Kapitel 21


Im Seelischen wie im Körperlichen hat Geschwindigkeit gleichzeitig etwas Berauschendes und Betäubendes. Kaum daß der Wagen aus den Straßen hinaus ins freie Feld puffte, kam eine merkwürdige Entspannung über mich. Der Chauffeur fuhr scharf; wie schief weggehauen stürzten die Bäume, die Telegraphenstangen zurück, in den Dörfern taumelten Haus und Haus ineinander wie in einem verwackelten Bild, Meilensteine sprangen weiß auf und duckten sich schon wieder, noch ehe man ihre Ziffer ablesen konnte, und an der stürmischen Art, wie der Wind mir ins Gesicht schlug, spürte ich, in welchem verwegenen Tempo wir dahinbrausten. Aber noch stärker vielleicht war das Staunen über die Geschwindigkeit, mit der mein eigenes Leben gleichzeitig fortjagte: was alles an Entscheidungen hatte sich in diesen wenigen Stunden vollzogen! Sonst schwingen und schweben doch immer zwischen vagem Wunsch, dämmernder Absicht und endgültiger Vollführung in unzähligen Nuancen schattende Zwischengefühle, und es gehört zur geheimsten Lust des Herzens, mit Entschlüssen erst unsicher zu spielen, ehe man sie tatbewußt verwirklicht. Diesmal jedoch war alles mit traumhafter Geschwindigkeit auf mich niedergefahren, und wie hinter dem hämmernden Wagen Dörfer und Straßen und Bäume und Wiesen ins Nichts wegtaumelten, endgültig und ohne Wiederkehr, so sauste jetzt mit einem Ruck alles fort, was bisher mein tägliches Leben gewesen, die Kaserne, die Karriere, die Kameraden, die Kekesfalvas, das Schloß, mein Zimmer, die Reitschule, meine ganze, scheinbar so gesicherte und geregelte Existenz. Eine einzige Stunde hatte meine innere Welt verändert.


Um halb sechs hielten wir vor dem Hotel Bristol, scharf durchgerüttelt, ganz angestaubt und doch durch dies Sausen wunderbar erfrischt.


»So kannst nicht hinaufkommen zu meiner Frau«, lachte mich Balinkay an. »Du schaust ja aus, als hätt man einen Mehlsack über dich ausgeschüttet. Und vielleicht macht sich’s überhaupt besser, ich red mit ihr allein, da sprech ich mich viel freier aus und du brauchst dich nicht zu genieren. Am gescheitsten, du gehst in die Garderob’, waschst dich gründlich ab und setzt dich hinein in die Bar. Ich komm in paar Minuten und geb dir Bescheid. Und sorg dich nicht. Ich dreh’s schon so, wie du’s willst.«


Tatsächlich: er ließ mich nicht lange warten. Nach fünf Minuten trat er bereits lachend herein.


»Na, hab’ ich’s nicht gesagt – alles in Ordnung, das heißt, wenn’s dir paßt. Bedenkzeit unbegrenzt und Kündigung jederzeit. Meine Frau – sie ist wirklich eine g’scheite Frau – hat schon wieder einmal das Richtigste ausgeknobelt. Also: du kommst gleich auf ein Schiff, hauptsächlich damit du die Sprachen dort lernst und dir alles drüben einmal anschaun kannst. Du wirst dem Zahlmeister zugeteilt als Assistent, kriegst eine Uniform, ißt mit am Offizierstisch, fahrst ein paarmal hin und her nach Holländisch-Indien und hilfst bei der Schreiberei. Dann bringen wir dich schon wo unter, hüben oder drüben, ganz wie dir’s paßt, meine Frau hat’s mir in die Hand versprochen.«


»Ich dan …«


»Nichts zu danken. War doch ganz selbstverständlich, daß ich dir beispring. Aber noch einmal, Hofmiller, tu so was nicht aus dem Handgelenk! Von mir aus kannst schon übermorgen hinauffahren und meldst dich an, ich telegraphier jedenfalls an den Direktor, damit er deinen Namen notiert; aber besser wär’s natürlich, du überschläfst die Sache noch einmal gründlich; ich hätte dich lieber beim Regiment, aber chacun à son goût. Wie g’sagt, wenn d’ kommst, dann kommst eben, und wenn nicht, wer’n wir dich nicht einklagen … Also« – er streckte mir die Hand hin – »ja oder nein, wie immer du dich entschließt, es hat mich aufrichtig g’freut. Servus.«


