Balinkay blickte mich erst neugierig und dann mit einem merkwürdig starren Blick an, der wie aus einer weiten Ferne kam. Schließlich rückte er den Sessel näher und legte seine Hand auf meinen Arm.


»Du Hofmiller, ich bin nicht dein Vormund und hab dir keine Lektionen zu erteilen. Aber glaub’s einem Kameraden, der die Chose durchgemacht hat: das macht sehr viel aus, wenn man mit einem Ruck von oben nach unten rutscht, von seinem Offizierspferd mitten hinein in den Dreck … das sagt dir einer, der hier in diesem schäbigen kleinen Zimmer gesessen ist von zwölf Uhr mittags bis in die Dunkelheit und genau dasselbe sich vorgeredet hat, dieses ›Das macht mir nix aus‹. Knapp vor halb zwölf habe ich mich abgemeldet beim Rapport. In die Offiziersmeß zu die andern wollt ich mich nicht mehr setzen und in Zivil wiederum am hellichten Tag nicht über die Straßen. So habe ich mir das Zimmer da genommen – jetzt verstehst auch, warum ich immer grad dasselbe will – und hier hab ich gewartet, bis es dunkel wird, damit keiner mitleidig hinblinzeln kann, wie der Balinkay abpascht im schäbigen grauen Sakko und mit einem Melonenhut auf dem Schädel. Da, an dem Fenster bin ich gestanden, genau an dem Fenster da, und hab noch einmal hinuntergeschaut auf den Bummel. Dort sind die Kameraden gegangen, jeder in Uniform, aufrecht und grad und frei, jeder ein kleiner Herrgott, und jeder hat gewußt, wer er ist und wohin er g’hört. Da hab ich erst gespürt, daß ich nur mehr ein Dreck bin in dieser Welt; mir war, als hätt ich mir die Haut heruntergerissen mit meiner Uniform. Natürlich denkst jetzt: Unsinn – ein Tuch ist blau und das andere schwarz oder grau, und es bleibt wurscht, ob man einen Säbel spazierenführt oder einen Regenschirm. Aber den Ruck spür ich noch heut in allen Knochen, wie ich dann nachts hinausgeschlichen bin an den Bahnhof, und an der Ecke sind zwei Ulanen an mir vorbeigekommen und keiner hat salutiert. Und wie ich dann meinen Koffer selbst hin’schleppt hab in die dritte Klass’ und zwischen den schwitzigen Bauernweibern gesessen bin und den Arbeitern – ja, ich weiß schon, daß das alles dumm ist und ungerecht und unsere sogenannte Standesehre ein rechter Pflanz – aber man hat’s eben im Blut nach acht Jahren Dienst und vier Jahren Kadettenschul! Wie ein Verstümmelter kommt man sich im Anfang vor oder wie einer, der ein Geschwür hat mitten im G’sicht. Gott schütz dich, daß du’s selber durchmachen mußt! Für kein Geld in der ganzen Welt möcht ich den Abend noch einmal miterleben, wie ich damals hier weggeschlichen und jeder Laterne ausgebogen bin bis zum Bahnhof. Und dabei war das erst der Anfang.«


»Aber Balinkay, grad darum will ich doch irgendwohin weit weg, wo das alles nicht existiert und niemand mehr von einem was weiß.«


»Genau so, Hofmiller, hab ich geredt, genau so gedacht! Nur weit weg, damit ist alles ausgewischt, tabula rasa! Lieber Schuhputzer drüben in Amerika oder G’schirrwäscher, wie’s ja immer in den Zeitungsgeschichten von den großen Millionären steht! Aber, Hofmiller, auch bis hinüber braucht’s ein gutes Stück Geld, und das weißt eben noch nicht, was das für unsereins heißt, Buckerln machen! Sobald ein alter Ulan nicht mehr den Kragen mit den Sternen am Hals spürt, kann er nicht einmal mehr anständig in seinen Stiefeln stehn und noch weniger so reden, wie er’s früher gewohnt war. Blöd und verlegen sitzt man bei seinen besten Freunden herum, und grad wenn man um was bitten soll, schlägt einem der Stolz auf’s Maul. Ja, mein Lieber, ich hab damals allerhand erlebt, an das ich lieber nicht denken will – Blamagen und Erniedrigungen, von denen ich noch zu niemandem g’sprochen hab.«


Er war aufgestanden und machte eine heftige Bewegung mit den Armen, als würde ihm mit einmal der Rock zu eng. Plötzlich wandte er sich um.


