Kapitel 27
An jenem Abend war ich Gott. Ich hatte die Welt erschaffen, und siehe, sie war voll Güte und Gerechtigkeit. Ich hatte einen Menschen erschaffen, seine Stirn glänzte rein wie der Morgen und in seinen Augen spiegelte sich der Regenbogen des Glücks. Ich hatte die Tafel gedeckt mit Reichtum und Fülle, ich hatte die Früchte gezeitigt, den Wein und die Speisen. Herrlich gehäuft boten diese Zeugen meines Überflusses sich mir wie Opfergaben dar, sie kamen in blinkenden Schüsseln und in fülligen Körben, und es blitzte der Wein, es blinkten die Früchte, süß und köstlich boten sie sich meinem Mund. Ich hatte Licht getan in die Stube und Licht in das Herz der Menschen. In den Gläsern funkelte die Sonne des Lüsters, wie Schnee glänzte der weiße Damast, und ich fühlte mit Stolz, die Menschen liebten dies Licht, das von mir ausging, und ich nahm ihre Liebe und berauschte mich an ihr. Sie boten mir Wein, und ich trank ihn bis zur Neige. Sie boten mir Früchte und Speisen, und ich erfreute mich ihrer Gaben. Sie boten mir Ehrfurcht und Dankbarkeit, und wie Speiseopfer und Trankopfer nahm ich ihre Huldigung hin.
An jenem Abend war ich Gott. Aber ich blickte nicht kühl vom erhobenen Throne auf meine Werke und Taten; leutselig und mild saß ich inmitten meiner Geschöpfe, und wie durch den silbernen Rauch meiner Wolken nahm ich verschwommen ihr Antlitz wahr. Zu meiner Linken saß ein alter Mann; das große Licht der Güte, das ausging von mir, hatte die Falten geglättet auf seiner zerfurchten Stirne und die Schatten gelöscht, die seine Augen verdunkelt; ich hatte den Tod von ihm genommen, und er sprach mit auferstandener Stimme, dankbar des Wunders gewärtig, das ich an ihm vollbracht. Neben mir saß ein Mädchen, und sie war eine Kranke gewesen, gefesselt und geknechtet und schlimm in die eigene Wirrsal verstrickt. Aber nun umglänzte sie der Schein der Genesung. Mit dem Hauch meiner Lippen hatte ich sie aus der Hölle der Ängste erhoben in die Himmel der Liebe, und es funkelte ihr Ring an meinem Finger wie der Morgenstern. Ihr gegenüber saß ein anderes Mädchen, auch sie dankbar lächelnd, denn ich hatte ihr Schönheit in das Antlitz getan und den dunklen duftenden Wald des Haars um ihre schimmernde Stirn. Alle hatte ich sie beschenkt und erhoben durch das Wunder meiner Gegenwart, alle trugen sie mein Licht in den Augen; wenn sie einander ansahen, war ich das Leuchten in ihrem Blick. Wenn sie zusammen sprachen, war Ich und nur Ich der Sinn ihres Worts, und selbst wenn wir schwiegen, weilte Ich in ihren Gedanken. Denn ich und nur ich war der Anfang, die Mitte und der Ursprung ihres Glücks; wenn sie einander rühmten, so rühmten sie mich, und wenn sie einander liebten, so meinten sie mich als den Schöpfer aller Liebe. Ich aber saß in ihrer Mitte, froh meiner Werke, und sah, daß es gut war, gütig gewesen zu sein zu meinen Geschöpfen. Und großmütig trank ich zugleich mit dem Wein ihre Liebe und genoß mit den Speisen ihr Glück.