Ich blickte diesen Menschen, den mir das Schicksal geschickt, wirklich ganz ergriffen an. Mit seiner wunderbaren Leichtigkeit hatte er mir das Schwerste abgenommen, das Bitten und Zögern und die quälende Spannung vor der Entschließung, so daß mir selbst nichts mehr zu tun übrig blieb als die einzige kleine Förmlichkeit: mein Abschiedsgesuch zu schreiben. Dann war ich frei und gerettet.


Das sogenannte »Kanzleipapier«, ein auf den Millimeter vorschriftsmäßig ausgemessener Foliobogen ganz bestimmten Formats, war vielleicht das unentbehrlichste Requisit der österreichischen Zivil- und Militärverwaltung. Jedes Gesuch, jedes Aktenstück, jede Meldung hatte auf diesem säuberlich geschnittenen Papier erstattet zu werden, das durch die Einmaligkeit seiner Form alles Amtliche sichtbar vom Privaten absonderte; auf den Millionen und Milliarden dieser in den Kanzleien aufgeschichteten Blätter wird einmal vielleicht einzig verläßlich die ganze Lebens- und Leidensgeschichte der Habsburgischen Monarchie nachzulesen sein. Keine Mitteilung galt als richtig erstattet, wenn sie nicht auf diesem weißen Rechteck ausgefertigt wurde, und so war es denn auch mein erstes Geschäft, in der nächsten Tabaktrafik zwei solcher Bogen zu kaufen, dazu einen sogenannten »Faulenzer« – ein liniertes Unterlageblatt – sowie das dazugehörige Kuvert. Dann noch hinüber in ein Kaffeehaus, wo man in Wien alles erledigt, das Ernsteste wie das Übermütigste. In zwanzig Minuten, um sechs Uhr, konnte das Gesuch bereits geschrieben sein; dann gehörte ich wieder mir selbst und mir allein.


Mit unheimlicher Deutlichkeit – es galt doch die wichtigste Entscheidung meines bisherigen Lebens – erinnere ich mich an jede Einzelheit dieser aufregenden Verrichtung, an den kleinen runden Marmortisch in der Fensterecke des Ringstraßencafés, an die Mappe, auf der ich das Blatt auseinanderfaltete, und wie ich es dann mit einem Messer, nur damit die Bruchlinie recht tadellos ausfalle, in der Mitte behutsam falzte. Die blauschwarze, etwas wäßrige Farbe der Tinte sehe ich noch photographiescharf vor mir und spüre den kleinen Ruck, mit dem ich ansetzte, um dem ersten Buschstaben den richtigen runden und pathetischen Schwung zu verleihen. Denn es reizte mich, gerade meine letzte militärische Handlung besonders korrekt zu vollziehen; da der Inhalt doch formelhaft feststand, konnte ich die Feierlichkeit des Akts nur durch besondere Sauberkeit und Schönheit der Handschrift bekunden.


Aber schon während der ersten Zeilen unterbrach mich eine sonderbare Träumerei. Ich hielt inne und begann mir auszudenken, was morgen vor sich gehen würde, wenn dies Gesuch in der Regimentskanzlei anlangte. Wahrscheinlich zuerst ein verdutzter Blick des Kanzleifeldwebels, dann erstauntes Flüstern unter den subalternen Schreibern – es war doch nichts Alltägliches, daß ein Leutnant einfach seine Charge hinschmiß. Dann läuft das Blatt den Dienstweg von Zimmer zu Zimmer bis zum Oberst persönlich; ich sehe ihn plötzlich leibhaftig vor mir, wie er sich den Kneifer vor seine fernsichtigen Augen klemmt, bei den ersten Worten stutzt und dann in seiner cholerischen Art mit der Faust auf den Tisch haut; der rüde Kerl ist allzusehr gewohnt, daß seine Untergebenen, denen er Dreck um die Ohren geschmissen, gleich wieder beglückt mit dem Steiß wackeln, wenn er ihnen am nächsten Tage durch ein burschikoses Wort zu verstehen gibt, das Donnerwetter habe sich endgültig verzogen. Diesmal aber wird er merken, daß er auf einen anderen Hartschädel gestoßen ist und zwar auf den kleinen Leutnant Hofmiller, der sich nicht anschnauzen läßt. Und wenn’s später herauskommt, daß der Hofmiller seinen Abschied nimmt, werden zwanzig, vierzig Köpfe unwillkürlich aufrucken vor Erstaunen. Alle die Kameraden, jeder für sich, werden sich denken: Donnerwetter noch einmal, das ist aber ein Kerl! Der läßt sich nichts gefallen. Verflucht unangenehm kann es sogar für den Herrn Oberst Bubencic werden – jedenfalls einen honorigeren Abschied hat niemand im Regiment gehabt, anständiger ist noch keiner aus der Kluft gefahren, solange ich mich erinnern kann.