»Übrigens, dir kann ich’s ruhig erzählen! Denn heut schäm ich mich nicht mehr, und dir tät einer vielleicht nur was Gutes, wenn er dir die romantischen Lichter rechtzeitig abdreht.«


Er setzte sich wieder hin und rückte nah heran.


»Nicht wahr, auch dir haben’s wahrscheinlich die ganze Geschichte vom glorreichen Fischzug erzählt, wie ich meine Frau im Shepherds Hotel kenneng’lernt hab? Ich weiß, sie trommeln’s in allen Regimentern herum und möchten’s am liebsten ins Lesebuch drucken lassen als Heldentat eines k. und k. Offiziers. Nun, so glorios war die Sache nicht; nur etwas ist an der Geschichte wahr, nämlich daß ich sie wirklich im Shepherds Hotel kennengelernt hab. Aber wie ich sie kennengelernt hab, das weiß nur ich und nur sie, und sie hat’s niemandem erzählt und ich auch noch keinem. Und dir erzähl ich’s bloß, damit begreifst, daß für unsereins die Rosinen nicht auf der Straßen wachsen … Also, ums kurz zu machen: wie ich sie im Shepherds Hotel kennengelernt hab, war ich dort – aber erschrick jetzt nicht – da war ich dort Zimmerkellner – ja, mein Lieber, ein ganz gewöhnlicher schäbiger Servierkellner. Aus Vergnügen war ich’s natürlich nicht geworden, sondern aus Dummheit, aus unserer jämmerlichen Unerfahrenheit. In Wien hatte in meiner schäbigen Pension ein Ägypter gewohnt, und der Kerl hatte mir vorgeschwatzt, sein Schwager sei der Leiter vom Royal Poloklub in Kairo, und wenn ich ihm zweihundert Kronen Provision gäbe, so könnt er mir dort eine Stellung als Trainer verschaffen. Man fliege dort auf gute Manieren und guten Namen; na, im Poloturnier war ich immer der erste und die Gage, die er mir nannte, vorzüglich – in drei Jahren hätt ich mir genug zusammenhamstern können, um nachher mit was Anständigem zu starten. Außerdem, Kairo, das liegt doch weit ab, und beim Polo hat man’s mit bessere Leut zu tun. So hab ich begeistert zugestimmt. Na – ich will dich nicht damit anöden, wie viel Dutzend Klinken ich hab drücken müssen und wie viele verlegene Ausreden von sogenannten alten Freunden anhören, eh ich die paar hundert Kronen zusammengekratzt hab für die Überfahrt und Ausstattung – man braucht für so einen Nobelklub doch einen Reitanzug und einen Frack und muß anständig auftreten. Es ist trotz Zwischendeck verflucht knapp ausgegangen. In Kairo klimperten mir im ganzen noch sieben Piaster in der Tasche, und als ich beim Royal Poloklub anläut’, glotzt mich ein Negerkerl an und sagt, er kennt keinen Herrn Efdopulos und weiß von keinem Schwager und sie brauchen keinen Trainer und überhaupt sei der Poloklub in Auflösung begriffen – du verstehst schon, dieser Ägypter war natürlich ein elender Lump, der mir Trottel die zweihundert Kronen abgeschwindelt hatte, und ich war nicht gefinkelt genug gewesen, mir die angeblichen Briefe und Telegramme zeigen zu lassen. Ja, lieber Hofmiller, solchen Kanaillen sind wir nicht gewachsen, und dabei war’s nicht das erstemal, daß ich so hineingesaust bin bei meiner Stellensucherei. Aber diesmal war’s ein Hieb direkt in den Magen. Denn, mein Lieber, da stand ich jetzt, ohne eine Katz zu kennen, in Kairo mit ganzen sieben Piastern in der Tasche, und das ist nicht nur ein heißes, sondern auch ein verdammt teures Pflaster. Wie ich dort gewohnt und was ich gefressen hab die ersten sechs Tage, erspar ich dir; mich wundert’s selbst, daß man so was übersteht. Und siehst, ein andrer geht in so einem Fall hin zum Konsulat und schnorrt, man soll ihn per Schub zurückschicken. Aber darin liegt ja der Knacks – unsereins kann sowas nicht. Unsereiner kann sich nicht im Vorzimmer auf eine Bank setzen mit Hafenarbeitern und entlassenen Köchinnen, und kann nicht den Blick ertragen, mit dem so eine kleine Konsulatsseele einen anschaut, wenn er im Paß herausbuchstabiert ›Baron Balinkay‹. Lieber geht unsereins vor die Hunde; darum stell dir vor, was das im Pech noch für ein Glück war, wie ich durch einen Zufall erfahren hab’, sie brauchen einen Aushilfskellner im Shepherds Hotel. Und da ich einen Frack hatte und sogar einen neuen (vom Reitanzug hatte ich die ersten Tage gelebt) und auf mein Französisch hin haben sie mich gnädigst auf Probe genommen. Na – von außen sieht so was noch erträglich aus; man steht da, mit blitzblanker Hemdbrust, man dienert und serviert, man macht gute Figur; aber daß man als Zimmerkellner nebenan wo zu dritt schläft in einer Mansarde unter dem brennheißen Dach mit sieben Millionen Flöhen und Wanzen und morgens sich zu dritt hintereinander wäscht in der gleichen Blechschüssel und daß es unsereinem wie Feuer in der Hand brennt, wenn man sein Trinkgeld kriegt und so weiter – na, Schwamm drüber! Genug, daß ich’s erlebt, genug, daß ich’s überstanden hab’!