An jenem Abend war ich Gott. Ich hatte die Wasser der Unruhe besänftigt und das Dunkel aus den Herzen hinweggetan. Aber auch aus mir selbst hatte ich die Angst genommen, geruhig war meine Seele, wie sie niemals vordem gewesen in all meiner Zeit. Erst als der Abend sich neigte und ich aufstand vom Tisch, begann eine leise Trauer in mir, Gottes ewige Trauer am siebenten Tag, da er sein Werk zu Ende getan, und diese meine Trauer spiegelte sich in ihren entleerten Gesichtern. Denn nun kam der Abschied. Alle waren wir sonderbar erregt, als wüßten wir, daß etwas Unvergleichliches nun zu Ende gehe, eine jener seltenen schwerelosen Stunden, die wie Wolken nicht wiederkehren. Mir selbst wurde zum erstenmal bange, das Mädchen zu verlassen; wie ein Liebender verzögerte ich den Abschied von ihr, die mich liebte. Wie gut wäre es, dachte ich, noch an ihrem Bette zu sitzen, immer wieder die zarte schüchterne Hand zu streicheln, immer wieder dies rosige Lächeln des Glücks sie überleuchten zu sehen. Aber es war spät. So umfing ich sie nur rasch und küßte ihren Mund. Ich fühlte sie dabei den Atem anhalten, als wollte sie die Wärme des meinen für immer bewahren. Dann trat ich zur Tür, der Vater begleitete mich. Ein letzter Blick noch, ein Gruß, und dann ging ich, frei und sicher, wie man immer geht von einem gelungenen Werk, von einer verdienstvollen Tat.
Ich ging die paar Schritte hinaus in den Vorraum, wo der Diener mit Kappe und Säbel schon bereitstand. Aber wäre ich nur rascher gegangen! Wäre ich nur rücksichtsloser gewesen! Doch der alte Mann konnte sich noch nicht von mir trennen. Noch einmal faßte er mich, noch einmal streichelte er mir den Arm, um mir noch- und nochmals zu bekunden, wie dankbar er mir sei und was ich für ihn getan. Jetzt könne er beruhigt sterben, das Kind werde geheilt, alles sei jetzt gut, und alles durch mich, nur durch mich. Es wurde mir immer peinlicher, mich so streicheln, mir so schmeicheln zu lassen in Gegenwart des Dieners, der geduldig wartend und gesenkten Haupts danebenstand. Mehrmals hatte ich dem alten Mann schon die Hand zum Abschied geschüttelt, aber immer wieder begann er von neuem. Und ich Narr meines Mitleids, ich stand, ich blieb. Ich fand nicht die Kraft, mich loszureißen, obwohl innen eine dunkle Stimme drängte: genug und zu viel!
Plötzlich drang unruhiges Lärmen durch die Tür. Ich horchte auf. Im Zimmer nebenan mußte ein Zank begonnen haben, deutlich vernahm man heftige Stimmen in erregtem Gegeneinander; mit Schrecken erkannte ich die streitenden Stimmen Ilonas und Ediths. Die eine schien etwas zu wollen, die andere ihr abzureden. »Ich bitte dich«, vernahm ich deutlich Ilonas Mahnen, »bleib doch«, und schroff dawider Ediths zorniges »Nein, laß mich, laß mich«. Immer unruhiger lauschte ich über das Geschwätz des alten Mannes hinweg. Was ging dort vor hinter der geschlossenen Tür? Warum war der Friede gebrochen, mein Friede, der Gottesfriede dieses Tags? Was wollte Edith so herrisch, was wollte die andere verhindern? Da – mit einmal tappte jenes widrige Geräusch, das Tok und Tok, das Tok und Tok der Krücken. Um Gottes willen, sie wird doch nicht ohne Josefs Hilfe mir nachkommen wollen? Aber schon tokte es hastig hölzern heran, tok … tok, rechts, links … tok, tok … rechts, links, rechts, links – unwillkürlich dachte ich mir den schwankenden Körper dazu – ganz nah mußte sie jetzt schon hinter der Tür sein. Dann ein Poltern, ein Ruck, als ob sich eine dumpfe Masse gegen die Türflügel geworfen hätte. Dann ein Keuchen von heftiger Anstrengung, und aufknackte, gewalttätig niedergedrückt, die Klinke.