Ich schämte mich nicht, zu bekennen, daß, während ich alles das austräumte, eine merkwürdige Selbstzufriedenheit über mich kam. Bei allen unseren Handlungen bildet doch Eitelkeit einen der stärksten Antriebe, und ganz besonders erliegen schwächliche Naturen der Versuchung, etwas zu tun, was nach außen hin wie Kraft, wie Mut und Entschlossenheit wirkt. Zum erstenmal hatte ich jetzt Gelegenheit, den Kameraden zu beweisen, daß ich einer war, der sich respektierte, ein ganzer Kerl! Immer rascher und, wie ich glaube, mit immer energischeren Zügen schrieb ich die zwanzig Zeilen zu Ende; was anfangs nur eine ärgerliche Verrichtung gewesen, wurde mit einmal zu persönlicher Lust.


Nun noch die Unterschrift – damit war alles erledigt. Ein Blick auf die Uhr: halb sieben. Den Kellner jetzt rufen und bezahlen. Dann noch einmal, zum letztenmal, die Uniform auf der Ringstraße spazierenführen und mit dem Nachtzug heim. Morgen früh den Wisch abgeben, damit ist alles unwiderruflich geworden, eine andere Existenz fängt an.


So nahm ich also den Foliobogen, faltete ihn erst der Länge, dann ein zweites Mal der Breite nach zusammen, um das schicksalhafte Dokument sorglich in der Brusttasche zu verstauen. In diesem Augenblick geschah das Unerwartete.


Es geschah folgendes: In jener halben Sekunde, da ich sicher, selbstbewußt, ja sogar freudig (jede Erledigung macht einen froh) das ziemlich umfängliche Kuvert in die Brusttasche schob, spürte ich dort von innen einen knisternden Widerstand. Was steckt denn da drin, dachte ich unwillkürlich und griff hinein. Aber schon zuckten meine Finger zurück, als hätten sie, ehe ich selbst mich erinnerte, begriffen, was dies Vergessene war. Es war der Brief Ediths, ihre beiden Briefe von gestern, der erste und der zweite.


Ich kann nicht genau das Gefühl beschreiben, das mich bei diesem jähen Erinnern überkam. Ich glaube, es war nicht so sehr Erschrecken als namenlose Beschämung. Denn in diesem Augenblick riß ein Nebel oder vielmehr eine Selbstbenebelung durch. Blitzhaft erkannte ich, daß alles, was ich in den letzten Stunden getan und gedacht, völlig unwahr gewesen war: der Ärger über meine Blamage und ebenso der Stolz auf mein heroisches Quittieren. Wenn ich plötzlich auspaschte, war es doch nicht, weil der Oberst mich abgekanzelt hatte (das passierte schließlich jede Woche); in Wirklichkeit flüchtete ich vor den Kekesfalvas, vor meinem Betrug, vor meiner Verantwortung, ich lief davon, weil ich es nicht ertragen konnte, geliebt zu werden wider meinen Willen. Genau wie ein Todkranker über einem zufälligen Zahnschmerz sein eigentlich marterndes, sein tödliches Leiden vergißt, so hatte ich, was mich in Wahrheit peinigte, was mich feig, was mich flüchtig machte, vergessen (oder vergessen wollen) und statt dessen jenes kleine und im Grunde belanglose Mißgeschick am Exerzierplatz als Motiv meines Fortwollens vorgeschoben. Aber nun sah ich: es war kein heroischer Abschied aus gekränkter Ehre, den ich nahm. Es war eine feige, eine klägliche Flucht.