Und dann kam die Sache mit meiner Frau. Sie war kurz vorher Witwe geworden und mit ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Kairo gefahren. Und dieser Schwager war so ziemlich der ordinärste Kerl, den du dir denken kannst, breit, dick, schwammig, patzig, und irgend was hat ihn an mir geärgert. Vielleicht war ich ihm zu elegant, vielleicht hab’ ich den Buckel nicht gehörig krumm gemacht vor dem Mynheer, und da ist es einmal passiert, daß er mich, weil ich ihm das Frühstück nicht ganz zur rechten Zeit brachte, angefahren hat: ›Sie Tölpel!‹ … Siehst, und das steckt unsereinem in den Muskeln, wenn man einmal Offizier war – ehe ich was überlegt hab’, hat’s mir schon einen Ruck gegeben wie einem angerissenen Pferd, ich bin aufgefahren – wirklich nur ein Haar hat gefehlt und ich hätt ihm die Faust ins Gesicht gedroschen. Na – im letzten Moment hab’ ich mich noch derfangen, denn, weißt, ohnehin war mir ja die ganze Sache mit der Kellnerei alleweil nur wie eine Maskeraden vorgekommen, und es hat mir sogar – ich weiß nicht, ob du das verstehst – im nächsten Augenblick schon eine Art sadistischen Spaß gemacht, daß ich, der Balinkay, mir sowas jetzt gefallen lassen muß von einem dreckigen Käsehändler. So bin ich nur stillgestanden und hab’ ihn ein bißchen angelächelt – aber weißt, so von oben herab, so um die Nasen herum gelächelt, daß der Kerl weißgrün geworden ist vor Wut, weil er eben gespürt hat, daß ich ihm irgendwie über bin. Dann bin ich ganz kühl aus dem Zimmer marschiert und hab’ noch eine besonders ironisch-höfliche Verbeugung gemacht – geplatzt ist er beinah vor Wut. Aber meine Frau, das heißt, meine jetzige Frau, war dabei; auch sie muß was gespannt haben von dem, was da zwischen uns beiden vorging, und irgendwie hat sie gespürt – sie hat’s mir später eingestanden – an der Art, wie ich aufgefahren bin, daß noch nie im Leben sich jemand zu mir so was erlaubt hat. So kam sie mir nach in den Korridor, ihr Schwager sei halt ein bissel aufgeregt, ich möcht’s ihm nicht übelnehmen – na, und damit du die ganze Wahrheit weißt, mein Lieber – sie hat sogar versucht, mir eine Banknote zuzustecken, um alles gradzubügeln.


Wie ich diese Banknote dann refüsiert hab, da muß sie zum zweitenmal gespannt haben, daß etwas nicht ganz stimmte mit meiner Kellnerei. Aber damit wäre die Sache aus gewesen, denn ich hab’ in den paar Wochen schon genug zusammengekratzt gehabt, um wieder nach Hause zu können, ohne betteln zu müssen beim Konsulat. Ich bin nur hin, um mir eine Auskunft zu holen. Nun da kam mir der Zufall zu Hilfe, eben so ein Zufall, wie er nur einmal hineinplatzt unter hunderttausend Nieten – daß der Konsul gerade durch das Vorzimmer geht und niemand anderer ist als der Elemér von Juhácz, mit dem ich weiß Gott wie oft im Jockeyklub zusammengesessen bin. Na, der hat mich gleich umarmt und sofort eingeladen in seinen Klub – und wieder durch einen Zufall – also Zufall plus Zufall, ich erzähl dir das nur, damit du’s einsiehst, wieviel tolle Zufälle sich Rendezvous geben müssen, um unsereins aus dem Dreck zu ziehn – war dort meine jetzige Frau. Wie der Elemér mich vorstellt als seinen Freund, den Baron Balinkay, wird sie feuerrot. Sie hat mich natürlich sofort erkannt und nun war ihr das mit dem Trinkgeld scheußlich. Aber gleich hab’ ich g’spürt, was sie für eine Person ist, für eine noble, anständige Person, denn sie hat nicht gefaxt, als wüßt sie von nix, sondern offen und ehrlich gleich Farbe bekannt. Alles andere hat sich dann rasch gedeichselt und g’hört nicht hierher. Aber glaub mir, ein solches Zusammenspiel wiederholt sich nicht alle Tag, und trotz meinem Geld und trotz meiner Frau, für die ich Gott jeden Morgen und Abend tausendmal danke, ich möcht’s nicht ein zweites Mal durchleben, was ich vorher erlebt hab’.«