Furchtbarer Anblick! An dem Türpfosten lehnte, noch erschöpft von der Anstrengung, Edith. Mit der linken Hand klammerte sie sich an den Pfosten grimmig an, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, in der rechten Faust hielt sie die beiden Krücken zusammengefaßt. Hinter ihr drängte, sichtlich verzweifelt, Ilona, die sie offenbar stützen oder mit Gewalt zurückhalten wollte. Aber Ediths Augen blitzten voll Ungeduld und Zorn. »Laß mich, laß mich, hab ich dir gesagt«, schrie sie die lästige Helferin an. »Niemand braucht mir zu helfen. Ich kann’s schon allein.«
Und dann geschah, ehe Kekesfalva oder der Diener recht zur Besinnung gekommen waren, das Unglaubwürdige. Die Gelähmte biß die Lippen zusammen wie vor einer ungeheuren Anstrengung; mit aufgerissenen, brennenden Augen auf mich blickend, stieß sie sich, wie ein Schwimmer vom Strand, mit einem einzigen Ruck von dem Türpfosten ab, der ihr Halt geboten, um mir ganz frei und ohne Krücken entgegenzugehen. Im Augenblick des Abstoßens schwankte sie, als fiele sie ins Leere des Raumes hinein, aber rasch schwenkte sie die beiden Hände, die freie und die rechte, mit der sie die Krücken hielt, hoch, um das Gleichgewicht zu finden. Dann biß sie nochmals die Lippen zusammen, stieß den einen Fuß vor und schlurfend den andern nach; wie das Zucken einer Marionette durchriß dieses abgehackte Rechts und Links ihren Körper. Aber doch, sie ging! Sie ging! Sie ging, die aufgerissenen Augen einzig auf mich gerichtet, sie ging, als zöge sie sich an einem unsichtbaren Draht heran, die Zähne in die Lippen verpreßt, die Züge krampfig verzerrt! Sie ging, hin- und hergeworfen wie ein Boot im Sturm, aber sie ging, sie ging zum erstenmal allein ohne Krücken und Hilfe – ein Wunder des Willens mußte ihre toten Beine erweckt haben. Kein Arzt hat mir je erklären können, wieso die Gelähmte dies eine und einzige Mal vermochte, ihre ohnmächtigen Beine aus der Starre und Schwäche zu reißen, und ich vermag nicht zu beschreiben, wie es geschah, denn wir alle starrten versteinert hin auf ihre ekstatischen Augen; selbst Ilona vergaß, ihr zu folgen und sie zu behüten. Sie aber schwankte diese wenigen Schritte, wie gestoßen von einem inneren Sturm; es war kein Gehen, sondern gleichsam ein Flug nahe dem Boden, der tappende, tastende Flug eines Vogels mit zerschnittenen Schwingen. Jedoch der Wille, dieser Dämon des Herzens, stieß sie weiter und weiter. Schon ganz nahe war sie, schon streckte sie im Triumph des Vollbrachten die Arme, die bisher flügelnd das Gleichgewicht erhalten hatten, mir sehnsüchtig entgegen, die gespannten Züge lockerten sich bereits in ein überschwengliches Lächeln der Beglückung. Sie hatte es vollbracht, das Wunder – bloß zwei Schritte noch – nein, bloß ein einziger, ein letzter Schritt: beinahe fühlte ich schon den Atem aus ihrem im Lächeln aufbrechenden Mund – da geschah das Entsetzliche. Durch die sehnsüchtig heftige Bewegung, mit der sie im Vorgefühl der errungenen Umarmung vorzeitig die Arme ausbreitete, verlor sie das Gleichgewicht. Wie unter einem Sensenhieb knickten ihr jäh die Knie ein. Schmetternd fiel sie knapp vor meinen Füßen nieder, laut knatterten die Krücken auf die harten Fliesen. Und im ersten Riß meines Entsetzens wich ich unwillkürlich zurück, statt das Natürlichste zu tun, statt heranzustürzen und ihr aufzuhelfen.