Aber etwas Getanes hat immer Kraft. Nun, da das Abschiedsgesuch schon geschrieben war, wollte ich mich nicht mehr dementieren. Zum Teufel, sagte ich mir zornig, was geht’s mich an, ob die da draußen wartet und flennt! Sie haben mich genug geärgert, mich genug verwirrt. Was geht’s mich an, daß der eine fremde Mensch mich liebt? Sie wird mit ihren Millionen schon einen andern finden, und wenn nicht, es ist nicht meine Sache. Genug, daß ich alles hinhaue, daß ich mir die Uniform abreiße! Was geht mich diese ganze hysterische Angelegenheit an, ob sie gesund wird oder nicht? Ich bin doch kein Arzt …


Aber bei diesem innerlichen Wort »Arzt« stoppten plötzlich meine Gedanken wie eine rasend rotierende Maschine auf ein einziges Signal. Bei diesem Wort »Arzt« war mir Condor eingefallen. Und: seine Sache! seine Angelegenheit! sagte ich mir sofort. Er wird dafür bezahlt, Kranke zu kurieren. Sie ist seine Patientin und nicht die meine. Er soll alles auslöffeln, so wie er alles eingebrockt hat. Am besten ich geh sofort zu ihm und erklär ihm, daß ich ausspring aus dem Spiel.


Ich blicke auf die Uhr. Dreiviertel sieben, und mein Schnellzug fährt erst nach zehn. Also reichlich Zeit, viel brauch ich ihm nicht zu erklären: eben nur, daß ich Schluß mache für meine Person. Aber wo wohnt er denn? Hat er’s mir nicht gesagt oder hab ich’s vergessen? Übrigens – als praktischer Arzt muß er im Telephonverzeichnis stehen, also rasch hinüber in die Telephonzelle und das Verzeichnis aufgeblättert! Be.. Bi.. Bu.. Ca.. Co.. da sind sie alle, die Condors, Condor Anton, Kaufmann … Condor Dr. Emmerich, praktischer Arzt, VIII., Florianigasse 97, und kein anderer Arzt auf der ganzen Seite – das muß er sein. Noch im Hinauslaufen wiederhole ich mir zweimal, dreimal die Adresse – ich habe keinen Bleistift bei mir, alles habe ich vergessen in meiner mörderischen Hast – ruf sie gleich dem nächsten Fiaker zu, und während der Wagen rasch und weich auf seinen Gummirädern rollt, mache ich schon meinen Plan zurecht. Nur knapp, nur energisch loslegen. Keinesfalls tun, als ob ich noch schwankte. Ihn gar nicht auf die Vermutung bringen, daß ich etwa wegen der Kekesfalvas auskneife, sondern von vornherein den Abschied als fait accompli hinstellen. Es sei alles seit Monaten eingeleitet gewesen, doch heute erst hätte ich diese ausgezeichnete Stellung in Holland bekommen. Wenn er trotzdem noch lang herumfragt, ablehnen und nichts weiter sagen! Er hat mir schließlich auch nicht alles gesagt. Ich muß endlich aufhören mit diesem ewigen Rücksichtnehmen auf andere.


Der Wagen stoppt. Hat sich der Kutscher nicht geirrt oder hab ich in meiner Eile eine falsche Adresse angegeben? Sollte dieser Condor wirklich so schäbig wohnen? Schon bei den Kekesfalvas allein muß er ein Mordsgeld verdienen, und in so einer Baracke haust kein Arzt von Rang. Aber nein, er wohnt doch hier, da hängt im Hausflur das Schild: »Dr. Emmerich Condor, zweiter Hof, dritter Stock, Sprechstunde von zwei bis vier.« Zwei bis vier, und jetzt geht’s schon auf sieben. Immerhin, für mich muß er zu sprechen sein. Ich fertige rasch den Fiaker ab und überquere den schlecht gepflasterten Hof. Was das für eine schäbige Wendeltreppe ist, ausgetretene Stufen, abgeblätterte, bekritzelte Wände, Geruch nach mageren Küchen und schlecht geschlossenen Klosetts, Frauen in schmutzigen Schlafröcken, die auf den Gängen Zwiesprache halten und mißtrauisch auf den Kavallerieoffizier blicken, der da in der Dämmerung etwas verlegen an ihnen vorbeiklirrt!