Unwillkürlich streckte ich Balinkay die Hand hin.


»Ich dank dir aufrichtig, daß du mich gewarnt hast. Jetzt weiß ich noch besser, was mir bevorsteht. Aber mein Wort – ich seh keinen andern Weg. Weißt wirklich nichts für mich? Ihr sollt’s doch große Geschäfte haben.«


Balinkay schwieg einen Augenblick, dann seufzte er teilnehmend.


»Armer Kerl, dir müssen’s aber gehörig zugesetzt haben – keine Angst, ich inquirier dich nicht, ich seh schon selber genug. Wenn’s einmal so weit ist, nutzt kein Zureden und Wegreden mehr. Da muß man eben als Kamerad zugreifen, und daß da nix fehlen wird, dafür braucht’s kein besonderes Jurament. Nur eins, Hofmiller, so vernünftig wirst doch sein, daß dir nicht einredst, ich könnt dich bei uns gleich in Glanz und Glorie hinaufschubsen. So was gibt’s in keinem ordentlichen Betrieb, das möchte nur böses Blut machen bei die andern, wenn einer ihnen mir nix, dir nix über die Schultern springt. Du mußt schon ganz von unten anfangen, vielleicht ein paar Monate bei blödsinnigen Schreibereien im Kontor sitzen, bevor man dich hinüberschicken kann in die Plantagen oder sonst was herauszaubern. Jedenfalls, wie g’sagt, ich wer’s schon deichseln. Morgen fahren wir ab, meine Frau und ich, acht oder zehn Tage bummeln wir in Paris, dann geht’s für ein paar Tage nach Havre und Antwerpen, Inspektion in den Agenturen. Aber in rund drei Wochen sind wir zurück, und gleich aus Rotterdam schreib ich dir. Keine Sorg – ich vergeß nicht! Auf den Balinkay kannst dich verlassen.«


»Ich weiß«, sagte ich, »und ich dank dir schön.«


Aber Balinkay mußte die leichte Enttäuschung hinter meinen Worten gespürt haben (wahrscheinlich hatte er selbst Ähnliches mitgemacht, denn nur, wer derlei erlebt hat, bekommt ein Ohr für solche Zwischentöne).


»Oder … oder wäre dir das schon zu spät?«


»Nein«, zögerte ich, »sobald ich’s einmal sicher weiß, dann natürlich nicht. Aber … aber lieber wär’s mir schon gewesen, wenn …«


Balinkay dachte kurz nach. »Heut zum Beispiel hättst keine Zeit? … Ich mein, weil meine Frau heut noch in Wien ist, und da das G’schäft ihr g’hört und nicht mir, hat sie doch das entscheidende Wörtel dabei.«


»Doch – selbstverständlich bin ich frei«, sagte ich rasch. Mir war eben eingefallen, daß der Oberst heute meiner »Visage« nicht mehr begegnen wollte.


»Bravo! Famos! Dann wär’s doch am g’scheitsten, du fährst einfach mit in der Kraxen! Vorn beim Chauffeur ist noch Platz. Rückwärts kannst freilich nicht sitzen, ich hab’ meinen alten dasigen Freund Baron Lajos mit der Seinigen eingeladen. Um fünf Uhr sind wir beim Bristol, ich sprech sofort mit meiner Frau, und damit sind wir überm Berg; die hat noch nie nein gesagt, wenn ich sie für einen Kameraden um was gebeten hab’.«


Ich drückte ihm die Hand. Wir gingen die Treppe hinab. Die Mechaniker hatten die blauen Kittel bereits ausgezogen, das Automobil stand bereit; zwei Minuten später knatterten wir mit dem Wagen hinaus auf die Chaussee.

vorheriges Kapitel

Kapitel 19

nachfolgendes Kapitel

Kapitel 21

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.