Aber schon waren fast gleichzeitig Kekesfalva, Ilona und Josef herbeigesprungen, um die Stöhnende aufzuheben. Ich merkte (noch immer nicht fähig, hinzublicken), wie sie Edith gemeinsam wegtrugen. Nur das erstickte Schluchzen vernahm ich ihres verzweifelten Zorns, und die schlurfenden Schritte, die sich vorsichtig mit ihrer Last entfernten. In dieser einen Sekunde zerriß der Nebel der Begeisterung, der mir während dieses ganzen Abends den Blick verhängt hatte. Alles überblickte ich grauenhaft klar in diesem Aufblitz innerer Helligkeit; ich wußte, nie würde die Unselige völlig genesen! Das Wunder, das sie alle von mir erhofften, war nicht geschehen. Ich war nicht mehr Gott, sondern nur ein kleiner, ein kläglicher Mensch, der mit seiner Schwäche schurkisch schadete, mit seinem Mitleid verstörte und zerstörte. Genau, furchtbar genau war ich mir innerlich meiner Pflicht bewußt: jetzt oder nie war es Zeit, ihr die Treue zu halten. Jetzt oder nie müßte ich helfen, den andern nacheilen, mich zu ihr ans Bett setzen, sie beschwichtigen und belügen, herrlich sei sie gegangen, herrlich werde sie gesunden! Aber ich hatte keine Kraft mehr zu so verzweifeltem Betrug. Angst fiel über mich, eine grauenhafte Angst vor den furchtsam flehenden und dann wieder gierig verlangenden Augen, Angst vor der Ungeduld dieses wilden Herzens, Angst vor diesem fremden Unglück, das zu meistern ich nicht imstande war. Und ohne zu überlegen, was ich tat, griff ich nach Säbel und Kappe. Zum dritten-, zum letztenmal flüchtete ich wie ein Verbrecher aus dem Haus.
Luft jetzt, nur einen Atemzug Luft! Mir ist zum Ersticken. Liegt die Nacht hier so schwül zwischen den Bäumen oder macht das der Wein, der viele Wein, den ich getrunken? Widerlich eng klebt mir die Bluse am Leibe, ich reiße den Kragen auf, den Mantel möchte ich am liebsten wegwerfen, so schwer drückt er mir die Schultern. Luft, nur einen Atemzug Luft! Es ist, als wollte das Blut durch die Haut heraus, so heiß drängt und drückt es, und in den Ohren hämmert’s: tok-tok, tok-tok – ist das noch der gräßliche Krückenton oder nur der Puls hinter den Schläfen? Und warum renne ich eigentlich so? Was ist denn geschehen? Ich muß versuchen zu denken. Was ist eigentlich geschehen? Langsam denken, ruhig denken, nicht hören auf dieses tok-tok, tok-tok! Also – ich habe mich verlobt … nein, man hat mich verlobt … ich wollte doch nicht, ich habe nie daran gedacht … und jetzt bin ich verlobt, jetzt bin ich gebunden … Aber nein … es ist doch nicht wahr … ich habe doch dem Alten gesagt, nur wenn sie geheilt wird, und sie wird doch nie geheilt … Mein Versprechen gilt doch nur … nein, es gilt überhaupt nicht! Nichts ist geschehen, gar nichts ist geschehen. Aber warum habe ich sie dann geküßt, auf den Mund geküßt? … Ich wollte doch nicht … Ach, dieses Mitleid, dieses verfluchte Mitleid! Immer haben sie mich damit wieder eingefangen, und jetzt bin ich gefangen. Ich habe mich regelrecht verlobt, beide waren sie dabei, der Vater und die andere und der Diener … Und ich will doch nicht, ich will doch nicht … was soll man da tun? … Nur ruhig denken! … Ah, ekelhaft, dieses ewige tok-tok, dieses tok-tok … Immer wird das jetzt mir die Ohren zerhämmern, immer läuft sie mir nach mit den Krücken … Es ist geschehen, unwiderruflich geschehen. Ich habe sie betrogen, sie haben mich betrogen. Ich habe mich verlobt. Man hat mich verlobt.