Endlich der dritte Stock, abermals ein langer Gang, rechts und links Türen und eine in der Mitte. Ich will eben in die Tasche greifen, um ein Streichholz anzuflammen, und die richtige festzustellen, da tritt aus der linken Tür ein ziemlich unordentlich gekleidetes Dienstmädchen, einen leeren Krug in der Hand, wahrscheinlich um Bier für das Nachtessen zu holen. Ich frage nach Doktor Condor.


»Ja, wohnt sich hier«, böhmelt sie zurück. »Aber is noch nich z’Haus. Is aussi g’fahren nach Meidling, muß aber bald zaruk sein. Hat zur gnä Frau g’sagt, daß bestimmt zu Nachtmahl kommt. Kummen’s nur und warten’s!«


Noch ehe ich Zeit habe, zu überlegen, führt sie mich ins Vorzimmer.


»Da legen’s ab« – sie weist auf einen alten Garderobekasten aus weichem Holz, wohl das einzige Möbelstück des kleinen dunklen Vorraums. Dann klinkt sie das Wartezimmer auf, das etwas stattlicher wirkt: immerhin vier, fünf Sessel rund um den Tisch und die linke Wand voller Bücher.


»So, da können’s Ihna setzen«, deutet sie mit einer gewissen Herablassung auf einen der Stühle. Und sofort verstehe ich: Condor muß eine Armeleutepraxis haben. Reiche Patienten werden anders empfangen. Sonderbarer Mensch, sonderbarer Mensch, denke ich abermals. Er könnte doch an Kekesfalva allein reich werden, wenn er nur wollte.


Nun, ich warte. Es wird das übliche nervöse Warten im Vorraum eines Arztes, wo man, ohne sie richtig lesen zu wollen, immer wieder in den abgegriffenen und längst zeitlos gewordenen Zeitschriften blättert, um die eigene Unruhe mit einem Schein von Beschäftigung zu betrügen. Wo man immer wieder aufsteht, immer wieder sich niedersetzt und immer wieder zur Uhr aufschaut, die mit schläfrigem Pendel in der Ecke tickt: sieben Uhr zwölf, sieben Uhr vierzehn, sieben Uhr fünfzehn, sieben Uhr sechzehn, und hypnotisch auf die Klinke zum Ordinationszimmer starrt. Schließlich – sieben Uhr zwanzig – kann ich nicht länger stillhalten. Zwei Sessel habe ich schon warmgesessen, so erhebe ich mich und trete zum Fenster. Unten im Hof ölt ein alter hinkender Mann – ein Dienstmann offenbar – die Räder seines Handwagens, hinter den erhellten Küchenfenstern plättet eine Frau, eine andere wäscht, glaube ich, ihr kleines Kind in einem »Schaffel«. Irgendwo, ich kann das Stockwerk nicht bestimmen, es muß aber knapp über mir oder unter mir sein, übt jemand Skalen, immer dieselben, immer dieselben. Wieder blicke ich auf die Uhr: sieben Uhr fünfundzwanzig, sieben Uhr dreißig. Warum kommt er denn nicht? Ich kann, ich will nicht mehr lange warten! Ich spüre, wie das Warten mich unsicher, wie es mich unbeholfen macht.


Endlich – ich atme auf – nebenan eine zuklappende Tür. Sofort setze ich mich in Positur. Haltung jetzt, ganz locker vor ihm tun, wiederhole ich mir. Ganz leger erzählen, daß ich nur en passant gekommen bin, um mich zu verabschieden, ganz nebenbei ihn bitten, er möge bald hinausfahren zu den Kekesfalvas und, wenn sie mißtrauisch werden sollten, ihnen explizieren, ich hätte nach Holland müssen und aus dem Dienst. Himmelherrgott, verdammt noch einmal, warum läßt er mich denn noch immer warten! Deutlich höre ich, wie nebenan schon ein Stuhl gerückt wird. Hat der blöde Trampel von Dienstbote mich am Ende nicht angemeldet?