Was ist das? Warum taumeln die Bäume so durcheinander? Und die Sterne, wie das schmerzt und schwirrt – es muß etwas wirr sein in meinen Augen. Und wie das drückt auf den Kopf! Ah, diese Schwüle! Die Stirn müßte man irgendwo kühlen, dann könnte man wieder richtig denken. Oder etwas trinken, um dies Schlammige, Gallige aus der Kehle zu spülen. War nicht da vorne wo – ich bin doch so oft vorübergeritten – ein Brunnen am Weg? Nein, ich bin schon längst vorbei, wie ein Narr muß ich gerannt sein, darum dies Pochen an den Schläfen, das schreckliche Pochen und Pochen! Nur etwas trinken, dann könnte man sich vielleicht wieder besinnen. Endlich, bei den ersten niedrigen Häusern, blinzelt eine halbverhangene Scheibe mit gelbem Petroleumblick. Richtig – jetzt erinnere ich mich – das ist die kleine Vorstadtkneipe, wo die Fuhrleute am Morgen immer anhalten, um sich rasch noch mit einem Schnaps zu wärmen. Ein Glas Wasser dort verlangen oder mit etwas Scharfem oder Bitterem den Schleim aus der Kehle ätzen! Nur etwas trinken, was immer! Ohne zu überlegen, mit der Gier eines Verdurstenden, stoße ich die Tür auf.
Geruch von schlechtem Knaster schlägt mir stickig aus der halbdunklen Höhle entgegen. Rückwärts der Schank mit dem Fusel, vorn ein Tisch, an dem Straßenarbeiter sitzen beim Kartenspiel. Am Schanktisch lehnt, den Rücken mir zugewandt, ein Ulan und scherzt mit der Wirtin. Jetzt spürt er den Luftzug, aber kaum daß er sich umblickt, fährt ihm der Mund auf vor Schreck: sofort reißt er sich zusammen und klappt die Hacken. Warum erschrickt er so? Ach ja, wahrscheinlich hält er mich für einen Inspektionsoffizier, und er sollte wohl längst in der Klappe liegen. Auch die Wirtin blickt beunruhigt her, die Arbeiter halten inne in ihrem Spiel. Etwas muß an mir auffällig sein. Jetzt erst, zu spät, fällt mir ein: das ist zweifellos eines jener Lokale, wo nur Mannschaftspersonen verkehren. Ich als Offizier darf es gar nicht betreten. Instinktiv mache ich kehrt.
Aber bereits drängt die Wirtin ehrerbietig heran, womit sie mir dienen könne. Ich spüre, daß ich mein blindes Hereintappen entschuldigen muß. Mir sei nicht ganz wohl, sage ich. Ob sie mir ein Sodawasser geben könne und einen Slibowitz. »Bitte bitte«, und schon huscht sie weg. Eigentlich will ich nur rasch am Schanktisch die beiden Gläser hinunterschütten, aber da beginnt auf einmal die Petroleumlampe in der Mitte zu schaukeln, die Flaschen am Gestell zucken lautlos auf und nieder, der gedielte Boden unter den Stiefeln wird plötzlich weich und schwingt und schlingert, daß ich taumle. Hinsetzen, sage ich mir; so schwanke ich mit letzter Kraft noch an den leeren Tisch, das Sodawasser wird gebracht, ich schütte es mit einem Guß hinab. Ah, kalt und gut – für einen Augenblick weicht der brecherische Geschmack. Jetzt noch rasch den scharfen Fusel nachgegossen und dann aufgestanden. Aber ich kann nicht; mir ist, als seien die Füße in den Boden hineingewachsen, und der Kopf dröhnt mir merkwürdig dumpf. Noch einen Slibowitz bestelle ich. Dann noch eine Zigarette und rasch fort!
Ich zünde die Zigarette an. Bloß einen Augenblick sitzenbleiben, den dösigen Kopf in beide Hände gestützt, und denken, nachdenken, durchdenken, eins nach dem andern. Also – ich habe mich verlobt … man hat mich verlobt … aber das gilt doch nur … nein, kein Ausweichen, das gilt, das gilt … ich habe sie auf den Mund geküßt, freiwillig habe ich’s getan. Aber doch nur, um sie zu beruhigen, und weil ich wußte, daß sie nie geheilt wird … sie ist doch eben wieder hingefallen wie ein Stock … so jemanden kann man doch gar nicht heiraten, das ist doch keine wirkliche Frau, das ist doch … aber sie werden mich nicht lassen, nein, die geben mich nicht mehr frei … der Alte, der Djinn, der Djinn, der Djinn mit dem melancholischen Biedermanngesicht und der goldenen Brille, der krampft sich an mich an, der läßt sich nicht abschütteln … immer hält er mich am Arm, immer wird er mich zurückzerren an meinem Mitleid, meinem verfluchten Mitleid. Morgen erzählen sie’s schon herum in der ganzen Stadt, in die Zeitung werden sie’s setzen, und dann gibt’s kein Zurück … Ob’s nicht besser wäre, vielleicht schon jetzt die zu Haus vorzubereiten, damit’s die Mutter, der Vater nicht von andern oder gar aus der Zeitung erfahren? Ihnen erklären, warum und wieso ich mich verlobt habe, und daß es nicht so eilig ist und nicht so gemeint war, daß ich mich nur aus Mitleid in die ganze Sache eingelassen habe … Ah, dieses verfluchte Mitleid, dieses verfluchte Mitleid! Und schon gar im Regiment werden sie’s nicht verstehen, kein einziger von den Kameraden. Was hat der Steinhübel nur gesagt vom Balinkay? »Wenn man sich verkauft, soll man sich wenigstens teuer verkaufen …« Oh, Gott, was werden die angeben – ich begreif’s doch selber nicht recht, wieso ich mich verloben konnte mit dem … mit diesem hinfälligen Geschöpf … Und erst, wenn die Tant’ Daisy das erfährt, die ist gefinkelt, die läßt sich nichts vormachen, die kennt keinen Spaß. Die läßt sich nichts vorschwindeln von Adel und Schlössern, die schaut gleich im Gotha nach, in zwei Tagen hat sie’s heraus, daß der Kekesfalva früher der Lämmel Kanitz war und Edith eine Halbjüdin ist, und der wär nichts grauslicher auf der Welt als Juden in der Verwandtschaft … Mit der Mutter, da ging’s schon, der wird das Geld imponieren – sechs Millionen, sieben Millionen, hat er gesagt … Aber ich pfeif auf sein Geld, ich denk doch nicht dran, sie wirklich zu heiraten, nicht für alles Geld auf der Welt … Ich hab’s doch nur versprochen, wenn sie geheilt wird, nur dann … aber wie soll man ihnen das klarmachen … alle im Regiment haben ohnedies schon etwas gegen den Alten, und in den Sachen sind sie verflucht heikel … die Ehre des Regiments, ich weiß schon … Selbst dem Balinkay haben sie’s nicht verziehen. Verkauft hat er sich, haben sie gehöhnt … verkauft an die alte holländische Kuh. Und erst, wenn sie die Krücken sehen … nein, ich schreib lieber nichts davon nach Haus, niemand darf vorläufig was wissen, kein Mensch, ich laß mich nicht frozzeln von der ganzen Offiziersmesse! Aber wie ihnen auskommen? Ob ich nicht doch noch nach Holland fahr, zum Balinkay? Richtig – ich hab ihm noch gar nicht abgesagt, ich kann doch jeden Tag nach Rotterdam abpaschen, der Condor soll dann alles auskochen, er allein hat ja alles eingebrockt … Er soll selber sehn, wie er die Sache wieder