Schon will ich hinaus und das Mädchen an mich erinnern. Aber mit einem Mal stocke ich. Denn der da nebenan geht, kann nicht Condor sein. Ich kenne seinen Schritt. Ich weiß genau – von jener Nacht, da ich ihn begleitete – wie kurzbeinig, kurzatmig, schwer und tapsig er mit seinen knarrenden Schuhen geht; dieser Schritt nebenan aber, der immer wieder kommt und sich immer wieder entfernt, ist ein ganz anderer, ein zaghafter, ein unsicherer, ein schlurfender Schritt. Ich weiß nicht, warum ich auf diesen fremden Schritt eigentlich so aufgeregt, so ganz von innen heraus hinhorche. Aber mir ist, als lauschte und spürte nebenan jener andere Mensch genau so unsicher und unruhig herüber. Auf einmal vernehme ich ein ganz dünnes Geräusch an der Tür, als drückte oder spielte jemand dort an der Klinke; und wirklich, sie bewegt sich schon. Der dünne Streif Messing rührt sich sichtlich im Dämmern, und die Tür tut sich auf zu einem schmalen schwarzen Spalt. Vielleicht ist es nur Zugluft, vielleicht nur der Wind, sage ich mir, denn so schleicherisch klinkt kein normaler Mensch die Tür auf, höchstens ein Einbrecher in der Nacht. Aber nein, der Spalt wird breiter. Es muß von innen eine Hand den Türflügel ganz vorsichtig vorschieben, und jetzt merke ich auch im Dunkel einen menschlichen Schatten. Festgebannt starre ich hin. Da fragt hinter dem Spalt eine Frauenstimme ganz zaghaft:


»Ist … ist jemand hier?«


Mir versagt die Antwort in der Kehle. Ich weiß sofort: von allen Menschen kann nur einer so sprechen und fragen: ein Blinder. Nur Blinde gehen und schlurfen und tappen so leise, nur sie haben diesen unsicheren Ton in der Stimme. Und im gleichen Moment blitzt eine Erinnerung mich durch. Hat Kekesfalva nicht erwähnt, Condor habe eine blinde Frau geheiratet? Sie muß es sein, nur sie kann es sein, die da hinter dem Türspalt steht und fragt und mich dabei nicht wahrnimmt. Mit aller Anstrengung starre ich hin, um in dem Schatten ihren Schatten zu fassen, und unterscheide schließlich eine hagere Frau in weitem Schlafrock und mit grauem, etwas wirrem Haar. O Gott, diese reizlose, unschöne Frau ist seine Frau! Furchtbar, sich von solchen vollkommen toten Augensternen angestarrt zu fühlen und zu wissen, daß man doch nicht gesehen wird; gleichzeitig spüre ich an der Art, wie sie jetzt den Kopf horchend vorschiebt, wie sehr sie sich mit allen Sinnen bemüht, in dem für sie unfaßbaren Raum den fremden Menschen zu fassen; diese Anspannung verzerrt ihren schweren, großen Mund noch stärker ins Unschöne.


Eine Sekunde bleibe ich stumm. Dann stehe ich auf und verbeuge mich – ja, ich verbeuge mich, obwohl es doch ganz sinnlos ist, sich vor einer Blinden zu verbeugen – und stammle:


»Ich … ich warte hier auf den Herrn Doktor.«


Sie hat jetzt die Türe ganz geöffnet. Mit der linken Hand hält sie sich noch an der Klinke fest, als suchte sie eine Stütze im schwarzen Raum. Dann tappt sie vor, schärfer spannen sich die Brauen über den erloschenen Augen, und eine andere Stimme, eine ganz harte, herrscht mich an:


»Jetzt ist kein Ordination mehr. Wenn mein Mann nach Hause kommt, muß er zuerst essen und ausruhen. Können Sie nicht morgen kommen?«