einrenkt, er ist an allem schuld … Am besten, ich fahr jetzt gleich zu ihm und mach ihm alles klar … daß ich einfach nicht kann … Schrecklich war das, wie sie da eben hingesaust ist wie ein Hafersack … so was kann man doch nicht heiraten … ja, gleich werd ich’s ihm sagen, daß ich ausspring … sofort fahr ich zum Condor, sofort … Fiaker her! Fiaker, Fiaker! Wohin? Florianigasse … wie war die Nummer? Florianigasse siebenundneunzig … Und rasch drauflos, du kriegst ein nobles Trinkgeld, nur rasch … pfeffer hinein in die Pferde … Ah, da sind wir, ich erkenn’s schon, das schäbige Haus, in dem er wohnt, ich kenn sie schon wieder, die ekelhafte, schmutzige Wendeltreppe. Aber ein Glück, daß sie so steil ist … Haha, da kommt sie nicht nach mit ihren Krücken, da kommt sie nicht herauf, da bin ich wenigstens sicher vor dem Tok-tok … Was? … Steht schon wieder das schludrige Dienstmädel vor der Tür? … Steht die allerweil so vor der Tür, die Schlampen? … »Ist der Herr Doktor zu Hause?« »Nein, nein. Aber gehn’s nur hinein, wird sich gleich kommen.« Böhmischer Trampel! Na, setzen wir uns hinein und warten wir. Immer warten auf den Kerl … nie ist er zu Haus. O Gott, wenn nur nicht wieder die Blinde hereinschlurft … die kann ich jetzt nicht brauchen, meine Nerven halten das nicht aus, dies ewige Rücksichtnehmen … Jesus Maria, da kommt sie schon … ich hör ihren Schritt nebenan … Nein, gottlob, nein, das kann sie nicht sein, so fest tritt die nicht auf, das muß wer anderer sein, der da geht und spricht … Aber ich kenn doch die Stimme … Wie? … ja wieso denn? … das ist doch … das ist doch der Tant’ Daisy ihre Stimm’ und … ja, wie ist das denn möglich? … wieso ist auch die Tant’ Bella auf einmal da und die Mama und mein Bruder und die Schwägerin? … Unsinn … unmöglich … ich warte doch beim Condor in der Florianigassen … den kennen sie gar nicht in der Familie, wie sollen sich die alle grad beim Condor Rendezvous geben? Aber doch, sie sind’s, ich kenne die Stimme, die kreischige von der Tant’ Daisy … Um Gottes willen, wo kriech ich rasch unter? … immer näher kommt’s von nebenan … jetzt geht die Tür auf … von selber ist sie aufgegangen, beide Flügel, und – meiner Seel! – da stehen’s alle im Halbkreis wie für den Photographen und schaun mich an, die Mama im schwarzen Taftkleid mit den weißen Rüschen, das sie bei der Hochzeit vom Ferdinand getragen hat, und die Tant’ Daisy in Puffärmeln, das goldene Lorgnon gestielt über die scharfe hochmütige Nasen, diese ekelhafte Spitznas, die ich schon gehaßt hab, wie ich vier Jahre alt war! Mein Bruder im Frack … wozu trägt er den Frack, mitten am Tag? … und die Schwägerin, die Franzi, mit ihrem dicken pampfigen Gesicht … Ah, ekelhaft, ekelhaft! Wie sie mich anstarren und die Tant’ Bella maliziös lächelt, als ob sie auf was warten tät … aber alle stehen sie im Halbkreis herum wie bei einer Audienz, alle warten sie und warten sie … worauf warten sie denn?
Aber »Gratuliere«, tritt jetzt feierlich mein Bruder vor und hat auf einmal seinen Zylinderhut in der Hand … ich glaube, der Ekel sagt’s ein bissel höhnisch, und »Ich gratuliere … Ich gratuliere«, nicken und knicken die andern … Aber wie … woher wissen sie’s denn schon, und wieso sind sie alle beisammen … die Tant’ Daisy ist doch verkracht mit dem Ferdinand … und ich hab doch niemandem was gesagt.