Immer unruhiger wird ihr Gesicht bei jedem Wort, man sieht, sie kann sich kaum beherrschen. Eine Hysterikerin, denke ich mir sofort. Nur sie nicht reizen. Und so murmle ich – dummerweise mich abermals ins Leere verbeugend:


»Verzeihen Sie, gnädige Frau … ich denke natürlich nicht daran, den Herrn Doktor noch so spät zu konsultieren. Ich wollte ihm nur eine Mitteilung machen … es handelt sich um eine seiner Kranken.«


»Seine Kranken! Immer seine Kranken!« – die Erbitterung schlägt um in einen weinerlichen Ton. »Heut nachts um halb zwei hat man ihn geholt, heut früh um sieben Uhr ist er schon weg und seit der Ordination nicht wieder zurück. Er muß doch selbst krank werden, wenn man ihm nicht Ruhe läßt! Aber Schluß jetzt! Jetzt ist keine Ordination, hab ich Ihnen gesagt. Um vier Uhr ist Schluß. Schreiben Sie ihm auf, was Sie wollen, oder wenn’s dringlich ist, gehn Sie zu einem andern Arzt. Es gibt Ärzte genug in der Stadt, an jeder Straßenecke vier.«


Sie tappt näher heran, und wie schuldbewußt weiche ich zurück vor diesem zornig erregten Gesicht, in dem die aufgerissenen Augen plötzlich glänzen wie angeleuchtete weiße Kugeln.


»Gehn Sie, hab ich gesagt. Gehn Sie! Laßt ihn doch essen und schlafen wie andere Menschen! Krallt euch nicht alle an ihn an! In der Nacht und in der Früh, den ganzen Tag, immer die Kranken, für alle soll er sich plagen und für alle umsonst! Weil ihr spürt, daß er schwach ist, hängt ihr euch alle an ihn und nur an ihn … ah, roh seid ihr alle! Nur eure Krankheit, nur eure Sorgen, sonst kennt ihr alle nichts! Aber ich duld es nicht, ich erlaub es nicht. Gehn Sie, hab ich gesagt, gehn Sie sofort! Lassen Sie ihn endlich in Ruh, lassen Sie ihn doch diese einzige freie Stunde am Abend!«


Sie hat sich bis an den Tisch getastet. Mittels irgend eines Instinkts muß sie herausgefunden haben, wo ich ungefähr stehe, denn die Augen starren geradeaus auf mich, als könnten sie mich erblicken. Es ist so viel ehrliche und zugleich so viel kranke Verzweiflung in ihrem Zorn, daß ich mich unwillkürlich schäme.


»Selbstverständlich, gnädige Frau«, entschuldige ich mich. »Ich sehe völlig ein, der Herr Doktor muß seine Ruhe haben … ich will auch nicht länger stören. Erlauben Sie nur, daß ich ein Wort hinterlasse oder ihn vielleicht in einer halben Stunde antelephoniere.«


Aber »Nein«, schreit sie mir verzweifelt entgegen. »Nein! Nein! Nicht telephonieren! Den ganzen Tag telephoniert’s, alle wollen sie was von ihm, alle fragen und klagen! Noch hat er den Bissen nicht im Mund und muß schon aufspringen. Kommen Sie morgen in die Ordination, hab ich gesagt, es wird nicht so eilig sein. Einmal muß er seine Ruhe haben. Weg jetzt! … Weg, hab ich gesagt!«


Und mit geballten Fäusten, unsicher tastend und tappend geht die Blinde auf mich zu. Es ist entsetzlich. Ich habe das Gefühl, sie wird mich im nächsten Moment mit ihren vorgestreckten Händen packen. Jedoch in diesem Augenblick knackt draußen die Flurtür und fällt vernehmlich klirrend ins Schloß. Das muß Condor sein. Sie lauscht, sie zuckt auf. Sofort verändern sich ihre Züge. Sie beginnt am ganzen Leibe zu zittern, die Hände, die eben geballten, schließen sich plötzlich flehend zusammen.


»Nicht ihn jetzt aufhalten«, flüstert sie. »Nicht ihm was sagen! Er ist gewiß müde, den ganzen Tag war er unterwegs … Bitte haben Sie Rücksicht! Haben Sie doch Mitl …«


In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Condor trat ins Zimmer.

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