»Da kann man einmal gratulieren, bravo, bravo … sieben Millionen, das ist ein Riß, das hast du gut gemacht … Sieben Millionen, da fällt was ab für die ganze Famili’«, reden sie alle durcheinander und grinsen. »Brav, brav«, schmatzt die Tant’ Bella, »da kann der Franzi auch noch studieren. Eine gute Partie!« »Adlig soll’s ja außerdem sein«, meckert mein Bruder hinter dem Zylinder, aber schon fährt die Tant’ Daisy mit ihrer Kakadustimme dazwischen. »Na, das mit dem Adel wird man noch gründlich nachsehen«, und jetzt tritt meine Mutter näher und lispelt ganz schüchtern: »Aber möchtest sie uns nicht endlich vorstellen, dein Fräulein Braut?« … Vorstellen? … das fehlte noch, daß sie alle die Krücken sehen, und was ich mir eingewirtschaftet hab durch mein blödes Mitleid … ich werd mich hüten … und dann – wie kann ich sie denn vorstellen, wir sind doch beim Condor in der Florianigasse droben, im dritten Stock … im Leben kann die Hinkete nicht die achtzig Stufen hinauf … Aber warum wenden sie sich jetzt alle um, als ob im Nebenzimmer was los wäre? … Selber spür ich’s jetzt an der Zugluft im Rücken … hinter uns muß jemand die Tür aufgemacht haben. Kommt am Ende noch jemand? … Ja, ich hör was kommen … von der Treppe her stöhnt und quietscht und quetscht was … da zieht und zerrt und schnauft sich was hoch … tok-tok, tok-tok … um Gottes willen, die kommt doch nicht wirklich herauf! … die wird mich doch nicht so blamieren, mit ihren Krücken … ich müßte mich ja in die Erd verkriechen vor dem hämischen Pack … aber schrecklich, sie ist es wirklich, nur sie kann das sein … tok-tok, tok-tok, ich kenn doch den Ton … tok-tok, tok-tok, immer näher … gleich ist sie heroben … am besten, ich sperr noch die Tür ab … Aber da nimmt mein Bruder schon den Zylinder und verbeugt sich nach rückwärts hin zum Tok-tok … vor wem verbeugt er sich denn, und warum so tief … und plötzlich fangen sie alle an zu lachen, daß die Scheiben klirren. »Ach so, ach so, ach soo, ach soo! Haha … haha … sooo sehen die sieben Millionen aus, die sieben Millionen … Ahaa, ahaa … und die Krücken als Mitgift dazu, ahaa, ahaa …«
Ah! – ich schrecke auf. Wo bin ich? Ich starre wild um mich. Mein Gott, ich muß geschlafen haben, ich muß eingeschlafen sein in dieser elenden Schaluppe. Scheu blicke ich mich um. Haben sie was bemerkt? Die Wirtin putzt gleichmütig an den Gläsern, der Ulan zeigt mir beharrlich den breiten stämmigen Rücken. Vielleicht haben sie’s gar nicht beachtet. Ich kann ja nur eine Minute, höchstens zwei Minuten lang eingenickt sein, der abgedrehte Zigarettenstummel glimmt noch in der Aschenschale. Eine Minute, zwei Minuten höchstens kann die wüste Träumerei gedauert haben. Aber dieser Traum hat mir alles Warme und Dumpfe aus dem Leibe gelaugt; plötzlich weiß ich eisig klar, was geschehen ist. Weg, nur weg jetzt vor allem aus dieser Spelunke! Ich klirre das Geld auf den Tisch, gehe zur Tür, und sofort steht der Ulan Habtacht. Ich spüre gerade noch, mit welchem merkwürdigen Blick die Arbeiter von ihren Karten aufschauen, und weiß: sofort, wenn ich die Tür zuziehe, werden sie zu schwatzen anfangen über den Sonderling im Offiziersrock; alle Menschen werden von heut an so hinter meinem Rücken lachen. Alle, alle, alle, und keiner wird Mitleid haben mit dem Narren seines Mitleids.
vorheriges Kapitel
Kapitel 26
nachfolgendes Kapitel
Kapitel 28
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.